Johannes ging der Besuch im Eiscafé nach Jeffs kryptischer Bemerkung erst recht nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte schon eine Menge Frauen gehabt, aber eine, die vor ihm weggerannt war, hatte er noch nie getroffen. Ihre ablehnende Art machte ihn neugierig. Obwohl es Jeff abgelehnt hatte, beschloss er, ihn nochmal auf das Mädchen anzusprechen. Er schulterte seine Trainingstasche und ging raschen Schrittes auf den Parkplatz vor der Trainingshalle, denn Jeff hatte die Kabine vor ihm verlassen. Glücklicherweise konnte er ihn aber noch auf dem Parkplatz entdecken, Jeff wollte gerade eben in sein Auto steigen.
"Hey Jeff, warte mal kurz!", rief Johannes und winkte mit der freien Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Jeff hielt in der Bewegung inne, drehte sich zu ihm um und legte den Kopf schief.
"Was denn?", rief er zurück, aber Johannes kam zu ihm, statt ihm sofort eine Antwort zu geben.
"Ich wollte mit dir nochmal über das Mädel reden..wie hieß sie noch gleich?".
"Wen meinst du? Shenia?".
"Nein, die andere. Wie heißt sie?", schüttelte Johannes den Kopf.
"Raffa? Was willst du denn von ihr? Ich hab dir gesagt, lass das sein."
"Ich weiß. Aber mir geht sie irgendwie nicht mehr aus dem Kopf. Keine Ahnung, aber ich muss ständig darüber nachdenken, warum sie das gemacht hat, vor mir weglaufen und so. Kannst du mir nicht wenigstens ein paar Informationen geben?".
Johannes verwendete seinen besten Hundeblick und kochte Jeff damit schließlich weich.
"Na gut", seufzte er, "frag mich, was du wissen willst."
"Wieso rennt sie denn vor mir weg obwohl ich ihr nichts getan habe?".
Jeff lachte kurz auf. "Die schwierigste Frage. Ich weiß selbst nicht alles genau, aber ich erzähle dir, was ich weiß. Raffaela hat nur noch ihren Vater, ihre Mutter ist gestorben, ich glaube sogar schon ziemlich früh in ihrer Kindheit. Sie ist bei ihrem Vater und ihrem Onkel groß geworden und ihr Vater ist ein ziemlicher Mistkerl, mit Alkoholproblem und so weiter. Sie hängt ziemlich an ihm und hat auch ein Studium angefangen was er möchte und ich glaube sie macht generell alles, was er sagt. Er verbietet ihr auch den Kontakt mit Männern, aber ob das der Grund ist, wieso sie so Angst hat, weiß ich ehrlich gesagt nicht."
Überrascht legte Johannes den Kopf schief. "Wie, sie hat nicht nur Angst vor mir?".
"Nein", schüttelte Jeff den Kopf, "vor allen Männern eigentlich. Bei mir geht es glaube ich, aber ich muss auch aufpassen, was ich sage und tue. Aber auf jeden Fall bist du nicht der einzige Mann, vor dem sie Angst hat."
Irritiert runzelte Johannes die Stirn. Er hatte schon eine Menge Menschen kennengelernt und sicher hatten viele von ihnen auch größere Macken gehabt, aber das war selbst ihm neu.
"Okay, und wieso macht da keiner was dagegen? Ich denke, normal ist das ja nicht, oder?", fragte er deshalb. Jeff musste es sich verkneifen, wieder aufzulachen. Sein Kollege war herrlich naiv.
"Ich glaube, dass viele Leute Angst haben vor ihrem Vater. Ich habe ihn ein mal gesehen, mit dem möchte man sich nicht anlegen. Er stinkt nach Alkohol und er ist ziemlich laut und aggressiv. Und Raffaela lässt sich auch nicht helfen. Ich habe es ja auch versucht, aber sie möchte es wirklich nicht und wird dann richtig sauer wenn du es weiter versuchst."
"Wie nett", brachte Johannes nur hervor, musste sich aber dabei das Grinsen verkneifen. Er konnte noch nicht genau abschätzen, was die Informationen in ihm auslösten, aber egal waren sie ihm nicht.
Jeff stimmte in sein Lachen mit ein. "Ja, wirklich. Ich würde es ihr echt wünschen, dass sie irgendwie wieder normal aufwächst oder so aber ich glaube das ist so ziemlich unmöglich."
"Meinst du? Vielleicht könnte ich es mal versuchen. Wenn sie jetzt wirklich nicht nur vor mir Angst hat, vielleicht schaffe ich es dann auch an sie ran zu kommen wie du, dass ich wenigstens mit ihr reden kann. Und dann könnte ich ihr helfen."
Johannes hatte laut gedacht und damit bei Jeff nur Kopfschütteln hervorgerufen.
"Also eigentlich will ich dir wirklich nicht reinreden, aber ich glaube, das diese Idee, so... naja, so nobel sie ist, einfach nicht funktionieren wird. Und wenn du dann noch ihren Vater am Hals hast kann ich dich vermutlich auch gleich beerdigen. Hast du irgendwelche Wünsche, wenn wir schon mal dabei sind?".
"Ha ha ha", machte Johannes und schnitt eine Grimasse. "Vielen Dank auch für dein Vertrauen. Wie hast du es denn geschafft mit ihr zu reden ohne dass ihr Vater dich beerdigt?".
"Raffaela und ich gehen ab und an zum gleichen Physio, wenn unsere mal wieder verhindert sind", erzählte Jeff, "da haben wir uns im Wartezimmer manchmal gesehen und Shenia kennt uns ja auch beide. Wenn Shenia dabei ist, geht es auch meistens mit dem Überwachen und man kann sich in Ruhe unterhalten."
"Der Vater ist mir ja richtig sympathisch. Wieso bleibt sie denn bei so einem Ekelpaket?".
Jeff hob die Schultern. "Keine Ahnung, einzige Familie vielleicht. Shenia erzählt, dass er sie manchmal schlägt, ich verstehe auch nicht so richtig, wieso sie dann noch bei ihm bleibt."
"Er tut was?!". Johannes hob den Kopf und musterte Jeff genau.
"Manchmal schlägt er sie", wiederholte Jeff und zog den Kopf ein. Er spürte, dass Johannes wütend war und er wollte nicht zum Abreagieren dienen.
Johannes ballte die Fäuste. "So ein ekelhaftes Arschloch. Jetzt verstehe ich überhaupt nicht mehr, wieso sie überhaupt bei ihm bleibt! Und wieso hat ihr denn noch niemand geholfen?!".
Jeff hob beruhigend die Hände. "Sie will einfach nicht, sie ist richtig stur, wenn man ihr helfen will, Shenia und ich haben es oft versucht. Wir haben jetzt gesagt, dass wir lieber im Hintergrund bleiben und aufpassen, als sie durch einen Streit ganz aus den Augen zu verlieren, deshalb tun wir nichts mehr. Vielleicht ist das ja die richtige Art, damit umzugehen."
"Nein, im Leben nicht", grollte Johannes und mahlte dabei mit dem Unterkiefer, "ich hole sie da raus, ob sie will oder nicht. Wie kann man nur seine Tochter schlagen, das ist unmöglich. Gleich morgen gehe ich hin. Jeff, hast du ihre Adresse?".
"Ja habe ich, aber...".
"Gib her". Fordernd streckte Johannes eine Hand aus.
"Ich weiß echt nicht, ob das eine super Idee ist Johannes, wirklich. Nicht weil ich dich nicht schätze, sondern gerade deshalb. Der Vater kann dich zu Brei hauen, ich habe ihn ein mal betrunken erlebt. Abgesehen davon ist Raffaela ein sturer Esel. Willst du dir das wirklich antun?".
"Muss ich zum Einwohnermeldeamt oder bekomme ich die Adresse auch so?".
Ungeduldig winke Johannes mit der ausgestreckten Hand. Jeff seuzte und kramte sein Handy hervor.
"Warte ganz kurz ich hab sie in den Kontakten mit allem drum und dran. Ich schicke dir den Kontakt, okay?".
Johannes brummte bestätigend und holte ebenfalls sein Handy hervor, um den Empfang der Nachricht zu kontrollieren. Eine gute Minute später vibrierte sein Handy tatsächlich und er hatte Raffaelas Handynummer und Adresse.
"Danke Jeff, das erspart mir einiges. Dann gehe ich da morgen hin und hole Raffaela da raus. Sie kann sich gar nicht wehren."
"Hast du schon Ideen wie du das anstellen willst?", fragte Jeff neugierig.
Johannes schüttelte den Kopf. "Nein, noch nicht wirklich. Aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich jetzt heimfahre. Irgendwie muss das doch hinzukriegen sein."
"Wenn du meinst. Ich wünsche dir wirklich viel Erfolg, aber ich befürchte immer noch, dass du scheitern wirst. Rufst du mich an, wenn du irgendwas erreicht hast?".
"Kann ich machen. Hast du sonst noch irgendwelche Tipps?".
"Besorg dir einen Grabstein vorsorglich", riet Jeff grinsend und Johannes verdrehte die Augen.
"Okay, hast du noch einen sinnvollen Tipp für morgen?".
"Ich halte deine Grabrede, und ich werde nur Gutes über dich sagen, versprochen."
Dieses Mal musste sogar Johannes grinsen.
"Idiot. Na dann, bis morgen. Ich melde mich bei dir, versprochen. Drück mir die Daumen, dass es gut geht."
Jeff verabschiedete sich mit einem Nicken und die beiden Handballer stiegen in ihre Autos, um in entgegengesetzte Richtungen davon zu fahren.
Jeff hatte Johannes eine Menge zu denken gegeben. Er war tatsächlich fest entschlossen Raffaela zu helfen und morgen zu ihr zu fahren. Andererseits machte ihm der Gedanke an ihren Vater schon im Vorhinein ein wenig zu viel Angst. Johannes hatte viele Talente, aber besonders begabt in Kampfsport war er wirklich nicht und er bezweifelte, dass irgendeins seiner Talente morgen besonders nützlich sein würde.
Falls er es schaffen sollte, Raffaela da raus zu bekommen, was sollte er dann mit ihr machen? Sie einfach bei sich behalten? Er hatt zwar genug Platz in seiner Wohnung, aber sie würde sicher nicht da bleiben wollen. Abgesehen davon brauchte sie mit Sicherheit professionelle Betreuung und die konnte er bestimmt nicht leisten, also musste er sich auch noch in diese Richtung informieren.
Frustriert seufzte Johannes auf. Es sah so aus, als würden ihn heute Nacht noch eine Menge ungeklärter Fragen beschäftigen. Tief in Gedanken versunken hätte er fast eine rote Ampel übersehen und musste eine Vollbremsung hinlegen, die ihn ordentlich nach vorne warf. Das machte seinen Verstand wieder klarer. Wenn er in der Wohnung angekommen war, würde er sich als erstes eine Liste schreiben mit den Dingen, die er noch klären wollte. Dann könnte er die Liste in Ruhe abarbeiten.
Er war mehr als entschlossen, den Plan in die Tat umzusetzen.