In dem Moment, in dem Raffaela die Tür hinter sich schloss und ihr Heimwochenende begann, fühlte sie sich tatsächlich frei. Nach über einem Monat ohne Kontakt zu vielen Menschen aus ihrem alten Leben, so fühlte es sich an, war sie wie neu geboren.
Das erste, was sie machte, war das Handy anzuschalten. Ein wenig Herzklopfen hatte sie, aber ihre Hoffnung, dass Johannes sich gemeldet hatte, wurde nicht enttäuscht. Er hatte sogar für ein Treffen zugesagt, was ihre Laune gleich noch weiter hob. Um Wartezeiten durch Nachrichten zu vermeiden, rief sie ihn direkt an. Vielleicht war er vor seinem Handy gesessen, jedenfalls hob er schon beim ersten Klingeln ab.
"Hey Raffa. Wie gehts dir?", fragte er.
"Ganz gut. Wo bist du denn? Ich würde dich gerne sehen".
"Hast du Lust, im Park spazieren zu gehen? Ich kann dich abholen, dann haben wir mehr Zeit, denn ich muss in einer Stunde leider schon ins Training."
Raffaela schätzte den Weg ab. Bis Johannes sich mit dem Auto durch die Innenstadt gequält hatte, würde es lange dauern, und außerdem gab es am Park direkt keine Parkplätze.
"Nein, lass, ich fahre Bus, einer hält da ganz in der Nähe. Ich denke ich brauche ungefähr 20 Minuten, schaffst du das?".
"Das wird eng. Ich gebe mein Bestes. Bis gleich."
Und schon hatte Johannes aufgelegt.
Raffaela schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Da ihr Studententicket noch gültig war, hatte sie das Glück, einfach überall zusteigen zu können und so war es kein Problem, nach ein paar Minuten den richtigen Bus zu erwischen. Schnell hatte sie sich einen Platz gesucht und jetzt die Zeit, sich um die zahlreichen Nachrichten zu kümmern, die durch Vibration die ganze Zeit angekündigt worden waren.
Ihr Vater war leider nicht darunter, aber Shenia, Jeff und noch einige andere Studien- und Mannschaftskolleginnen hatten sich bei ihr gemeldet. Bis Raffaela allen eine kurze Nachricht geschrieben hatte, was mit ihr war und dass sie sich auch länger nicht würde melden können, war die Busfahrt schon fast zu Ende. Raffaela versuchte, die Trauer darüber, dass ihr Vater sich nicht gemeldet hatte, nicht übermächtig werden zu lassen. Sie war sich jedoch sicher, dass er schon aus dem Krankenhaus entlassen worden war und sich einfach nicht meldete und das tat ihr weh.
Stattdessen versuchte sie, sich einfach nur auf das Treffen zu freuen.
Sie konnte Johannes noch nicht sehen, nachdem sie ausgestiegen war und eine leichte Sorge, dass er sie versetzen würde, stach unangenehm in ihren Magen.Raffaela erkannte auch erst spät, dass es Johannes war, der auf sie zu sprintete, eigentlich erst, als ihr die langen Haare der Person auffielen.
"Sorry", schnaufte er, die Hände auf den Knien, "ich musste mich echt beeilen, Parkplätze gibt es ja hier kaum. Hast du lange warten müssen?".
Raffaela schüttelte den Kopf. "Nein, nur ein paar Minuten. Sollen wir gehen?", wies sie auf den schmalen Spazierweg.
"Klar."
Ein paar Meter liefen sie stumm nebeneinander her, die Hände in den Taschen, dann wagte Johannes den Anfang.
"Wie geht es dir denn? Willst du erzählen was du alles erlebt hast oder ein bisschen davon?".
"Es geht, ich mache immer weiter Fortschritte. Ich habe mich sogar vom Studium abgemeldet, das wollte ich sowieso nie machen. Handball auch erst mal, aber das will ich wieder anfangen wenn ich wieder gesund bin. Ich hoffe nur, dass mein Vater das versteht... ich will lieber was anderes studieren, mal schauen...".
"Apropos Vater, hast du mal was von ihm gehört? Wie geht es ihm denn?".
Raffaela verstummte und Johannes ahnte, dass das die falsche Frage gewesen sein musste.
"Noch nichts gehört, hm? Da kommt aber bestimmt noch etwas. Dann erzähle lieber weiter von dir. Du hast geschrieben du hast da Freunde gefunden?".
"Ja, jedenfalls verstehen wir uns ganz gut. Das sind noch zwei Mädchen die sind ein bisschen jünger und wir haben unsere Zimmer nebeneinander. Wir verbringen die Abende oft zusammen und spielen irgendetwas oder so."
"Wann kannst du denn wieder nach Hause? Weißt du das schon?", fragte Johannes hoffnungsvoll.
"Nein, darüber haben wir noch nicht gesprochen, ich denke aber, das dauert noch ein bisschen. Und mit Besuch ist das weiter schwierig, ich habe ihnen auch gesagt dass du mein Freund bist und dass du mir geholfen hast, aber sie wollten es trotzdem nicht.
"Wie? Was?". Johannes hatte nach der Hälfte des Satzes aufgehört zu denken. "Wie, Freund?".
Raffaela wurde rot. "Naja, ich dachte, wenn du mir so hilfst und ich mag dich und vielleicht magst du mich ja auch und... naja...auch damit wir uns sehen hab ich das gesagt aber eigentlich...".
Ohne weiter nachzudenken griff Johannes nach ihrer Hand. Raffaela zuckte erst zurück, aber dann beruhigte sie sich mit tiefen Atemzügen wieder und ließ es geschehen.
"Das finde ich echt nicht schlecht. Ich wäre gerne dein Freund. Es überrascht mich nur so. Aber ich freue mich. Wirklich. Wenn du das ernst meinst, dann meine ich das auch ernst."
Sanft führte Johannes Raffaelas Hand an sein Herz.
"Guck was du machst", flüsterte er, fasziniert von dem Grün ihrer Augen und dem scheuen Blick.
Raffaela konzentrierte sich auf den Herzschlag. "Viel zu schnell für den Ruhepuls", murmelte sie, "wegen mir?".
"Natürlich wegen dir", grinste Johannes leicht, "wegen wem auch sonst? Du machst mich verrückt, ich denke fast nur noch an dich und wie es dir geht und wie ich dir helfen kann."
Die Worte schmeichelten Raffaela und trieben ihr gleichzeitig die Röte ins Gesicht. Aber sie bestätigten sie auch in ihrer Meinung über Johannes. Er war der Richtige für sie.
"Du, Raffa, ich weiß du magst Berührungen und Nähe nicht so, aber weißt du, was ich mich frage schon die ganze Zeit? Ich würde dich gerne küssen, einfach so, und eigentlich traue ich mich nicht richtig, ich will dich nicht verschrecken. Meinst du, dass das geht?", flüsterte Johannes mit heiserer Stimme. Er spürte, dass sich der Griff um seine Hand verkrampfte.
In Raffaelas Kopf stritten zwei Stimmen miteinander: Die, die den Kuss unbedingt wollte und die, die vor jedem Körperkontakt mit Männern warnte. Sie betete mantraartig herunter, was sie ihn ihrer Therapie gelernt hatte: Dass es nicht nur schlechte Männer gab und dass es Johannes gut mit ihr meinte, dass sie ihm vertrauen konnte.
"Ich... versuche es. Ich kann dir nichts versprechen, aber wir können es versuchen", meinte sie schließlich, die Stimme war unsicher und brüchig.
Johannes lächelte, zu mehr war er in der Anspannung nicht fähig. Trotzdem konnte er sein Glück kaum fassen. Langsam, damit Raffaela jederzeit die Möglichkeit hatte abzubrechen, nährte er sich ihr, bis auf wenige Zentimeter. Als Raffaela auch dann nicht flüchtete, legte er behutsam seine Lippen auf ihre.
Bei Raffaela schrillten sofort tausende Alarmglocken und sie verkrampfte in ihrer Haltung, begann zu zittern. Ihr Kopf versuchte durchzusetzen, dass der Kuss nicht fordernd und nicht schlimm war, aber ihre Gefühle waren stärker. Heftig zitternd trat sie einen Schritt zurück.
Johannes verletzter der Anblick mehr, als er zugeben wollte. Immerhin war er an diesem Zustand schuld.
"Oh man, es tut mir leid, das wollte ich so nicht. Das war mies von mir. Kann ich was tun, um das wieder gut zu machen?".
Er unterdrückte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, das war bestimmt nicht das Richtige in diesem Moment.
"Nein.. ich meine, du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe gehofft, dass es geht. Aber es geht noch nicht. Ich wollte das auch, du musst dich wirklich für gar nichts entschuldigen, du hast an nichts Schuld."
Die Stimmung war gekippt und der Wecker, der Johannes ans Training erinnerte, trug nicht zur Besserung bei. Fluchend schaltete er seinen Wecker aus.
"Ich will dich so nicht alleine lassen, das kann ich nicht machen.. Soll ich dich wenigstens bis zum Haus begleiten? Ich zahl die Strafe gerne, dann komme ich halt zu spät zum Training", bot er an.
"Nein, das geht schon, denke ich, irgendwie. Ich will auch noch gar nicht nach Hause, ich wollte vielleicht mal Shenia oder so anrufen, ob sie spontan Zeit hat, ich weiß gar nicht ob sie trainieren."
Langsam löste sich Raffaela aus ihrer Starre, behielt den Abstand aber bei. Die ganze Situation war ihr noch immer unangenehm.
"Aber ich kann dich dann auch wirklich alleine lassen? Versprich mir, das ich mir keine Sorgen um dich machen muss, sonst fahre ich gar nicht ins Training, ich war ja so schon verrückt vor Sorge."
Raffaela schüttelte den Kopf. "Musst du nicht, fahr trainieren. Ich versuche noch Shenia zu erreichen und wenn nicht überlege ich mir noch was."
Johannes atmete ein Mal tief durch, um sich zu beruhigen.
"Na gut, okay. Und wann sehen wir uns wieder?".
"Das weiß ich noch nicht, das muss ich noch fragen. Ich schreibe dir auf jeden Fall wieder ein Brief, okay?". Raffaela huschte sogar ein leichtes Lächeln über die Lippen bei dem Versprechen.
Johannes erwiderte das Lächeln. "Okay, das muss wohl so sein. Na gut, dann weiß ich wenigstens, dass es dir gut geht. Dann... bis bald, okay?".
"Bis bald. Ich freue mich schon auf das nächste Mal."
Raffaela hob die Hand zum Abschied und die Worte trösteten Johannes wenigstens ein bisschen. Er würde sich bemühen, nicht zu sehr besorgt zu sein.
"Ich mich auch. Bis bald, Raffa."
Dann drehte er sich um und ging, ohne noch einen Blick zurück zu werfen, sonst wäre er vor Sorge gestorben.