Mittlerweile war es wieder kälter geworden, die Bäume hatten ihre Blätter schon längst verloren. Das nächste Treffen der beiden hatte sich wegen Spielen länger hingezogen als gewünscht und richtig glücklich war Johannes damit nicht, aber sie hatten keine andere Lösung gefunden.
Wenigstens war heute endlich der Tag gekommen und Johannes konnte es kaum erwarten, bis das Training endlich zu Ende war. Er hielt die Dusche so kurz wie nötig, um schneller bei Raffa zu sein, was auch seinen Kollegen nicht verborgen blieb.
"Hey, wohin so eilig?", nervte ihn sein Namensvetter, ein Nachwuchsspieler.
"Geht dich nichts an", grummelte Johannes abweisend und Jeff sprang ihm rettend zur Seite.
"Lass ihn zufrieden, er hat es eilig. Vielleicht erzählt er es ja irgendwann, wenn klarere Verhältnisse sind."
Dankbar lächelte Johannes Jeff zu und nutzte die Verwirrung, die Jeff mit seinem Kommentar ausgelöst hatte, um sich aus dem Staub zu machen.
Er und Raffaela hatten sich wieder zum Spaziergang im Park verabredet, irgendwie hatte diese Stelle etwas magisches für sie seit dem Kuss. Johannes war sogar ein paar Mal alleine dort gewesen, um etwas von der Erinnerung aufzusaugen und das Vermissen weniger schlimm zu empfinden. Umso mehr freute es ihn, heute im Park nicht mehr alleine zu sein.
Raffaela wartete bereits an der Bushaltestelle, als er ankam, die Hände in den Hosentaschen versteckt. Seit sie die Nachricht gestern bekommen hatte, war ihr nach nichts mehr zumute, aber sie fühlte sich, als wäre sie Johannes das Treffen schuldig. Außerdem konnte sie sich sicher bei ihm ausweinen. Sie war sogar fast soweit, sich in seine Arme zu schmiegen, aber die Trauer hatte eine dicke Mauer um sie errichtet, die sich nicht überwinden ließ.
"Hey, wie geht's dir heute? Ist alles in Ordnung? Du siehst irgendwie nicht so gut aus", begrüßte sie Johannes und Raffaela hätte am liebsten losgeheult. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.
"Mein Vater... ich habe eine Nachricht bekommen", würgte sie hervor, die Tränen standen ihr schon in den Augen.
"Oh... willst du es erzählen oder lieber nicht?", fragte Johannes vorsichtig nach.
"Er ist tot", flüsterte Raffaela, dann überwältigte die Trauer sie und sie weinte. Dennoch wehrte sie Johannes' Versuche, sie zu umarmen, ab.
Johannes fühlte sich neben der weinenden Raffaela verloren, er wusste nicht, wie er sie noch hätte trösten können außer sie in den Arm zu nehmen, was er so gerne getan hätte. Sie tat ihm leid, andererseits war er aber auch ganz froh darum, dass ihr Vater sie jetzt nicht mehr tyrannisieren konnte.
"Wie ist es denn passiert? Willst du drüber reden? Oder lieber gar nicht?", hakte er vorsichtig nach und beobachtete dabei Raffaela genau, um auf das kleinste Anzeichen reagieren zu können. Es dauerte noch einige Augenblicke, aber Raffaela gelang es tatsächlich, sich einigermaßen zu beherrschen. Sie putzte sich mit einem von Johannes gereichten Taschentuch die Nase und seufzte ein Mal tief.
"Ich kann schon drüber reden. Ich weiß es erst seit gestern offiziell. Ich musste den Leichnam identifizieren. Papa ist wohl nachts aufgestanden und blöd aus dem Bett gefallen, er hat sich das Genick gebrochen und keiner hat es mitgekriegt und als sie ihn morgens fanden, war es schon zu spät."
Wieder hatte Raffaela mit den Tränen zu kämpfen, konnte sie aber besser unter Kontrolle halten als zuvor.
"Scheiße", entwischte es Johannes leise, "man, das tut mir echt leid, so habe ich ihm das auch nie gewünscht und dir sowieso nicht. Hat man dich ganz alleine gehen lassen?".
"Zum Identifizieren? Nein, ein Betreuer war dabei, anders hätte ich das wohl nicht gepackt, ich bin richtig fertig...".
"Das glaube ich dir sofort, das muss heftig sein. Kann ich denn etwas für dich tun?".
Johannes widerstand dem Drang, ihr über den Rücken zu streicheln, gleichzeitig schluckte er den Frust darüber, sie nicht berühren zu können, herunter. Dafür war jetzt und hier kein Platz. Raffaela wiegte unschlüssig den Kopf von der einen zur anderen Seite. Einerseits wusste sie nicht, was genau Johannes hätte für sie tun können, andererseits wollte sie nicht, dass er ging.
"Ich weiß nicht", meinte sie schließlich, "ich meine, mir fällt nichts ein, auch wenn ich es gut finde, dass du mir helfen willst."
Die beiden standen sich gegenüber, unschlüssig, was sie als nächstes tun sollten. Johannes wollte sie am Reden halten, denn dann weinte sie nicht.
"Was machst du als nächstes? Du bist Vollwaise jetzt, stimmts?".
Mit dieser Feststellung brachen bei Raffaela alle Dämme, sie begann hemmungslos zu weinen. Johannes schimpfte innerlich mit sich selbst. Er hätte ahnen können, was er mit dem Satz bei ihr auslöste. Nun fühlte er sich schuldig und wollte sie berühren, sie trösten, aber Raffaela schlug seine Hand weg.
"Lass mich!", rief sie dabei und machte zwei Schritte zurück. Nicht einmal das Taschentuch, dass Johannes ihr reichte, nahm sie an.
Resigniert seufzend ließ er die Hand mit dem Taschentuch wieder sinken und fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. Johannes sah ein, dass er die Situation verbockt hatte, aber er wusste nicht, wie er da wieder rauskommen sollte. Raffaela stand einfach nur vor ihm, von Weinkrämpfen geschüttelt. Er sah sich um, sie waren ziemlich alleine und die paar Passanten, die er sehen konnte, waren zu weit weg, um alles zu beobachten.
Je länger Johannes über die Situation nachdachte, desto eher kam er zu dem Schluss, dass das Treffen hier zu nichts mehr führen würde, wenn sich Raffaela nicht von ihm beruhigen ließ - ganz zu schweigen davon, was Passanten ihnen unterstellen würden, wenn sie die Situation sahen.
Raffaelas Weinkrämpfe wurden mit der Zeit weniger heftig, vermutlich auch, weil es anstregend war. Johannes nutzte eine ihrer Pausen.
"Raffa, es tut mir leid, ich wollte nicht, dass dich meine Worte so verletzen, hörst du? Bitte verstehe das jetzt nicht wieder gleich falsch, ich will nur dein Bestes. Aber vielleicht wäre es besser für dich, wenn du wieder zurück gehst zu deinen Betreuern, wenn es dir so schlecht geht."
Er wartete auf den großen Knall, aber wider Erwarten starrte ihn Raffaela nur aus großen, verweinten und geröteten Augen an. Behutsam machte er zwei Schritte auf sie zu, sodass sie sich wieder näher standen und Johannes leiser sprechen konnte.
"Wenn ich dich nicht einmal berühren kann, kann ich dir doch gar nicht so helfen, wie ich es gerne würde. Oder darf ich jetzt?".
Raffaela schüttelte ruckartig den Kopf und legte ihre Arme schützend um ihren Körper, wich aber nicht zurück. Johannes unterdrückte ein Seufzen.
"Okay, das muss ich wohl respektieren. Aber meinst du nicht auch, es ist besser, du gehst wieder zurück? Da kann man dir besser helfen mit der Trauer umzugehen nehme ich mal an."
Raffaela starrte an Johannes vorbei, minutenlang in eine Leere. Sie versuchte, seinen Vorschlag abzuwägen. Meinte er es wirklich gut oder wollte er sie nicht viel mehr loswerden? War sie ihm vielleicht mittlerweile einfach lästig und Johannes hatte nur auf einen Moment gewartet, um sie endlich von sich weisen zu können? Aber nein, so war Johannes eigentlich nie gewesen in den Monaten, die sie jetzt schon miteinander verbracht hatten. Er hatte immer nur das Beste für sie gewollt und ganz bestimmt war es jetzt genau so.
"Ich weiß nicht... was meinst du, wieso soll das besser sein?", würgte sie schließlich hervor, ihre Stimme war vom vielen Weinen noch ganz rau.
Johannes zögerte, bevor er antwortete, er hatte Angst, nicht die richtigen Worte zu finden und Raffaela nochmals zu verletzen.
"Ich denke mal, dass die Menschen dort wo du lebst eine Ausbildung haben, damit sie dir gut helfen können, vor allem psychologisch. Ich helfe dir wirklich gerne bei allem, aber eine professionelle psychologische Betreuung traue ich mir einfach nicht zu, dazu habe ich die Ausbildung einfach nicht. Ich will ja schließlich nichts falsch machen und damit alles nur schlimmer."
Raffaela verzog bei der Erklärung keine Miene und Johannes war sich nicht sicher, ob sie die Erklärung gut aufgefasst hatte. Er suchte nach positiven wie negativen Anzeichen in ihrer Körpersprache.
"Bist du mir böse?", fragte er schließlich, als er die Ungewissheit nicht länger aushielt.
"Nein, bin ich nicht", antwortete Raffaela, aber es klang tonlos.
Nach der Erklärung war sie sich relativ sicher, dass Johannes die Nase voll von ihr hatte, sie wollte aber vor ihm die Fassung nicht verlieren. "Dann ist es besser, ich gehe. Sehen wir uns wieder?".
"Natürlich! Bei deinem nächsten Besuch draußen musst du mir einfach nur schreiben, wie immer, dann nehme ich mir Zeit. Versprochen. Darf ich dich... umarmen zum Abschied?".
Dass Raffaela den Kopf schüttelte, einfach kehrt machte und ging versetzte ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz. Mit einer derart kalten Reaktion hatte er eigentlich nicht gerechnet und Johannes überlegte, ob seine Worte vielleicht doch falsche Muster bei Raffaela ausgelöst hatten.
Da er befürchtete, dass alles andere die Situation noch verschlimmert hätte, wandte er sich ebenfalls ab und ging, zwar völlig unzufrieden mit sich, aber doch ein wenig glücklich nach Hause. Dass sein Schwiegervater in spe jetzt weg war, freute ihn, das konnte er nur schwer leugnen. Vielleicht kam er mit Raffaela ja mal an einen Punkt, an dem sie sich gemeinsam darüber freuen konnten. Außerdem war er sich sicher, dass die Kälte zwischen ihnen, die ihm die letzten Minuten versaut hatten, beim nächsten Treffen schon verschwunden waren.