Es war für Johannes keine Überraschung, dass er später aufwachte als sonst. Die Stunde, die ihm mitten in der Nacht geklaut worden war, räderte ihn mehr, als er geglaubt hatte. Er quälte sich aus dem Bett und ging hinter vorgehaltener Hand gähnend ins Wohnzimmer, um nach Raffa zu sehen.
Ihr provisorisches Bett auf dem Sofa war bereits verlassen, die Decke zur Seite geknüllt, also nahm Johannes an, dass sie im Bad war. Er wiederum ging zu seiner Kaffeemaschine und sorgte für frischen Kaffee. Für Raffaela kochte er mit, denn er nahm einfach an, dass sie nach dieser Nacht auch einen Kaffee gebrauchen konnte.
Nachdem er auch noch Brötchen aufgetrieben hatte und Raffaela immer noch nicht aufgetaucht war, ging er zu seinem Bad, um nach ihr zu schauen.
Auch das Bad war leer und Johannes fragte sich, wo sie sonst sein könnte. Er ging nochmal ins Wohnzimmer zurück und entdeckte auf dem Tisch einen Zettel, den er vorhin im Halbschlaf übersehen hatte.
Raffaela war schon früher aus dem Haus gegangen und hatte eine Anlaufstelle der Caritas in Kassel ausgemacht, wecken wollte sie ihn nicht. Johannes merkte, dass ihn das ein wenig verletzte, denn er hatte fest damit gerechnet, ihr heute zu helfen, aber er hatte er letztendlich die Wahl gelassen und war ihr deshalb nicht böse. Er war jetzt wenigstens beruhigt und konzentrierte sich darauf, sich für das Training anzuzieheln. Dabei schrieb er Jeff noch eine kurze Nachricht, denn er wollte ihn vor dem Training noch treffen, um mit ihm zu sprechen.
Er schaffte es gerade noch, pünktlich loszukommen um sich mit Jeff auf dem Parkplatz ohne Mithörer treffen zu können. Außer ihnen beiden war noch kein Mensch auf dem Parkplatz und auch noch kein Auto.
"Du lebst ja noch, das ist eine schöne Überraschung", begrüßte Jeff lachend seinen Mannschaftskollegen und klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter.
Johannes lächelte nur müde, ihm steckte der gestrige Tag und die Nacht immer noch etwas in den Knochen.
"Kann man so sagen", nuschelte er. "War aber echt stressig. Willst dus wissen?".
"Klar will ich das! Erzähl mir alles."
Sie setzten sich auf einen schmalen Bordstein, der die Parkplätze von Grünflächen abgrenzte. Johannes versuchte ein paar mal, zum Gespräch anzusetzen, aber er fand keinen Anfang, der alles beschrieb, was er beschreiben wollte.
"So, du lebst also noch", stellte Jeff fest, "jetzt erzähl mir, wie du dazu gekommen bist. Und was mit Raffa und ihrem Vater passiert ist. Warst du gestern bei ihnen zu Hause?".
"Ja, war ich", seufzte Johannes schließlich, "beziehungsweise, wir standen vor ihrem Wohnblock. Ich habe sie dazu bekommen, mit mir zu reden und dann ist dabei ihr Vater aufgetaucht."
Jeff hob die Augenbrauen. "Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht, dass sie mit dir geredet hat oder dass du eine Begegnung mit ihrem Vater durchgehalten hast. Der war nicht sonderlich begeistert, oder?".
Johannes konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, obwohl die Situation alles andere als zum Lachen war. Die Umschreibung für Raffaelas Vater passte einfach zu gut zur Situation.
"Nein, begeistert war er wirklich nicht. Er war eher ziemlich aggressiv und wir können froh sein, dass es mir und Raffaela noch gut geht."
"Wo ist sie denn jetzt?", fragte Jeff nach.
"Erst war sie heute Nacht bei mir, es war ja schon dunkel, als das alles fertig war. Sie hat bei mir auf dem Sofa geschlafen, oder besser nicht geschlafen sondern nachgedacht, und ist dann heute Morgen gegangen. Ich habe ihr vorgeschlagen, bei einem Verein Hilfe zu suchen, bei der Caritas oder etwas in der Art, und sie hat geschrieben, dass sie das jetzt versucht. Sie ist gegangen, bevor ich aufgewacht bin und wo sie jetzt genau ist, habe ich keine Ahnung."
Jeff hörte die Mischung aus Frust und Trauer aus Johannes' Stimme heraus und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
"Hey, immerhin geht es ihr gut, oder? Du hast damit schon mal echt viel erreicht und ich denke schon, dass sie sich dann nochmal bei dir melden wird. Vermutlich muss sie jetzt erst mal ein bisschen selbst auf ihr Leben klar kommen."
"Wahrscheinlich hast du recht", seufzte Johannes lautstark, "aber ich fühle mich trotzdem nicht gut damit. Ich freue mich einerseits, dass sie dabei ist, den Sprung zu schaffen, aber irgendwie will ich sie dabei nicht alleine lassen, sondern ihr lieber helfen. Immerhin habe ich ihr gestern schon geholfen."
Entmutigt und enttäuscht ließ er den Kopf hängen. Er fühlte sich leer und irgendwie ausgebrannt. Irgendetwas fehlte ihm, er konnte es allerdings nicht richtig bennenen. War es Anerkennung nach der Rettung? Vielleicht. Bevor er gestern zu Raffaela gegangen war, hatte er sich die Zeit danach nicht bewusst ausgemalt, aber irgendwie etwas anderes vorgestellt.
Jeff klopfte ihm nochmals auf die Schulter und rüttelte sanft daran. "Ich kann dich glaube ich schon verstehen, aber ich denke, du musst ihr ein bisschen Zeit geben mit so viel Veränderung."
Johannes gab einen unwilligen Laut von sich, dann stand er auf und kickte in die Luft.
"Mann, ich weiß ja, dass du Recht hast, aber die Situation ist blöd. So weiß ich doch auch nicht wie es ihr geht."
Jeff stand ebenfalls auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. "Ich weiß! Aber du kannst mir aus Erfahrung glauben, bei den Menschen, die sie mag, meldet sie sich früher oder später auf jeden Fall. Und ich denke, sie mag dich, denn sonst wäre sie nicht mit dir gekommen."
Johannes brummte nur, steckte die Hände ebenfalls in die Hosenaschen und bemühte sich, den Blick nicht mit Jeff zu kreuzen. Jeff meinte das Zureden zwar gut, das war ihm klar, aber er ertrug es nicht.
"Komm, lass uns in die Halle gehen. Die anderen sind bestimmt auch schon bald da und ich habe keine Lust, dass mich die anderen auch noch ausfragen", brummte er grimmiger als gewollt und machte sich auf den Weg zum Halleneingang.
Jeff sah ihm erst hinterher und legte den Kopf schief, bis er sich entschied, Johannes doch zu folgen. Er kannte ihn jetzt schon lange und er wusste, dass Johannes gerade unzufrieden war. Deshalb wollte er ihn eigentlich aufmuntern, aber es schien ihm nicht gelungen zu sein.
Als Jeff die Umkleidekabine betrat, war Johannes schon darin vertieft, sich umzuziehen. Ihre Plätze lagen nicht direkt nebeneinander, deshalb begab sich Jeff zu seinem Platz und zog sich ebenfalls um.
Die Stille zwischen den beiden kam Jeff unerträglich vor, aber er wusste nicht, wie er sie durchbrechen konnte. Er wollte Johannes weder reizen noch traurig machen.
Johannes verlies die Kabine ebenso wortlos, nachdem er sich umgezogen hatte. Er war tief in Gedanken versunken, die sich aber immer nur im Kreis zu drehen schienen. Das Warten auf eine Nachricht machte ihn wahnsinnig und je mehr er darüber nachdachte, desto wahnsinniger machte es ihn.
Da ihm bei der Verteilung dieses Jahr die Aufgabe zugefallen war, sich um die Bälle zu kümmern, war es für ihn leicht, an den Ballschrank der Halle zu kommen und sich einen Ball zu schnappen. Normalerweise half ihm das Gefühl eines Balls in der Hand und ein Torwurf über alle Verstimmungen hinweg, aber diese wollte sich auch mit mehreren Torwürfen nicht lösen. Frustriert hämmerte er den Ball ins Tor und wandte sich ab.
Gleichzeitig kam Jeff aus dem Nebenraum, ebenfalls ein paar Bälle in der Hand. Einen reichte er Johannes mit einem aufmunternden Lächeln.
"Danke", grummelte Johannes und landete den nächsten Wurf mitten in das Tor.
"Ablenkung schadet dir nicht. Wir können auch mal wieder rausgehen, wenn du willst, was unternehmen oder so", schlug Jeff vor und warf seinen Ball hinterher. Ebenfalls ein Tor.
"Hm. Ich weiß nicht, da habe ich irgendwie nicht so richtig Lust drauf."
"Oder einen Spieleabend? Wir würden uns über Gesellschaft mal wieder freuen. Komm, du kannst jetzt nicht versauern. Du überlegst dir was bis heute Abend nach dem Training und dann machen wir das."
Jeff war sich nicht sicher, ob er Johannes' Blick als stummen Vorwurf sehen sollte oder er es sich einfach nur einbildete, aber das brachte ihn nicht von dem Vorhaben ab, Johannes ein bisschen abzulenken. Außerdem hoffte er, so gleich etwas über Raffa zu erfahren, wenn sie sich melden würde, denn mittlerweile war er der Meinung, dass sie Johannes eher vertraute als ihm.
Johannes hatte sich wieder seinem Ball zugewandt, um sich vor einer Antwort drücken zu können. Er wollte Jeff nicht direkt sagen, dass er einfach keine Lust hatte, von allen bemitleidet zu werden oder ähnliches, denn genau das sah er auf sich zukommen, wenn er sich jetzt mit ihm oder Jeff und seiner Freundin traf. Das würde Jeff verletzen, das wusste er. Deshalb baute er einfach darauf, dass er es nach einem harten Training vergessen hatte.
Als hätte man seine Gedanken gelesen, polterten schon die ersten Mannschaftskameraden lautstark herein.
"Oh, die Streber sind ja schon in der Halle", lachte Michi Müller, "na dann komm Jeff, ich brauche jemanden zum Aufwärmen und du hast den Ball. Hilf mir."
Johannes wandte sich von der Gruppe, die er beobachtet hatte, ab um sein Grinsen zu verbergen. Wenn Michi ihm weiter so helfen würde, wäre sein Abend gerettet.
"Hey, Philipp, ich brauche auch jemanden", rief er Michaels Zwillingsbruder zu, und als er sich zu ihm umgedreht hatte, warf er ihm einen Ball zu.
Vielleicht würde der Tag doch noch schön werden.