Anna brauchte nicht lange zu warten, bis das Symbol für eine neue Nachricht erschien. Dark hielt sein Wort und schicke eine interne Mail mit den Worten „Ich hoffe, es gefällt dir“ mit seinem Foto als Anhang. Neugierig klickte sie darauf.
Kurz hatte sie gezögert, schließlich kannte sie den Mann hinter dem geheimnisvollen Namen nicht und man konnte ja nie ausschließen, sich irgendwelche Viren einzufangen. Andererseits war auf ihrem PC ein gutes, kostenpflichtiges Virenprogramm installiert, welches sich täglich updatete und automatisch jeden Download überprüfte. Insofern brauchte sie sich eigentlich keine Sorgen zu machen.
Das Bild, welches er ihr geschickt hatte, war in der Tat beeindruckend.
Es zeigte mehrere Bäume, einige gerade, andere schief. Es war zweifellos im Winter geschossen worden. Sie waren alle kahl und mehr oder weniger gut zu erkennen. Man konnte sehen oder vielmehr erahnen, dass, auch wenn die Bäume an sich nicht weiß waren, der Boden vollständig weiß von all dem Schnee war, der sich wie ein Tuch über die Erde gelegt hatte. Alles war vom dicken Nebel umhüllt und wirkte daher seltsam unwirklich und undeutlich. Aus diesem Grund war nicht alles gleich gut zu erkennen. Und gerade das machte zum größten Teil den Reiz der Fotografie aus, zumindest aus Annas Sicht.
Die festgehaltene Szenerie strahlte eine Ruhe aus, als wenn die Welt kurz den Atem anhielte. Und da es in Schwarzweiß aufgenommen war zusammen mit dem Nebel, wirkte es verwischt und wie etwas, was man nicht wirklich greifen konnte.
Beim Betrachten hatte die Frau zweierlei widersprüchliche Gefühle: zum einen wirkte es beruhigend, eine schlafende Natur wider der hektischen Zeit – zum anderen hätte die abgelichtete Gegend auch aus einem Horrorfilm stammen können und man wartete geradezu auf den Mörder oder die alte Waldhexe, die mit einem ihrer Mordwerkzeuge an ihre Opfer heranschlich und rotes Blut auf dem weißen Schnee hinterließ.
Ihr Chatpartner hatte seit seiner Nachricht nichts weiter mehr geschrieben. Offensichtlich wollte er ihr Zeit geben, so dass sie die Fotografie in Ruhe betrachten konnte. Das empfand sie als sehr angenehm. Die Menschen waren heutzutage ja leider oft sehr ungeduldig und daher hätte es in die heutige Zeit gepasst, wenn er sie gleich gelöchert und nach ihrer Meinung gefragt hätte. Nicht, dass Anna ein besonders geduldiger Mensch war, diese Tugend überließ sie gerne anderen. Aber sie hatte gelernt, sich mit neugierigen Fragen zurückzuhalten, auch wenn es manchmal schwerfiel.
Kurz betrachtete sie erneut sein Profilbild und musste lächeln. Er hatte ja kurz erklärt, dass er sich Dark nannte, da alle nachts dunkel waren, also auch er mit seinen blonden Haaren. Trotzdem schien es nicht so recht zu ihm zu passen.
Vielleicht hatte er sich den Namen auch aus einem anderen Grund gegeben? Möglicherweise wegen seinen etwas düsteren und ein wenig melancholischen Fotografien. Er schien ein gutes Gespür für die Landschaften und ihre Botschaften zu haben. Und hatte dazu noch die Fähigkeit, dies entsprechend durch seine Kamera ins rechte Licht zu rücken und festzuhalten.
Auf jeden Fall war es an der Zeit, ihm zurückzuschreiben. Hoffentlich hatte sie sich nicht zu lange Zeit gelassen und er war noch da.
MissImpossible: Dein Bild ist wirklich gut, Dark. Wo hast du es denn aufgenommen?
Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Dark-in-the-night: Auf einer Wanderung, die ich letztes Jahr im Januar gemacht hatte. Ich bin einfach in mein Auto gestiegen und habe nach guten Motiven gesucht. Bei einem Waldparkplatz habe ich dann angehalten, meine Winterklamotten angezogen und nach guten Motiven gesucht. Bei mir musst du immer mit solchen spontanen Aktionen rechnen
MissImpossible: Du hast die Stimmung gut eingefangen, dieses Miteinander von Nebel und Schnee. Du könntest das sicher auch beruflich machen
tippte sie ein und lehnte sich etwas in ihrem Stuhl zurück. Nochmals überflog sie seine Zeilen und ergänzte:
MissImpossible: Spontane Aktionen finde ich gut, das ist genau mein Ding.
Es dauerte einige Minuten, bis er antwortete.
Dark-in-the-night: Freut mich, dass wir da ähnlich ticken. Und danke für dein Kompliment, das freut mich sehr. Ich habe tatsächlich schon überlegt, das professionell zu machen
Keine weiteren Buchstaben auf ihrem Bildschirm. Die offene Frage lag in der Luft und beherzt schrieb sie:
MissImpossible: Was hindert dich daran?
Dark-in-the-night: Meine Verpflichtungen gegenüber der Familie
Nun runzelte sie doch die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?
Vielleicht war er auch geschieden oder getrennt lebend? Vielleicht auch verheiratet, heutzutage war ja alles möglich. Die Frau kümmerte sich um die Kinder und er unterhielt sich mit fremden Frauen im Chat.
Aber so schnell ihr dieser Gedanke kam, so schnell verwarf sie ihn wieder. Nein, so schätze sie Dark wirklich nicht ein. Trotzdem wollte sie jetzt natürlich wissen, woran sie mit ihm war. Wie fragte man nur danach, ohne dass es unhöflich wirkte?
Während sie noch überlegte, wie sie reagieren sollte, wurde ihr die Entscheidung abgenommen.
Dark-in-the-night: Ich habe mich vielleicht missverständlich ausgedrückt. Mit Familie meinte ich meine Eltern und die sonstige Verwandtschaft. Ich habe mich auch bereiterklärt, hin und wieder ein Auge auf das schwarze Schaf unserer Familie zu werfen, damit nichts Schlimmes passiert. Mir fehlt schlichtweg im Moment die Ruhe, auch wenn mir der Gedanke immer wieder einmal kommt
Wie es aussah, arbeitete er beim elterlichen Betrieb oder der Firma mit. Zumindest schlussfolgerte sie das, auch wenn er es so nicht direkt ausgedrückt hatte. Und wer war das schwarze Schaf der Familie? Vielleicht jemand, der ihm nahestand, vielleicht sein Bruder? Es könnte sich theoretisch aber auch um eine weibliche Person handeln.
Auf jeden Fall schien er tatsächlich ledig zu sein, wie sie erleichtert feststellte.
Vielleicht würde das heute ja nicht ihr einziger Chat bleiben. Dann blieb immer noch die Chance, das nochmal anzusprechen.
Sie hoffte es. Dieser Dark schien ein netter Kerl zu sein.
Dark-in-the-night: Impossible, zeigst du mir jetzt auch eines deiner Bilder (*bettelnder treuer Hundeblick
Sie musste grinsen.
MissImpossible: Natürlich (*ich hoffe, du trägst kein Halsband
Dark-in-the-night: Ich bin noch die ganze Nacht wach daher alles in Ruhe. (*nein, kein Halsband, aber ich knurre manchmal schon auch, wenn es notwendig ist
Lachend erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging ins Nebenzimmer. Beherzt öffnete sie die große Schublade ihres Kreativschranks und griff nach einer der Sammelmappen.
Das Möbelstück, welches sie passend so bezeichnete, war ein etwa 1,5 Meter hoher und recht breiter Schrank, der nur aus Schubladen bestand. Eigentlich war es ursprünglich als Teil einer ganzen Schrankwand gedacht. Sie hatte es jedoch als Einzelteil einer auslaufenden Serie erstanden, da es gut in ihren Einrichtungsstil passte und sehr günstig gewesen war. Das gute Möbelstück stand extra, nicht direkt an den anderen Schränken oder Regalen. Ihr Zeichnen, ihre Kreativität waren ihr wichtig und daher hatte sie es passend gefunden, ihren Kreativschrank auf diese Weise hervorzuheben.
Sie zog an der Schleife und öffnete die Mappe. Vorsichtig holte sie die einzelnen Kunstwerke heraus.
Anna betrachtete unschlüssig die Bilder. Was würde zu Dark passen? Ratlos fiel ihr Blick auf schwarze feuerspeiende Drachen, Elben inmitten verwunschenen Wäldern und Menschen in silbernen Rüstungen. Alles wunderschöne Bilder, aber sie suchte etwas anderes.
Im dritten Sammelband wurde sie schließlich fündig. Ein Bild, dass sie vor einem halben Jahr mit Acrylfarben gemalt hatte.
Etwa in der Mitte stand ein Mann, dessen Gestalt vom Mondlicht erhellt wurde. Anna hatte überwiegend Farben wie verschiedene Arten von dunklem Blau, Schwarz, Braun, Gelb und auch Weiß ausgewählt, um die Person und den Hintergrund darzustellen.
Bei dem Mann handelte es sich eindeutig um einen Vampir. Blasses Gesicht, spitze Eckzähne, schwarze Augen. Seine Haare waren natürlich schwarz, wie sich das gehörte und mit Haargel glatt nach hinten frisiert. Zugegeben, das mit dem Gel war jetzt auf ihrem Gemälde nicht wirklich klar zu erkennen, aber in ihrer Vorstellung hatte ein Vampir genauso eine Frisur. Natürlich waren seine Lippen von einem intensiven Rot und bildeten einen starken Kontrast zur weißen Gesichtsfarbe. Es war anzunehmen, dass seine letzte Mahlzeit noch nicht lange her war, auch wenn sie auf die Blutstropfen verzichtet hatte. Er starrte mit seinen dunklen Augen und leicht spöttischem Lächeln genau in die Richtung des Betrachters.
Ihr Untoter trug weiter eine Art Cape, ein weißes Rüschenhemd und schwarze Hosen und Schuhe. Eben so, wie man es aus klassischen Dracula- Geschichten kannte. Die Arme konnte man nicht erkennen, sie befanden sich unter seinem Mantel. Sie hatte sich nicht entscheiden können, ob ihr Blutsauger Handschuhe trug oder nicht, also hatte sie sich für diese Lösung entschieden.
Vom Hintergrund sah man nicht viel, das Mondlicht beleuchtete eigentlich nur ihren Vampir. Ob das nun realistisch war oder nicht, war ihr in diesem Moment egal gewesen. Schließlich waren Vampire auch Fantasiegestalten, da brauchte sie es auch damit nicht so genau nehmen. Es genügte, dass der Betrachter einige verschwommene Kreuze sah und an der Seite ein eisernes Tor.
Ja, sie musste zugeben, sie hatte sich an alle klassischen Symbole gehalten, als sie „ihren“ Untoten gezeichnet hatte.
Dieses Bild. Genau dieses würde sie Dark-in-the-night schicken.
Sie musste sich zwingen, um nicht albern loszukichern. Woher diese plötzliche Albernheit kam, wusste sie nicht. Aber dieses Gemälde passte auf seinen Accountnamen einfach perfekt.
Wo hatte sie denn nur ihr Handy hingelegt?
Sie blickte suchend um sich, bis sie es schließlich entdeckte. Der Akku war nur noch zu 1/3 voll, aber dafür würde es noch reichen.
Ein wenig aufgeregt war sie schon, als sie die Kamera- Funktion aktivierte und den Zeigefinger auf den Kreis drückte und damit den Auslöser betätigte. Wie er wohl reagieren würde?
Das erste Foto war enttäuschend und sie löschte es sofort wieder von der Speicherkarte. Der automatische Blitz reflektierte und so einen hellen Punkt konnte sie nun wirklich nicht brauchen. Sie ging zurück ins andere Zimmer und experimentierte ein wenig. Mal veränderte sie die Lichtverhältnisse, indem sie einen Teil der Deckenleuchten- und Seitenleuchten an- oder ausknipste, mal schaltete sie den Blitz zu, mal versuchte sie es ohne.
Nach einigen Versuchen gelang ihr endlich ein Foto, mit dem sie zufrieden war. Durch Dark entwickelte sie sich auch noch zum Profi, zumindest, was Bilder mit einer einfachen Handykamera betraf.
Rasch ging sie zurück zu ihrem Computer.
MissImpossible: Hallo Dark, ich hoffe, du bist noch da? Sorry bitte, dass es etwas länger gedauert hat. Aber ich musste erst noch eines raussuchen und mit dem Abfotografieren hat auch nicht gleich funktioniert. Noch einen kleinen Augenblick bitte, ja?
Es kam keine Antwort.
So ein Mist. War er jetzt enttäuscht und hatte sich ausgeloggt?
Aber dann hätte er doch vorher geschrieben, oder nicht? Er hatte nämlich seit seiner letzten Antwort nichts mehr geschrieben.
Sie seufzte. Es war schwierig, jemanden einzuschätzen, mit dem man zum ersten Mal chattete und nicht vor Augen hatte.
Nicht mehr gewillt, weiter sinnlos auf den Bildschirm zu starren, fuhr sie mit ihrer Tätigkeit fort. Sie schickte das Bild als Anhang vom Handy aus an ihre eigene E-Mail- Adresse, öffnete diese Nachricht auf dem PC und speicherte es auf der Festplatte. Die einfachere und schnellere Lösung. Besser, als ihr Smartphone per Kabel mit dem PC zu verbinden und dann mühsam die richtige Datei herauszusuchen. Die extra Speicherkarte in ihrem Handy war leider schon ziemlich voll.
Trotzdem zögerte sie. Machte es überhaupt noch Sinn, da ja Dark offensichtlich nicht mehr da war?
Als hätte ihr Chatpartner ihren Gedanken erraten, kam endlich seine Antwort:
Dark-in-the-night: Entschuldige bitte, Impossible, ich hatte gerade einen wichtigen Telefonanruf bekommen. Und dann musste ich mir noch Nachschub aus dem Kühlschrank holen. – Ich bin wirklich neugierig
Anna wunderte sich. Wer rief Dark denn um diese Zeit an? Was war so wichtig, mitten in der Nacht? Und was hatte er sich geholt? Ein Bier? Oder etwas zu essen?
MissImpossible: Um diese Zeit plünderst du deinen Kühlschrank?!
Dark-in-the-night: Keine Sorge, nichts, was wirklich dick macht
Hm, also doch kein Bier.
Aber da er in Rätseln schrieb, wollte sie auch nicht weiter nachhaken. Die Datei war ja jetzt auf ihrem PC, sie an sein Profil zu schicken, war nun kein großes Problem mehr. Wenige Minuten später war sie fertig und lehnte sich zufrieden zurück.
Nach fünf Minuten kam seine Antwort.