„Die zerstörerischste Macht der Erde ist nicht Hass oder Verblendung oder Ehre. Es ist Liebe.“
Cajun schlug die Augen auf. Doch der hohe Ton, der ihn aus dem Reich der Träume geholt hatte, war noch immer da. Müde blinzelte Cajun in das blendend helle Sonnenlicht und konnte die Silhouette am Fußende seines Bettes erkennen.
„Vren! Was soll der Lärm?“, beschwerte sich Cajun, schnappte sich das Kissen neben seinem Kopf und warf es auf seinen jüngeren Bruder.
„Du sollst aufstehen!“, rief Vren und wehrte das Kissen mit einer Hand ab, was ihn zu Cajuns Erleichterung daran hinderte, weiterhin auf einer kleinen Flöte zu spielen. Ohne die hohen Töne ging es Cajuns Laune schon ein bisschen besser.
„Du kannst mich auch normal wecken“, erklärte er Vren und schwang die Beine aus dem Bett.
„Aber heute ist Maianfang!“, sagte Vren, sprang von Cajuns Bett und hüpfte aufgeregt in Richtung Tür: „Beeil dich, sonst kommst du noch zu spät!“
Damit war Vren hinter der hellen Birkenholztür verschwunden. Cajun stöhnte und ließ sich zurück ins Bett fallen.
Maianfang. Der Frühlingsschauertag war doch gerade erst vorbei, und davor die drei Wochen der ersten Krokusse. Manchmal hatte Cajun das Gefühl, es gäbe mehr Feiern als Tage im Jahr. Man musste die Stille der Welt, die herbstlichen Farbenklänge und die Mitternachtssonaten feiern, man musste Mittsommernächte und Tagundnachtgleiche besingen, musste die Vollmonde anheulen, den Festlichkeiten zum Frühschnee, zur Blumenfülle und zur Hochzeit der Meere beiwohnen und jedes Jahr dem Vogelzug mit ebenso lautem Gekrächze wie dem der Gänse antworten. Das Lied der Sehnsucht der Lüfte singen.
Cajun rieb sich die Stirn. Es gab noch mehr Feste, aber ihm wollten im Moment nicht alle Namen einfallen. Es war eh immer das Gleiche: Die Familien im Dorf versammelten sich auf dem Marktplatz, sangen drei, vier, fünf Stunden lang die Lieder des jeweiligen Tages, dann wurden feierlich Kinder und Musikinstrumente getauft, es wurde noch mehr gesungen und abends fiel man ins Bett, mit dem leeren Gefühl der Spiritualität im Magen, da an den Feiertagen nichts außer Musik konsumiert werden durfte.
Seit Cajun am Tag der Tauklänge im Jahr der Schmetterlingssonette geboren, hasste er die Traditionen seiner Heimat. Er hatte versucht, sich krank zu stellen oder andere Ausreden zu finden, doch mit Trigon und Eila waren in diesem Punkt keine Diskussionen zu führen. Cajun musste den Festen beiwohnen, wie jeder im Dorf.
„Komm schon, Cajun!“, Vren hämmerte von außen gegen die Tür: „Papa sagt, du sollst was essen, bevor die Sonne aufgeht!“
Cajun war über seine Grübeleien schon fast wieder eingeschlafen. Seufzend setzte er sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und wankte durch die Tür in das geräumige Wohnzimmer dahinter.
Die Familie war bereits versammelt. Trigon und Eila saßen aufrecht am Kopfende des Tisches. Vren und Santatia daneben. Sogar Orial, Vrens bester Freund, war anwesend. Sie trugen die hellgelbe Festtageskleidung und dufteten bereits nach Vanille, wie es die Tradition verlangte. Cajun ignorierte die Tatsache, dass er nur seine graue Schlafhose trug und setzte sich gähnend an den Tisch.
Eila schob jedem von ihnen einen Teller mit einen einzigen, kleinen weißen Brot darauf zu. Das kleine Brot war mit Honig bestrichen und mit Vanille gewürzt. Für mehr als einen Bissen reichte die Mahlzeit nicht. Die anderen kauten langsam und genüsslich, Cajun stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände, während er grimmig das Brot zerkaute.
Jeder in der Familie hatte blonde Haare, blaue Augen und leicht gebräunte Haut. Nur Cajun hatte dunkle Haare, dunkle Augen und eine Haut, so blass als würde sie niemals von Sonnenlicht berührt werden. Selbst Orial sah der Familie ähnlicher als Cajun. Mehr als einmal hatte er sich schon gefragt, ob er vielleicht adoptiert war.
Als sie fertig gefrühstückt hatten, zeigten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen über den Baumwipfeln. Trigon scheuchte Cajun, sich eilig die festlichen Gewänder überzuziehen, und als Cajun einigermaßen präsentabel vor seinem Vater stand, ging es nach draußen.
Im Licht des frühen Morgens waren lange Tische nach draußen gestellt worden und mit weißen Tüchern bedeckt. Junge Mädchen waren eifrig damit beschäftigt, Kränze aus Maiglöckchen zu flechten. Santatia entschuldigte sich mit einer kleinen Verbeugung und gesellte sich zu diesen Mädchen. Vren und Orial liefen wenig später zu den Flötenmachern, um beim Herstellen der ersten Maiinstrumente zu helfen.
Trigon nahm Cajun zur Seite und sagte: „Das Orchester probt hinter den Hügeln. Frau Chapinelli hat sich bereits beschwert, du würdest zu spät kommen, also beeil dich.“
„Ja, Trigon“, sagte Cajun tonlos.
Trigon verstärkte seinen Griff um Cajuns Schulter: „Und enttäusch mich nicht wieder, klar?“
„Nein, Trigon“, sagte Cajun.
Sein Vater entließ ihn: „Jetzt lauf!“
Hinter dem Hügel begrüßten ihn die Klänge der probenden Musiker. Da wurden Violinen gestimmt und Flöten erklangen zum ersten Mal seit langer Zeit. Im April war jeder helle Flötenton verboten. Der Mai dagegen stellte die Blütezeit der Blasinstrumente dar.
Cajun suchte sich seinen Weg zwischen den bunt verteilten Musikern und blieb wartend vor Frau Chapinelli stehen, die auf einer erhöhten, tragbaren Tribüne stand und das Chaos überwachte.
Die dürre Frau bemerkte ihn erst, als er schon eine geraume Weile schweigend neben ihren Knien stand. Cajun vermutete, dass sie ihn absichtlich warten ließ, denn sonst zeigte die Frau eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit.
„Cajun. Na endlich“, sagte sie schroff und deutete auf seinen Platz am äußersten Rand: „Dann können wir ja anfangen.“
Stille kehrte ein, während Frau Chapinelli die Arme erhob und Cajun zu seinem Platz trottete, wo auf einem kleinen Schemel sein Instrument lag.
Ein Triangel. Cajun hob das metallene Instrument an dem Lederriemen hoch und ergriff den kleinen Stab mit der freien Hand. Alle Augen wandten sich Frau Chapinelli zu.
Sie machte eine Geste und Cajun schlug den Triangel an. Der helle Ton zitterte durch die Luft, das einzige Geräusch in dem plötzlich so stillen Morgen. Als das Geräusch zu verhallten drohte, gab Frau Chapinelli das nächste Signal und leise setzten die Geigen ein. Eine hauchzarte Melodie, die durch einen lauten Atemzug schon unterbrochen werden könnte.
Die Musik war ruhig. Schließlich setzten die Flöten ein, plötzlich hoch und hell und fröhlich. Cajuns Blick schweifte desinteressiert durch die Gegend. Ab und zu schlug er – mehr oder weniger im Takt – auf sein Triangel.
Die Proben dauerten bis Mittag, dann schien Frau Chapinelli mit allen zufrieden. Nur Cajun erhielt böse Blicke – offenbar hatte er eine Millisekunde zu früh oder zu spät geklingelt. Während alle ihre Instrumente liebevoll verstauen, stopfte Cajun sein Triangel in die Tasche seines Gewandes und wanderte alleine in Richtung Wälder.
Sie hatten eine halbe Stunde Zeit, um sich geistig auf das Spielen einzustellen. Vor Wut schnaubend suchte Cajun die Einsamkeit der Wälder auf.
Hier war es still. Cajun liebte die Stille und das sanfte Geräusch von leise fallendem Regen. Die Blätter rauschten fast wie die Aprilschauer, und der Geruch nach erblühendem Leben füllte den Wald.
Seit er denken konnte, hatte er diese Wälder geliebt. Die Stille. Die Ruhe. In der bunten Gemeinschaft war ihm beides nie vergönnt. Er suchte seinen Lieblingsplatz auf, einen großen, mossbewachsenen Stein unter einer alten Eiche. Ein schmaler, heller Fluss schlängelte sich unter den Wurzel durch ein steiniges Bett. Cajun lehnte sich mit dem Rücken an den mächtigen Stamm und schloss die Augen.
Er genoss das Gefühl der Sonnenstrahlen auf der Haut. In seinen Ohren klingelten die Geräusche des Orchesters nach. Cajun konnte die hohen Töne nicht ausstehen, sie bereiteten ihm schon fast Schmerzen. Ebenso der dröhnende Bass von Cellos oder Trompeten. Was Menschen in der Musik fanden, dass ihnen gefiel, konnte Cajun nicht nachvollziehen.
Für ihn war es nur Lärm, den man unheimlich kompliziert erzeugen musste, wo man doch genauso gut einfach schreien konnte!
Ein Geräusch weckte ihn aus seinen Gedanken. Cajun riss die Augen auf – und erstarrte.
Vor ihm stand ein Löwe. Ein großes, mächtiges Tier, leuchtend golden, größer als ein Mann stand. Auf seinem Stein verharrte Cajun bewegungslos und atmete so flach er konnte. Doch das Raubtier hatte bereits die goldenen Augen auf ihn gerichtet.
Ein dumpfes Geräusch erklang. Zuerst dachte Cajun, es wäre ein Knurren. Doch das Geräusch war nicht so bedrohlich, und schließlich erkannte Cajun ein Schnurren, wie es auch Katzen manchmal von sich gaben.
Der Löwe neigte den Kopf wie ein Mensch und aus seinem halb geöffneten Maul kam eine ruhige Stimme: „Keine Angst, Cajun.“
Immer noch regte Cajun keinen Muskel. Er starrte das Tier nur mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ich komme im Auftrag der einen, die dich liebt, Regenkind“, sprach der Löwe weiter. Cajun war zu geschockt, um in irgendeiner Weise zu reagieren: „Sie wartet auf dich, um dich zu erlösen.“
„W-wer?“, brachte Cajun über die Lippen.
Der goldene Löwe sah ihm tief in die Augen: „Diejenige, die dir folgte. Sie erwartet dich.“
In diesem Moment weckte ein Geräusch die Aufmerksamkeit des Löwen. Das mächtige Tier wandte den Kopf und sah in den Wald, dann wieder auf Cajun: „Du hast nur noch heute Zeit. Kehre zurück, bevor die Sonne sinkt, Regenkind.“
Dann machte der Löwe einen weiten Satz und verschwand hinter Büschen und Farnen außer Sicht.
Schritte näherten sich: „Cajun? Cajun! Hier bist du!“
Es war Trigon, der in Cajuns geschütztes Versteck eingedrungen war: „Alle warten auch dich! Wir wollen anfangen!“
„Ich – ich komme“, erwiderte Cajun und setzte sich auf. Er rieb sich die Stirn. Von dem Löwen war keine Spur mehr zu sehen, keine Tatzenabdrücke auf dem Boden und keine geknickten Äste. War es nur ein Traum gewesen? Und war die Zeit wirklich so schnell vergangen?
Cajun folgte seinem Vater aus dem Wald heraus. Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, sich mehr von sich selbst zu entfernen. Die helle, fröhliche Welt der Gemeinschaft war kein Ort für ihn. Es war eine einzige Qual.
Der Löwe hatte recht gehabt – Cajun war das Regenkind, aufgewachsen im Haus der Sonne. Der fröhliche Lebensweg lag ihm nicht. Er war nicht depressiv, aber er dachte gerne nach, schwieg und beobachtete. Das war sein Wesen, und natürlich konnte er mit den lauten Festen wenig anfangen.
Nach dem Maianfangsfest machte sich Cajun alleine auf den Weg, fort von den enttäuschten Blicken seiner Eltern und dem missmutigen Gemurmel der anderen Besucher.
Man sollte doch meinen, mit einem Triangel sei wenig falsch zu machen. Doch wieder hatte jeder bemerkt, dass Cajun nicht mit dem Herz bei der Sache war. Bei jedem Schlag, den er getan hatte, waren Blicke zu ihm geschossen. Immer und immer wieder hatte Cajun sich gewünscht, im Erdboden versinken zu können, als mit dem Orchester Mittelpunkt des Festes zu sein. Seine Finger schmerzten von der Kraft, mit der er den Triangel festgehalten hatte. Er hatte das kleine Instrument vor Frau Chapinelli auf den Tisch gelegt, als alle bereits saßen. Cajun war gezwungen worden, wenigstens dem Maisegen beizuwohnen. Dann hatten ihn alle angestarrt, während er sein Instrument abgegeben hatte und gegangen war.
Wenigstens durfte er sich jetzt zurück ziehen. Ihm war kalt, aber noch viel stärker spürte er den Druck im Magen, der ihm sagte, dass er heute mal wieder seine Familie enttäuscht hatte.
Während er sich in Richtung seines Lieblingsplatzes durch den Wald schlug, grübelte er darüber nach, warum er nicht wie jeder andere einfach fröhlich sein konnte.
»Ich denke wohl zu viel nach«, entschied er. Er war eben glücklicher, wenn er alleine war.
Als er an seinem Stein angekommen war, konnte er sich nicht setzen. Seine Zuflucht war ihm genommen worden, dadurch, dass Trigon diesen Ort gefunden hatte. Damit hatte das Versteck seine Sicherheit für Cajun verloren. Er folgte müßig dem Flusslauf und hielt dabei Ausschau, ob er den goldenen Löwen erneut sehen würde.
Jetzt hatte er keine Angst mehr vor dem Raubtier. Vielmehr interessierte es Cajun, von welchem Mädchen das Wesen geredet hatte. Ein Blick zum Himmel sagte ihm, dass die Sonne sank. Ein paar Stunden, dann würde es dunkel werden.
Er war sich immer noch nicht sicher, ob er nicht vielleicht geträumt hatte. Sprechende Löwen gab es doch nicht. Aber andererseits würde Cajun jeder noch so kleinen Hoffnung folgen, wenn sie ihm Freiheit versprach.
Er fühlte sich alt. Alt und müde, als würde es schon seit Jahrhunderten leiden, ohne es zu wissen. Sein Herz war immer schon schwer gewesen, als wüsste er Dinge, von denen andere nichts ahnten.
Und plötzlich stand der Löwe genau vor ihm. Er sah Cajun aus Augen an, die orange wie die sinkende Sonne waren.
„Es ist wenig Zeit. Folge mir“, und mit einem weiten Satz sprang der Löwe voraus.
Cajun überlegte nicht. Er folgte dem goldenen Lichtschein durch die Wälder, sprang über Erdkuhlen, duckte sich unter peitschenden Ästen hindurch, rutschte Abhänge hinab und sprintete durch die hohen Stämme. Er brach durch das Unterholz, keuchend, von dem Lauf viel zu sehr eingenommen, um über das Warum nachzudenken.
Der Löwe war schnell. Cajun hielt kaum mit, doch das große Tier blieb immer in Sichtweite. Ab und zu verharrte der Löwe, warf einen goldenen Blick zurück und wartete darauf, dass Cajun aufschloss. Sie wurden für eine lange Zeit nicht langsamer, bis Cajun schon fürchtete, dass er aufgeben musste. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, seine Lungen brannten und er wurde fahrig darin, Ästen und Baumstämmen auszuweichen.
Da blieb der Löwe stehen und ließ zu, dass Cajun ihn erreichte. Nach Atem ringend kämpfte sich Cajun vorwärts, auf Beinen, die schwer wie Steine waren.
Schwer wie seine Gedanken voller Sorge. Tat er das Richtige? Er begann, zu zweifeln.
„Eil dich, Regenkind“, sagte der Löwe.
„Ich kann nicht mehr“, sagte Cajun traurig: „Ich bin nicht schnell genug. Wie weit ist der Weg?“
Der Löwe seufzte: „Noch ein ganzes Stück. Wir haben jedoch mehr als die Hälfte hinter uns. Kannst du wirklich nicht mehr?“
Cajun ließ die Schultern hängen und nickte: „Ein paar Schritte vielleicht noch. Aber ich kann nicht mehr rennen. Verzeih mir.“
„Nicht ich muss dir verzeihen, sondern jene, die dich erwartet. Komm, Regenkind, ich will dich tragen. Doch ein Ritt auf meinem Rücken wird dich schmerzen. Dennoch, die Zeit drängt. Wirst du es wagen?“
Cajun zögerte, doch nur einen Moment: „Es muss wichtig sein, warum du mich rufst. Ich werde es wagen.“
Der Löwe ging in die Knie, dass Cajun auf den goldenen Rücken klettern konnte. Jede Berührung mit dem hellen Fell war warm. Dann wurde sie unerträglich heiß.
„Du brennst ja, Löwe“, sagte Cajun erstaunt.
„Ich bin ein Kuss aus Sonnenstrahlen, Regenkind. Die Hitze wird dich schmerzen, doch ich werde schnell laufen, dass du nicht verbrennst.“
Und mit diesen Worten sprang der Löwe wieder los. Cajun klammerte sich in die Mähne und duckte sich über dem kräftigen Hals. Unter ihm rannte der Löwe so schnell, dass der Waldboden zu einem Schemen wurde. Der Wald flog vorbei wie ein Traum.
Und jede Sekunde schmerzte. Cajun fühle sich, als würde er verbrennen oder sich in weißen Wasserdampf auflösen. Seine Beine und Hände wurden rot vor Hitze, und diese breitete sich in seinen ganzen Körper aus. Während sie dem Sonnenuntergang entgegen rannten, spürte Cajun Tränen vor Schmerz auf seinen Wangen.
Als der Löwe schließlich anhielt, fiel Cajun fast von dem Rücken. Er starrte auf seine Hände, die dampften. Doch das Gefühl verging, und zurück blieb nur ein dumpfer Schmerz, der langsam verging.
Cajun richtete sich auf: „Sind wir da?“
„Du bist gekommen, Regenkind“, antwortete eine andere Stimme. Sie war hell und klar, leuchten und sanft.
Cajun drehte sich um und sah helles Licht. Der Löwe an seiner Seite verblasste und warf ihm nur einen langen Blick zu. Die Arbeit dieses Tieres war getan.
Im hellen Licht stand ein Mädchen. Cajun konnte sie nicht direkt ansehen, denn das Sonnenlicht war schmerzhaft hell. Trotzdem bemerkte er, dass sich das goldene Licht orange verfärbte, wie der Sonnenuntergang, jetzt, wo die Sonne langsam hinter den Bergen verschwand.
„Wer bist du?“, fragte Cajun und sah das Mädchen mit halb abgewendeten Gesicht an, um seine Augen zu schützen.
„Ich habe keinen Namen. Ich lebe nur für diesen Tag, und ich bin froh, dass ich dich gefunden habe, Regenkind.“
„Ich heiße Cajun“, sagte Cajun und verbeugte sich leicht: „Was hat es mit dem Regenkind auf sich?“
Das Mädchen schien den Kopf schief zu legen: „Du bist das Regenkind.“
„Ja, vielleicht. Aber was bedeutet es?“, fragte Cajun.
„Vielleicht?“, hakte das Mädchen nach: „Der Name gibt dir doch ein Gefühl, oder?“
Cajun dachte kurz nach und nickte. Regenkind, das schien ihm vertraut zu sein, obwohl er nicht wusste, woher.
„Regenkind bedeutet, was du darin siehst“, erklärte das Mädchen ruhig, als wäre das selbstverständlich.
„Gut“, sagte Cajun: „Dann weiß ich jetzt, was es bedeutet.“
Das Mädchen fragte nicht nach, und Cajun hätte es auch nicht erklären können. Für einen Moment standen sie einander schweigend gegenüber.
„Warum hast du mich gerufen?“, fragte Cajun leise.
Das Mädchen bewegte sich und schien zum Himmel aufzusehen. Ihr Licht wurde blasser.
„Ich wollte dich sehen, Regenkind. Wir sind verbunden, auf eine Art, die ich noch nicht verstehe.“
Cajun beobachtete das Mädchen auf Augen, die er zu Schlitzen zusammengekniffen hatte. Sie war schlank, groß, mit hellen Augen und offenbar langen Haaren, die sich wie eine Flut zum Boden ergossen. Ihre Stimme weckte eine Erinnerung in ihm, die dort lange geschlummert hatte.
Ein Fetzen nur, vielleicht ein Traum. Er sah ein Lagerfeuer. Einen Bären. Und gelbe Augen.
„Ich kenne dich!“, hauchte er, die Augen plötzlich weit aufgerissen, dass das Licht darin schmerzte.
„Ja, Regenkind“, sagte das Mädchen aus Sonnenstrahlen: „Wir teilen ein Schicksal, das schwerer ist als der Tod.“
„Welches Schicksal? Ich sehe alles nur durch Nebel und Träume“, gestand Cajun.
„Ich weiß es auch nicht“, sagte das Mädchen leise. Ihre Stimme war so klangvoll, wie Musik. Aber es war Musik, in der sich Cajun wiederfand. Sein Herz schlug mit ihren Worten. Er wollte die Augen schließen und auf ewig nur dieser Stimme lauschen. Als er einen Schritt auf das Mädchen zu tat, spürte er die Hitze, der er nicht standhalten konnte.
„Du kannst mich nicht berühren“, sagte sie ihm: „Und wenn die Sonne sinkt, ist meine Zeit vorbei.“
Cajun spürte das Drängen in seiner Brust. Er wollte die Zeit anhalten, die Sonne zurück auf den Himmel jagen, alles tun, dass der Zauber nicht verging.
„Was wird aus mir, wenn du gehst?“, fragte er.
„Du wirst zurückkehren und Cajun bleiben, Regenkind“, war die Antwort. „Die Erinnerung nur wird dir bleiben.“
„Das Leben wir nur noch ein blasser Nachgeschmack sein“, erwiderte Cajun: „Ein Schatten deines Leuchten.“
Er spürte das, wovon ihm so oft erzählt worden war. Friedlichkeit. Glück. Freude. Da war es, zum Greifen nah, und doch wusste Cajun, dass er so weit oben war, dass er danach nur noch fallen konnte. Er sah auf und zwang sich, direkt in das Licht zu sehen: „Wenn ich nur die Erinnerung habe, wird alles eine Qual sein. Du hättest mich früher rufen sollen!“
„Es ging nicht früher. Dir wird ein Hauch vom Paradies geschenkt, um dich in die Hölle zu stürzen“, erwiderte das Mädchen traurig: „So ist dein Schicksal, so steht es in deine Seele eingebrannt.“
Cajun fröstelte. Der Himmel färbte sich dunkler. Die Sonne sank, und mit ihr seine Hoffnung.
„Hast du einen Namen?“, fragte er das Mädchen im Licht.
„Ich trage den Namen, den du mir gibst“, antwortete sie.
Cajun überlegte: „Arastea bedeutet Tapferkeit in meiner Sprache.“
„Dann heiße ich Arastea, wenn du das wünschst.“
Sie sahen einander an, Cajun noch immer mit zusammengekniffenen Augen. Arastea bewegte die Arme, als müsste sie sich mit dem Namen auch an ein neues Gefühl gewöhnen. Sie streckte sich. Ihr Licht färbte sich langsam dunkler. Cajun konnte ihre elegante Gestalt erkennen, und den sanften Blick ihrer großen, traurigen Augen.
Sein Herz schlug schwer vor Trauer. Dieser Moment war so perfekt, so voller Glück, und er konnte nur daran denken, dass er bald enden würde.
„Ich liebe dich“, die Worte kamen über seine Lippen, ohne dass er es bewusst gedacht hatte. Fast erschreckte es ihn ein wenig. Doch Arastea reagierte nicht voller Schreck und wich nicht zurück.
„Ich liebe dich auch, Regenkind. Deshalb sind wir verbunden. Deshalb müssen wir leiden.“
Cajun zitterte. Er trat an das Mädchen heran, suchte ihre Wärme. Berührte ihre Wange, obwohl seine Finger zu erglühen schienen.
„Tu das nicht“, bat sie ihn: „Es schmerzt dich nur.“
„Ich würde es bereuen, das nicht getan zu haben“, sagte Cajun: „Mein Leben lang habe ich nach einem Ausweg gesucht, nach Freiheit. Jetzt kann ich sie greifen, für einen Moment.“
Er betrachtete die glühenden Lippen, heiß wie Kohlen, schön wie Sonnenlicht. Die Hitze drängte ihn zurück. Doch er ging nicht so weit, dass er wieder frieren konnte.
„Die Sonne sinkt“, sagte Arastea. „Dann heißt es, Lebewohl zu sagen.“
„Du kehrst nicht wieder?“, fragte Cajun.
Arastea schüttelte den Kopf: „Wenn die Nacht beginnt, werde ich sterben.“
Cajun zögerte, rang mit sich selbst. Dann trat er vor: „Ich habe eine Bitte.“
Arastea sah auf. Ihre Gestalt wurde langsam sichtbar. Die Hitze verschwand. Doch Cajun spürte die Wärme noch. Das Versprechen, dass es irgendwo ein Paradies gab.
„Gib mir einen Kuss“, bat er, „damit ich es niemals bereuen werde.“
Arastea senkte den Blick. Lange Haare fielen vor ihr Gesicht: „Das wird deinen Schmerz nur vertiefen.“
„Wenn ich schon fallen muss, dann will ich springen“, sagte Cajun und streckte eine Hand vor: „Welches Leid auch kommen mag, ich werde es ertragen.“
Arastea trat vor und küsste ihn. Es war warm, voller Musik, süß und herrlich. Kein Traum, keine Melodie, kein Lachen war jemals so nah am Himmel. Cajun trank und ertrank und schloss die Augen.
Er fiel. Bittersüß war der Abschied. Tränen sangen vom Regen, und davon, dass die Welt danach nur noch in Schwärze fallen konnte. Der Kuss war lang, flüchtig, ein Traum. Und Arastea starb, wurde blass und wurde Nichts.
Der Kuss wurde nicht abgebrochen und spürte Cajun, wie seine Liebe verging. Wie sie ihn in der Nacht zurück ließ, mit der Strafe, dass er sie kennen, aber nie mehr erreichen würde.
Dunkelheit und Kälte. Das Regenkind blieb allein zurück, und das Licht verblasste. Er war allein. Fern von seiner Heimat, fern von allen Wegen. Fern auch von der Gemeinschaft der Freude.
Endlich wusste er, was Glück war. Hatte es gekostet und er wusste, dass er niemals zurück konnte. Der Kuss war verblasst, gestorben, viel zu schnell. Nur ein Versprechen blieb auf seinen Lippen zurück.
Ein nächstes Leben. Ein neuer Traum. Eine weitere Begegnung, so zerrissen und trauerschwer wie die erste.
Der Kreislauf, Tanz der Sehnsucht, hatte begonnen.
Und Cajun fiel.