„Save me from Fear and Pain, and Love – come rain on me!“ *
Der Regen fiel in dicken Tropfen vom Himmel. Die Menschen eilten dahin, die Kapuzen in die Gesichter und die Schulter hoch gezogen. Viele waren gesichtslos unter Regenschirmen in schwarz, grau oder blau. Nur einer nicht.
Maurice trug keine Kapuze, keinen Schirm, keinen Hut. Der Regen perlte durch seine Haare und ließ ihr braun schwarz erscheinen. Die Tropfen fingen sich in seinen Wimpern, rannen über sein Kinn, gerieten in seine Nase, als würde er tauchen, durch eine Unterwasserwelt, in der die Hochhäuser verschwommene Riffe waren.
Und da geschah es zum ersten Mal. Wasser geriet in seine Ohren wie beim Tauchen, und etwas erklang darin, das nicht nur das Rauschen seines Blutes war. Eine Stimme. Ein Lied. Musik. Maurice blieb wie angewurzelt stehen, lauschte, doch das Geräusch verklang.
Er hielt es für eine Sinnestäuschung. Doch etwas in ihm hatte der Gesang berührt.
Und verändert.
Das Leben ging weiter. Maurice hörte den Gesang nicht wieder, und schließlich vergaß er ihn. Er arbeitete als Buchhalter, verrechnete lange Zahlenkolonnen und ging jedes zweite Wochenende mit Freunden zum Minigolf. Doch die Erinnerung nagte an seinem Bewusstsein, fraß sich langsam hinein, obwohl er sie nicht greifen konnte. Als der Herbst kam, begann es von Neuem.
Er saß am geöffneten Fenster und starrte in die kalte Nacht hinaus. Im Fernsehen lief ein Film, doch Maurice achtete kaum darauf, was auf dem Bildschirm geschah. Er fühlte sich erschöpft und müde. Vermutlich lag es nur daran, dass er zu viel arbeitete. Es wurde Zeit, dass er sich Urlaub nahm. Er hatte genug gespart, um nach Italien zu fahren, oder sogar weiter weg. Er würde Malta gerne wieder besuchen, dachte er sich. Täglich die gleichen Orte zu sehen, das hatte ihn zermürbt. Solche Gedanken beschäftigten ihn, als die ersten Regentropfen fielen.
Und diesmal hörte er ein leises Klingeln, wie von einem Glockenspiel. Maurice setzte sich auf, das Leder des Sofas knarrte unter ihm, und das Geräusch war nicht mehr zu hören, als hätte er es verschreckt. Schweigend lauschte er, den Mund halb geöffnet, aber der Laut erklang nicht mehr. War es vielleicht ein Tinnitus gewesen? Maurice hatte immer gut auf seine Ohren acht gegeben, um sie nicht zu schädigen, aber vielleicht war der Kampf in einer Großstadt hoffnungslos.
Er stand schließlich auf und schloss das Fenster, damit es nicht herein regnete. Als er sich hinsetzte und seine Aufmerksamkeit wieder aus den Film konzentrierte, wusste er plötzlich, wohin sein Urlaub gehen sollte.
Dänemark. Ans Meer. Campen. Fern von den Städten, fern von anderen Menschen. Er brauchte die Stille der Natur, um sich über ein paar Dinge klar zu werden.
Vielleicht begann seine Midlifecrisis. Maurice hatte sich niemals für einen komplizierten Menschen gehalten. Er war immer normal gewesen. Plötzlich kam ihm sein Leben sehr trostlos vor.
Um seinen Urlaub zu buchen, besuchte er einen Händler, der ihm verschiedene Wohnmobile anbot. Als Maurice erklärte, er wollte nach Dänemark, und das im Spätherbst, starrte ihn der Mann nur an. Es gab bestimmt bessere Reiseziele, versuchte es die Frau des Händlers zaghaft. Besonders für jemanden, der nie mit einem Wohnmobil im Urlaub gewesen war.
Ja, es gäbe Italien, Spanien, Frankreich, die Türkei, sogar Mallorca - aber dort würde es vor Touristen wimmeln, und deshalb kam es für Maurice nicht in Frage. Er wollte Wälder, zerklüftete Riffe, nein, ein Badestrand nun wirklich nicht.
Er suchte sich ein Wohnmobil aus, einen kleinen Wagen, dessen Kühler vorne so geschwungen war, dass er ein verschmitztes Lächeln zeigte. In zwei Wochen wollte er kommen, um den Wagen zu mieten.
Wochen verstrichen. Im Herbst verloren die wenigen Bäume schnell ihre Farbe. Statt rot und gelb und orange wurden ihre Blätter nur braun, schien es Maurice. Sogar die Scheiben seines Büros schienen blind zu werden. Seine Augen wanderten immer öfter zur Uhr, und er zählte die Stunden, bis er endlich los fahren würde.
Die Zeit dehnte sich aus. Sie verstrich so langsam, dass sie stehen zu bleiben schien. Endlose Kolonnen von Zahlen tanzten vor ihm, und Maurice wurde müde. Er schlief abends vor dem Fernseher ein, das Fenster noch geöffnet, und erwachte morgens, den Rücken schmerzend vom krummen Liegen, eine Pfütze Regenwasser auf seinem Teppich, erkältet und von dem traurigen Schatten eines vergessenen Traumes erfüllt.
Dann sprach er mit seinem Chef und nahm sich zwei Wochen Urlaub. Zwei Wochen, dachte er sich. Genauso lange hatte er nun schon gewartet. Und die Zeit schien ihm zu lang zum Warten und zu kurz für einen Urlaub. In den letzten Tagen packte er. Er rief den Händler an und fragte, ob "sein" Wohnmobil noch da wäre.
Ja, hieß es. Es war keine Camping-Saison. Maurice brütete über Landkarten von Dänemark wie ein General über dem Schlachtplan. Er suchte die abgelegensten Orte, so weit, dass sie in einer anderen Welt liegen könnten.
Zwei Wochen ohne Menschen. Ganz auf sich gestellt. Er fragte sich, woher er plötzlich den Mut für eine solche Reise nahm. Ihm fiel keine Antwort ein. Er wollte etwas erleben. Eine Geschichte, die er später erzählen könnte.
Er kaufte genug Lebensmittel. Verbandszeug, einen Holzvorrat zum Feuer machen, eine Signalpistole, Ratgeber zum Überleben in der Wildnis und so viel nützlichen Kleinkram, dass er am Tag selbst, als es los gehen sollte, kaum die Hälfte in dem Wohnmobil unter bekam.
Also packte er das Meiste aus. Er trennte sich von keinem Lebensmittel, aber von fast allem anderen. Als letztes stand er in seiner Wohnung, wo mehrere gepackte Taschen standen, die hier auf ihn warten würden. Er kontrollierte, ob alle Wasserhähne zu waren, die Heizungen ausgestellt, die Fenster geschlossen, dann atmete er im Flur ein letztes Mal durch - und legte sein Handy auf die kleine Kommode, schloss ab und steckte den Schlüssel tief in seine Tasche.
Er saß am Steuer und drückte den Fuß endlich auf das Gaspedal. Ein fremdes Auto. Steuerknüppel, Sitz, Lenkrad - alles war ungewohnt. Schon fühlte er sich wie ein neuer Mensch und fuhr los. Die alte Frau aus der Wohnung über ihm starrte ihm kopfschüttelnd nach.
Ein Abenteuer. Jetzt begann es.
Dänemark war voller Regen. Dazu kamen unzählige Kreisverkehre, dabei hasste Maurice Kreisverkehre. Nach den ersten Stunden hinter der Grenze fühlte er sich schon zermürbt und müde. Er suchte die Schilde an der Autobahn nach einem Campingplatz ab und stellte fest, dass Dänisch von Deutsch nicht so verschieden war. Überall waren nur Parkplätze, wo er nicht übernachten durfte.
Maurice fuhr, bis er endlich einen Parkplatz fand, wo es ihm nicht ausdrücklich verboten wurde. Er fühlte sich wie ein Krimineller auf der Flucht, als er sich in der kleinen Kabine im Dach des Wohnmobils hinlegte, unter einer Glasscheibe wie Schneewittchen in seinem Sarg.
Die Sterne glitzerten über ihm und Regen prasselte auf das Dach, bis ihm die Augen zufielen. Maurice schlief. Und diesmal waren seine Träume stärker.
Er hörte Gesang, obwohl er die Worte nicht verstand. In seinem Traum regnete es weiter, die ganze Nacht durch, und als er am Morgen mit trockenem Mund im hellen Sonnenschein erwachte, war er verwirrt. Den Traum hatte er fast sofort vergessen. Aber eine Erinnerung blieb.
Musik. Er hatte Musik gehört.
Seine Reise ins Landesinnere dauerte an. Er folgte den Autobahnen, in gemütlichen 80 km/h, bestaunte die karge Landschaft, als sei sie einem Gemälde entsprungen. Ab und an regnete es, teilweise so stark, dass er am Straßenrand parken musste. Dann blätterte er in Reiseführern. Wasser auf Dänisch hieß Vand. Wenn man den dichten Regen betrachtete, wusste man auch um den Ursprung dieser Bezeichnung. Graue Wände schoben sich an Maurice vorbei, selbst wenn er fuhr. Manchmal stieg er auf dme Parkplatz einfach aus dem Wohnmobil und fing die dicken Tropfen mit der Zunge.
Sie schmeckten salzig. Sie weckten etwas in ihm, das lange geschlafen hatte.
Und dann wurde sein Fuß auf dem Gas schwer, und er konnte es kaum noch erwarten, in dem Flecken Wildnis anzukommen, den er sich als Ziel erwählt hatte. Zwei Tage, dann war er da, am Abend, als es dunkel wurde und er den Weg kaum noch sehen konnte, selbst mit dem Licht angeschaltet. Der Wagen rumpelte durch Matsch und über Wurzeln, bis Maurice sich entschließen musste, anzuhalten. Vor ihm lag nur noch Schwärze.
Er lag wieder in seinem Bett, träumte von Regen und Musik, und von nichts anderem. Sein Bewusstsein zog sich um den Klang des Regens zusammen. Maurice konnte die Melodie mit summen, doch als er erwachte, wusste er nichts mehr von ihr.
An diesem Morgen stieg er aus und sah, dass er in der Nacht ganz nah an eine Klippe herangefahren war. Nur einen Meter vor den Vorderreifen ging es steil hinunter ins Meer. Maurice schluckte, bevor er sich umsah und befand, dass er trotzdem den besten Platz ausgesucht hatte.
Direkt am Meer, auf einer kleinen Lichtung im Wald. Bei Tageslicht hätte er nicht besser parken können. Er summte und dankte seinem Glück dafür, keinen Unfall gehabt zu haben. Da war die erste Geschichte, die er einmal erzählen würde.
Er packte die Markise aus und baute sich mitten in der Wildnis ein kleines Heim. Tisch und Stuhl, eine Matte gegen den Schlamm und Seile, die das Wohnmobil sicherten. Er saß in dem Stuhl, blicke auf das weite, weite Meer hinaus und fror trotz schwerer Jacke.
Denn nun hörte er wieder die Stimme im Wind, und dieses Mal konnte er es nicht als Halluzination abtun. Ein Gesang, Worte, die er nicht verstand. Erschrocken sprang er auf, doch da verstummte das Lied. Und Maurice verstand, dass er lauschen musste, denn ansonsten würde er diesen Ort nicht mehr verlassen können. Körperlich vielleicht, aber im Geiste würde er immer bleiben. Er verstand das Lied als Grund seiner Probleme. Wenn er entkommen wollte, musste er bleiben.
Leichter gesagt, als getan.
Den Rest des Tages schien die Sonne, und so sehr Maurice auch lauschte, so sehr er vorgab, mit etwas anderem beschäftigt zu sein, er hörte das Lied nicht mehr. Abends aß er eine aufgewärmte Dosensuppe, viel zu beschäftigt, um sich noch an seinem Leben in Freiheit zu erfreuen. Sorgenfalten durchzogen seine Stirn wie Schluchten. Etwas war geschehen. Etwas veränderte ihn. Das machte ihm Angst.
Die Nacht war still. Kein Regen. Kein Lied. Maurice erwachte mit einem Gefühl der Leere. Er aß wenig und dann ging er hinaus, kletterte die Klippen hinab und lauschte dem Meer.
Ein einzelner, einsamer Felsen stand draußen im Meer. Ein Schauer überfuhr Maurice, als er an alte Legenden denken musste, von Meerjungfrauen und Sirenen. Er fürchtete plötzlich wider jede Vernunft, von einem Zauber besessen zu sein.
Da ertönte das Lied wieder in den ersten Regentropfen. Maurice erstarrte, nur um die klarte Stimme einer Frau zu vernehmen. Er spürte, dass es dieses Lied war, dass ihn veränderte.
Die Erinnerung durchzuckte ihn wie ein Blitz. Er wusste plötzlich, wie oft er das Lied gehört hatte. Es hatte ihn her geführt.
Panisch ergriff er die Flucht.
Als das Wohnmobil vor einer kleinen Tankstelle vorfuhr, war es dunkel. Maurice stand aus, tankte voll, und rechnete im Kopf aus, dass es nicht mehr weit bis nach Hause wäre. Morgen könnte er ankommen, wenn er keine Pause machte, und ihm war nicht danach, zu schlafen.
Als er in das Haus ging, um zu zahlen, sich die übermüdeten Augen reibend, spielte gerade ein Lied über die Lautsprecher. Keines der Lieder, die im Radio liefen, die kannte Maurice dank seiner Reise inzwischen auswendig. Nein, es war ein anderes.
Und obwohl die Musik gänzlich anders war, und die Worte Englisch, wusste er, dass es das Lied aus dem Regen war, wenigstens teilweise.
Und er hörte die Stimme, die rief: "Save me!"
Rette mich.
Beinahe hätte er sich, ohne zu zahlen, in das Mobil geworfen und wäre zurück gefahren, gegen die Richtung der Autobahn. Doch er beherrschte sich, zahlte mit zitternden Fingern und fuhr bis zur nächsten Ausfahrt und wendete dort.
Die ganze Zeit wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Er verstand es nicht. Aber er wusste, er musste auf das Lied antworten, oder er würde es immer bereuen.
Vollkommen fertig fuhr er. Die Lichter der Autos um ihn herum wurden lang, die Zeit wurde zäh. Er spürte Sekundenschlaf kommen, aber er konnte nicht halten. Sein Herz schlug wild. Er hatte eine Mission.
Er konnte kaum geradeaus gehen, als er den Platz erreichte und aus dem Wagen sprang. Es war dunkel. Er wusste nicht, wo er war, nicht wirklich. Es gab keinen Anhaltspunkt, kein Leuchten. Trotzdem hätte er geschworen, an eben jenem Punkt zu sein, an dem er auch vorher geparkt hatte.
Einen Schritt vor der Klippe.
Es regnete so heftig, dass das Gewicht der Tropfen ihn nieder drückte. Er sank auf die Knie, erschöpft, am Ende. Alles war nur noch graues Wasser. Eine ertrunkene Welt.
Da hörte er das Lied wieder. Diesmal floh er nicht. Er hörte zu.
Worte in einer fremden Sprache, die er nicht kannte und dennoch verstand. Er verstand ihren Sinn.
„Rette mich. Ich fürchte mich und die Welt ist kalt.“
„Was muss ich tun?“, antwortete er, leise, ängstlich.
„Befreie mich. Befreie dich. Der Kreislauf wird uns zerstören“, antwortete die Stimme, bittersüß, todtraurig.
Sie wusste etwas, das er ebenfalls gewusst hatte. Eine verborgene Wahrheit.
Er streckte eine Hand in den Regen, um etwas zu fassen. Jemanden zu fassen.
Nichts. Nur Wasser.
„Rette mich.“
„Wie?“
„Lass mich los.“
In diesem Moment verstand er. Obwohl er nicht verstehen konnte. Das Wissens stieg tief in ihm auf.
Zwei Namen.
Einsam.
Und Tapfer.
Ein ewiger Tanz im Tod, weil sie zueinander drängten, statt einander loszulassen.
Das wäre ihre Befreiung. Loslassen und einander den Rücken kehren.
„Lass dich los“, flüsterte die Stimme weiter: „Lass uns los.“
Er würde zurückkehren zu seinen Zahlenkolonnen, zu einer Frau, die ihn lieben würde, zu einer Zukunft mit Kindern, Hoffnung, Ewigkeit.
Oder er hielt an dem verzweifelten, sinnlosen Tanz fest. Leben um Leben ohne ein Ziel, außer jenem, das so viel Leid brachte.
Als ihre Tränen fielen, wusste er um seine Antwort. Sie hatte es vor ihm gewusst. Es gab kein Glück für sie, auf keinem der Wege.
Liebe oder Leben?
Maurice sprang nach vorne und der Regen weinte um ihn.
*“Save me“ ~ Globus