„So tretet denn ein in den Kreislauf, verknüpft eure Schicksale und leidet gemeinsam.“
Die Welt war leer und dunkel, als Sean und Bellaconealy die Augen aufschlugen.
Ihre Hände fanden einander sofort, als seien sie zwei Magneten, die sich anzogen.
Langsam standen sie auf. Der Boden war glatt und kalt, es wehte kein Wind und es war still.
„Ich kann nichts sehen“, flüsterte Bell.
„Ich auch nicht“, beruhigte Sean sie und hielt ihre Hand: „Keine Angst.“
Streng genommen kannten sie einander nicht. Sie waren zwei Fremde, aufgewacht an einem Ort, den sie nicht kannten. Doch sie waren einander schon vertraut. Als hätten sie Unendlichkeiten und Ewigkeiten miteinander verbracht.
„Ihr solltet euch aber fürchten“, widersprach eine dritte Stimme und in der Dunkelheit leuchtete ein helles Licht auf.
In diesem Schein tauchte das hagere Gesicht des Zauberers aus der Dunkelheit auf, die Augen hell vom Wahnsinn. Bell stieß einen leisen Schrei aus und machte einen Schritt hinter Sean, der den groß gewachsenen Zauberer anblickte.
„Wir fürchten dich nicht!“
Der Griff ihrer Hände war fest.
Der Zauberer lachte: „Ich habe selten eine offensichtlichere Lüge gesehen.“
Er trat auf sie zu, und die Liebenden wichen zurück. Kichernd blieb der Zauberer stehen: „Ich habe ein Angebot für euch. Für Bellaconealy, um genau zu sein.“
Der alte Fluch über die Namen schien aufgehoben in dieser seltsamen Welt. Nichts geschah, als der Zauberer Bells Namen aussprach. Das machte sie mutiger.
Sie trat hinter Sean hervor: „Und was soll dein Angebot sein?“
Der Zauberer kicherte leise. Seine Augen blitzen: „Mein Hass richtet sich gegen Sean, nicht gegen dich. Ich biete dir an, dich zu befreien. Du kannst in deine Welt zurückkehren, deine Tante in der Stadt besuchen, dort ein neues Leben anfangen. Du kannst deine Geschwister wieder sehen, einen anderen Mann finden, ein normales Mädchen sein.“
Bells Blick verdüsterte sich: „Niemals!“
„Dann willst du weiter dafür sorgen, dass Sean noch mehr leidet als sonst?“, fragte der Zauberer.
Bell sah zu ihm.
Ja, er litt. Jedes Mal, wenn sie gestorben war, hatte Sean gelitten. Liebe war ein furchtbares Druckmittel. Ihr Versuch, ihm zu helfen, hatte alles viel schlimmer gemacht.
Sie sah in seine Augen und versuchte, zu erraten, was die richtige Wahl war.
„Du willst ihn nicht alleine lassen. Das sehe ich“, sagte der Zauberer. Er kam näher: „Ich habe zu dem Vertrag noch etwas hinzuzufügen: Ich werde Seans Strafe als erfüllt ansehen, wenn du gehst, Bellaconealy. Du wirst zurückkehren und ihn vergessen. Er wird in seine Welt zurückkehren, mit der Erinnerung an eure Zeit. Meine letzte Strafe an ihn ist, dass er die Erinnerung behalten wird – aber er wird frei sein.“
Ihre Blicke trafen sich in dem schwachen Licht. Sie wogen ab – ihre eigene Verzweiflung gegenüber dem, was für den Anderen das Beste war.
Sie konnten den Fluch beenden. Jetzt und hier. Dann wäre alles vorbei.
Sie verständigten sich ohne Worte. Vergessen oder Leiden. Liebe oder Freiheit.
Was war richtig? War das Angebot des Zauberers eine Gnade oder eine List? Was wäre die selbstsüchtige Entscheidung?
Sean fürchtete die Antwort. Bell dagegen fasste seine Hand fester.
Und sie sagte ihm, ohne Worte, was die einzige Antwort wäre. Die einzige Möglichkeit, den Fluch zu beenden, der einzige Preis, den sie zahlen konnten.
Liebe kann, genau wie Hass, vernichtend sein. Liebe und Hass machten gleichermaßen blind.
Der Zauberer war geblendet durch den Hass. Sean und Bell dagegen konnten klar sehen.
Dieser Ort hatte mit einem Mal keine Geheimnisse mehr vor ihnen, als ein goldenes Leuchten um sie erschien.
Sie standen auf einer Platte aus absoluter Schwärze, die ohne Halt in einem endlosen Raum schwebte. Ein Zwischenraum, eine Waage im Limbus. Sean und Bellaconealy gaben dem gefährlichen Zauberer ihre Antwort.
Sie ließen einander nicht los, als sie nach hinten gingen. Die Waage neigte sich.
„Wartet …!“, rief der Zauberer mit plötzlicher Angst.
Doch sie warteten nicht. Sean und Bell ließen sich rückwärts von der Waagschale fallen. Das war ihre Antwort: Sie würden gemeinsam leiden, bis in alle Ewigkeit.
Im gleichen Moment sauste auch die Schale des Zauberers nach unten.
Der Fall würde ihn töten. Selbst, wenn es keinen Boden gab – sein Schrei machte klar, dass die Unendlichkeit ein schlimmeres Los war als tausend Tode.
Sie hatten verstanden: Das Böse, das der Zauberer darstellte, konnte nur solange überdauern, wie es Menschen gab, die auf seine Einflüsterungen hörten. Der Zauberer lebte vom Überlebenstrieb seiner Opfer, nie hätte er damit gerechnet, dass sie das Leid wählen würden.
Ihr Mut machte seine Intrigen zunichte.
Sean und Bell schlossen die Augen und erwachten an einem anderen Ort, als die schwarze Welt verschwand.
Sie lagen auf einem Waldboden. Sonnenschein fiel gesprenkelt durch die Blätter über ihnen. Die Luft war warm und roch nach Honig. Es war Sommer.
Bell setzte sich zuerst auf. Sean lag auf dem Rücken, so, wie er vor wenigen Herzschlägen und unendlichen Leben gefallen war, und zog die klare Luft tief ein.
Bell erkannte den Wald wieder. Hier waren sie das erste Mal gestorben. Sie waren gemeinsam zurückgekehrt. Nur eines war anders als damals: Der Zauberer war nicht da.
Sie half Sean auf die Beine: „Hoch mit dir, Einsamer!“
Er stand auf und sah sich um wie im Traum: „Wir leben noch!“
Sie umarmten einander. Es war, als wären die vielen Leben niemals gewesen, obgleich natürlich ihre Vertrautheit geblieben war. Der Schatten des Schmerzes lauerte irgendwo am Rande ihres Bewusstseins: Sie konnten sich an alles erinnern. Die Narben auf ihren Seelen würden vielleicht niemals heilen.
„Wir sind zurück“, flüsterte Bellaconealy.
„Und der Fluch ist fort!“, sagte Sean mit Gewissheit: „Du hast uns gerettet.“
„Ich dachte, es wäre deine Idee gewesen“, flüsterte Bell leise.
Sie sahen einander an. Erinnerten sich an den Moment, als die Augen des anderen ihnen die Wahrheit verraten hatten. Wessen Idee war es gewesen? Vielleicht hatten sie nur die Liebe gebraucht, um den Weg zu sehen.
Sean nahm Bells Gesicht in beide Hände: „Bleib für immer an meiner Seite!“
Bell nickte: „Lass uns dieses Leben glücklich sein.“
„Und in allen, die folgen werden“, fügte Sean hinzu und küsste sie.
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!