„Wir dachten immer, wir hätten die Ewigkeit auf unserer Seite.“
Die weiße Limousine gleitet auf unsichtbaren Luftpolstern etwa eine Handbreit über der Straße. Das Gefährt wirkt wie ein Geist auf der menschenleeren Straße. Lautlos und weiß wie der Nebel, der noch dicht zwischen den Häusern hängt, unpassend in diesem Viertel, wo sich jeder glüchlich schätzen kann, wenn er ein eigenes Airbike hat.
Wenn ich nicht auf Jiol warten würde, hätte ich die Limusine wohl nicht bemerkt. Ich frage mich, ob das die Polizei ist, die eine Patrouille durch unser abgezäuntes Viertel fährt.
Als die Limousine direkt vor meinem Vorgarten hält, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Sie wollten uns doch erst heute Abend versammeln. Ein Tag sollte mir mit Jiol an meiner Seite bleiben!
Die Limousine hat schwarz gefärbte Fenster. Sanft schwebend und schaukelnd wartet sie vor dem kleinen Weg. Dann fährt die Hintertür mit leisem Surren auf. Dahinter wartet absolute Schwärze. Niemand steigt aus und ich kann nicht erkennen, ob dort jemand sitzt.
Ich schlucke. Also ist es wohl zu spät, um Abschied zu nehmen. Meine Tasche liegt gepackt auf dem Bett und ich schwinge den Tragriemen über die Schulter. Auf Wiedersehen, kleine Wohnung. Auf Wiedersehen, stilles Viertel voller Geister.
Bald steige ich in einen Zug und kehre nie zurück. Wie so viele vor mir. Dieses Viertel ist ja auch nur eine Zwischenstation.
Ich trete in die Kälte und schließe die Tür hinter mir. Abschließen kann man die EInheitshäuser in diesem Viertel nicht. In der offiziellen Erklärung heißt es, dass unsere Religion Diebstahl ja verbietet und wir deshalb keine Schlüssel brauchen. Da die Nahrung und vor allem Geld knapp ist, wird natürlich trotzdem gestohlen. Einem Diebstahl oder Mord in unserem Milieu geht ja keiner nach.
Ich gehe mit weichen Knien auf die Limousine zu. Der schmale Weg zwischen den hohen Lilien kommt mir unendlich lang vor. Die Öffnung des wartenden Autos verschluckt mich wie ein hungriges Monster.
Drinnen sitzt Niemand außer mir auf den mit Leder überzogenen Sitzen. Es ist kalt. Ich wage nicht, etwas zu berühren. Das alles kommt mir falsch vor.
Wie eine Falle.
„Ausweis“, verlangt eine schnarrende Stimme von vorne. Dort sitzt ein Fahrer, vielleicht auch nur ein Roboter. In der dunklen Trennwand ist nur ein winziger Schlitz. Ich zücke das zerfledderte Papier mit meinen Daten und der stilisierten Nelke des weißen Volkes. Jeder von uns muss, wenn er nicht der Göttin Istari abschwört, eine solche Nelke im Pass tragen.
Ich trage die Nelke mit Stolz. Das Symbol der Reinheit und des Friedens. Wir leben für die Frieden. Egal, was die Welt uns antut.
„Maia Nussholzbaum?“, schnarrt die Stimme.
Ich räuspere mich: „Ja.“
„Abtransport heute Morgen.“
„Äh. Eigentlich heute Abend“, versuche ich, meinen Tag mit Jiol zu retten. Ich will ihn noch einmal küssen, bevor der Zug mich fort bringt.
„Sie meinen, hier liegt ein Fehler vor?“, schnarrt die Stimme.
Mir bleibt fast das Herz stehen: „Nein! Nein, kein Fehler. Eine - eine geringfügige Täuschung vielleicht.“
Wenn ich nur besser mit Worten wäre. Falls ein Fehler vorliegt, würde man mich vor den obersten Richter bringen. Das muss ich verhindern.
„Wir können auch fah-“, setzte ich an und unterbreche mich, als ich ein vollkommen unerwartetes Geräusch höre.
Lachen?!
Der Roboter vor mir lacht, nur, dass seine Stimme ganz anders klingt. Menschlicher.
„Hast du mir das echt abgekauft, Süße?“, fragt die Stimme von vorne.
Ich bin vollkommen verwirrt: „Was...?“
Die dunkle Scheibe fährt leise herunter. Dahinter beugt sich Jiol mit bebenden Schultern über das Lenkrad.
„Jiol!“, schreie ich. Auf die Überraschung folgt Erleichterung - und ein bisschen Wut. Ich beuge mich vor und schlage auf seinen Rücken: „Was sollte das? Ich habe den Schreck meines Lebens bekommen!“
„Nein, nein, kein Fehler!“, äfft der Idiot mich nach und prustet schon wieder los: „Dein Gesicht, Maia! Göttlich!“
„Du bist so ein Idiot!“, ich schlage ihn nochmals, nicht fest. Irgendwie muss ich auch grinsen: „Mach das nie wieder!“
„Heute nicht mehr“, sagt Jiol.
Ich werde sofort ernst. Unser letzter Tag. Ob wir uns danach jemals wieder sehen werden?
Jiol bemerkt meinen Stimmungswechsel. Er startet die Limousine und lässt sie vorwärts gleiten, bevor er sagt: "Denk nicht an heut' Abend. Heute haben wir noch Spaß."
"Morgen ist Morgen", murmele ich und nicke.
Jiol grinst schon wieder: "Wohin zuerst, Frau Nussbaumholz? Teures Restaurant? Ein Flug über die Skyline? Heute ist alles möglich!"
„Woher hast du eigentlich die Limousine“, fragte ich.
„Geliehen“, sagt Joil mit so unschuldiger Stimme, dass ich sofort Verdacht schöpfe.
„Sag mir, dass du sie nicht von der Polizei geliehen hast!“, verlange ich.
„Ock. Ich sage nichts“, sagt Jiol und ich verdrehe die Augen.
„Lehn dich zurück, Süße“, sagt er: „Heute werden sie uns nicht kriegen.“
Als Erstes an diesem Tag fahren wir essen. Ich habe noch immer ein flaues Gefühl im Magen vor Aufregung. Außerdem habe ich ein schlechtes Gewissen, als ich die Preise sehe. Jiol versichert mir aber, dass ich mein Geld ab morgen sowieso nicht mehr nutzen kann und mir deshalb ein gutes Frühstück gönnen darf.
Wir essen. Jiol macht Witze und Scherze, und schließlich muss ich einfach lachen. Die Bedienungen sehen uns seltsam an, wir sind die einzigen Gäste. Das Restaurant wird sonst nur von der Polizei oder den Reichen besucht. Nicht von Abschaum wie uns.
Aber weil Jiol so aufgedreht ist, kann ich das alles vergessen. Ich übersehe sogar die Wachen, die an jeder zweiten Straßenecke stehen, die Gewehre schussbereit, als wir das Restaurant verlassen und die Menschen in dem Viertel aufstehen.
Jiol fährt mich durch die halbe Stadt, immer unter den neugierigen, ängstlichen und verwirrten Blicken derjenigen, die auf den Straßen gerade ihre Stände aufbauen und diverse billige Sachen anbieten, um so irgendwie über die Runden zu kommen. Es ist ein seltsames Gefühl, wie die Menschen vor uns fliehen. Eigentlich gehöre ich doch zu ihnen, und Jiol ebenso. Aber durch die abgedunkelten Scheiben werden wir zu Göttern.
„Wohin als Nächstes, Maia?“, fragt er mich und hat bereits dieses Lächeln um die Lippen.
Ich beuge mich vom hinteren Teil der Limousine vor und schenke ihm einen strengen Blick: „Du hast doch schon was geplant, oder?“
„Natürlich“, er grinst, „Heute läuft im Theater eine Sondervorstellung: „Die Eiserne Jungfrau“!“
„Waaaas?“, rufe ich aus: „Das Theater ist doch geschlossen!“
„Heute nicht“, widerspricht Jiol: „Ich habe alle zusammengetrommelt.“
Ich starre ihn an. Er hat eine Inszenierung meines Lieblings-Theaterstückes veranlasst? Von welchem Geld?
„Wie – du musst doch auch noch ohne mich hier leben, Jiol!“, protestiere ich: „Du darfst nicht dein ganzes Erspartes wegwerfen!“
„Ach, ein paar Leute schuldeten mir noch einen Gefallen“, winkt er ab: „Und denk an unsere Regel, Süße: Es gibt kein Morgen.“
Ich lasse mich auf meinen Sitz fallen und schüttele den Kopf. Ich sollte Jiol sagen, das sich heute keine Komödie sehen will. Aber gleichzeitig bin ich gerührt.
„Hinten liegt übrigens Kleidung für dich“, sagt Jiol grinsend. Ich habe mich schon gewundert, warum er im Anzug herum läuft und woher er den hat. Als ich das Päckchen im hinteren Teil des Wagens finde und öffne, bleibt mir die Luft weg.
Wir fahren bis vor das Theater und Jiol steigt zuerst auf, um mir die Tür zu öffnen. Ich steige aus, in einem langen, glänzenden Kleid aus Seide. Ein roter Teppich führt in das Theater, mehrere Menschen stehen jubelnd am Rand und winken.
Ich fühle mich, als würde ich auf Wolken schweben. Jiol hält meinen Arm und führt mich ins Theater. Wir bekommen die besten Sitze, aber der Raum ist überfüllt. Aufgeregte Menschen schwatzen. Ich sehe Jiol an: „Hast du die halbe Stadt eingeladen?“
„Alle, die Lust haben“, erwidert er schulterzuckend.
Als der Vorhang fällt, kehrt absolute Stille ein. Ich kann jeden Schritt der Schauspieler auf der Bühne hören – bis der Lärm anfängt, denn die „Eiserne Jungfrau“ beginnt mit einem Fest, auf das der Angriff eines Drachen folgt.
Die Schauspieler geben sich alle Mühe. Das Publikum lacht, sogar wenn ein Witz misslingt. Es ist eine fast magische Atmosphäre – jeder ist so gut drauf. Es ist, als wären wir wirklich in einem anderen Königreich, fernab von allem, was die Realität ist.
Als wir das Theater verlassen, drücke ich mich eng an Jiol: „Wir sollten unseren letzten Tag wirklich nutzen. Alleine.“
Jiol grinst und küsst mich: „Präsidentensuite?“
Ich nicke und kann es kaum erwarten.
Das teuerste Zimmer beinhaltet ein wunderbar, weiches Federbett. Von dem Rest der Einrichtung kriege ich nicht mehr viel mit, nur das Gold an dem Edelholz des Bettpfostens fällt mir zwischendurch mal auf. Außerdem scheint das Bettzeug aus Satin zu sein.
Irgendwann schmeißen wir die Bettdecke raus, denn so Satin kann ganz schön warm sein, wenn man sich darunter bewegt.
Später liege ich nackt in dem großen Bett, während Jiol die Minibar plündert und uns den besten Sekt aufmacht. Er füllt zwei Gläser: „Auf den letzten Tag.“
„Auf den letzten Tag“, erwidere ich und denke längst nicht mehr daran, dass man vor dem Mittagessen nicht trinken sollte.
Eine Flasche Sekt später fahren wir wieder durch die Straßen zu einem der vielen gestrandeten Schiffe, zwischen denen die Siedlung des weißen Volkes liegt. In diesem Schiff wurde ein Restaurant errichtet, das ebenfalls teuer ist. Aber es lohnt sich, denn wir sitzen auf dem Sonnendeck und starren über die Dächer der Häuser und über den Zaun hinweg zu der Stadt der Reichen. Hier oben ist die Luft frisch. Ich kann sogar die Schienen sehen, die in die Berge führen.
Diesmal sind Gäste mit im Restaurant. Sie alle sind reich und halten angewidert Abstand zu uns. Aber Jiol und mir ist das egal. Wir lachen und scherzen und werfen am Ende sogar mit dem Essen um uns. Eine Kaviarschlacht. Allein das Geld, dass dabei verloren geht, macht den Spaß noch größer.
Bevor der Kellner mit der Rechnung kommt, flüchte ich mit Jiol durch den Hintereingang.
Am Heck des Schiffes zieht er eine Sporttasche aus einem versteckten Winkel zwischen den alten Maschinen.
„Willst du fliegen, Süße?“
„Klar!“, rufe ich.
Er zieht zwei Hangglider aus der Tasche und führt uns wieder nach oben. Dort schnallt er uns beiden die Flügel um und stellt sich auf das Geländer. Ich klettere neben ihn und fasse seine Hand. Man sucht uns noch auf dem Schiff, einem wahren Koloss aus Metall. Wir stehen hoch über den Häusern. Mir wird ein wenig schwindelig, doch als Jiol sich nach vorne fallen lässt, folge ich ihm ohne Zögern.
Fliegen ist noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe. Als ich falle, macht mein Magen einen Satz. Doch Jiol hält meine Hand und stabilisiert unseren Sturzflug, bis wir durch den Himmel gleiten.
Ich lache übermütig. Die Welt liegt so winzig unter mir. Ich fühle mich, als würde dieser Tag ewig dauern. Die Luft ist warm, auch so weit oben. Der Smog liegt tief unter uns, und Jiol zeigt mir, wie ich kreisen muss, um weiter aufzusteigen.
Wir fliegen so hoch wir können, höher als die Berggipfel. Hier oben ist man einsam. Aber Jiol ist bei mir. Wir steigen höher, bis die Luft dünn wird.
Wie zwei Vögel umkreisen wir einander, lassen uns fallen, steigen auf. Das ist grenzenlose Freiheit. Ich wette, wir könnten bis zum Ende der Welt fliegen, wenn nicht die Luftwaffe wäre, die uns sofort abschießen würde.
Als wir endlich wieder auf den Boden kommen, wird es Abend. Eine letzte Überraschung hat Jiol für mich, denn wir landen mitten auf der größten Party, die ich je gesehen habe.
Unzählige Menschen sind hier versammelt und empfangen uns mit knallenden Champagnerkorken. Ich lande mit Jiol und sofort werden uns unzählige Cocktails gereicht. Laute Musik dröhnt über den Platz und alle tanzen so wild, dass mein Magen vom Zusehen Salti schlägt.
Jiol nimmt meine Hand und wirbelt mich herum. Konfetti und Luftschlagen füllen die Luft. Ich werde im Kreis herum gewirbelt. Jiol lässt mich die ganze Zeit nicht los. Es ist wie ein großer Rausch. Überall nur lachende Gesichter. Ein Traum. Als wären dies Zeiten des Friedens.
Es ist nicht, bevor die Musik urplötzlich abbricht, dass ich den Platz erkenne, auf dem wir stehen.
Es ist der Platz, von dem der Zug abfahren soll. Inzwischen ist es dunkel, das einzige Licht stammt von Feuerwerksraketen und brennenden Geldscheinen. Aber trotzdem sehe ich, dass die schweren Tore in der hohen Mauer, die den Bahnhof einfasst, geschlossen sind.
Es wird still. Alle Menschen erstarren. Sie sehen zu den Schienen, erwarten, dass der Zug kommt.
„Jiol!“, rufe ich in der Stille: „Du musst gehen! Oder sie nehmen dich mit!“
Niemand, der die Tore einmal durchschritten hat, kommt wieder zurück. Jeden Tag werden tausende durch die Tore geführt, und die schlagen zu wie Grabdeckel. Dann soll der Zug kommen, doch niemals hat jemand aus dem weißen Volk einen Zug auf den Schienen zu den Bergen gesehen. Stattdessen hört man manchmal, gedämpft, da dicke, hohe Mauern dazwischen sind, Schreie und Schüsse von diesem Platz her.
Plötzlich ist die Angst wieder da, die ich den ganzen Tag verdrängt habe: „Jiol! Du musst gehen! Jetzt! Oder sie töten dich!“
Meine Stimme klingt hysterisch über den Platz. Die Tore sind zu. Alle drängen sich zusammen. Sie ganze Zeit schon haben wie mit dem Rücken an der Wand getanzt.
In der Mauer sind Türen. Die Mauer selbst ist ein ringförmiges, schmales Gebäude. Jetzt öffnen sich die Türen, kleine Öffnungen weit über uns, und dort tauchen Soldaten auf, die Waffen blinken rot und zeigen an, dass sie jetzt tödlich sind.
Ich sehe Jiol an: Er wird sterben! Morgen wird von ihm nicht mehr übrig bleiben als schwarzer Qualm, von dem uns erzählt wird, er gehöre zu dem Zug.
Jiol lächelt mich an. Ich sehe Tränen in seine Augen.
„Ich werde nicht ohne dich leben, Süße“, er fasst meine Hände: „Jetzt steigen wir in den Zug und fahren nach Utopia.“
„Es ist eine Lüge!“, hauche ich.
„Heute nicht“, sagt Jiol: „Heute ist es wahr.“
Ich schließe die Augen, als er mich küsst. Die Gewehrschüsse klingen beinahe, als wäre die Musik zurückgekehrt. Tausende von Kugeln sieben durch die Menge, die laut kreischen mitsingt.
Jiol hält mich. Durch ihn wird es hell und warm, die Realität wird eine andere. Wir stehen zusammen am Bahnhof, kurz davor, in den Zug zu steigen.
Solange, bis eine der Kugeln durch unseren Kuss fährt und uns trennt. Aber dann sind die Schmerzen schon der Dunkelheit gewichen und es spielt keine Rolle mehr. Heute nicht.