„Und ein Stein, der tief geborsten, hält mich nicht vom Fliegen ab.“*
Es war einmal, vor langer, langer Zeit, in einem weit, weit entfernten Land, da liebte ein Junge ein Mädchen.
Der Junge war ein Bauernjunge, der jüngste von drei Söhnen. Das Mädchen war eine Müllerstochter und sie hatte zwei ältere Schwestern. Die beiden Familien verstanden sich gut. Der älteste Sohn des Bauern hatte die älteste Tochter des Müllern geheiratet, und der zweitälteste Sohn des Bauern die zweitälteste Tochter des Müller. Auch der jüngste Sohn und die jüngste Tochter sollten einander heiraten, wenn sie alt genug waren. Weil sie beide im gleichen Alter waren, verbrachten sie viel Zeit miteinander, und sie mochten sich sehr. Die Häuser des Bauern und des Müllers lagen gleich weit entfernt von einem kleinen Bach, und an diesem Bach trafen sich der jüngste Sohn und die jüngste Tochter jeden Tag. Wenn der eine zu früh war, musste er nur wenig warten, bis der andere kam.
Doch in dem fernen Land herrschte ein böser Zauberer, und der Zauberer hasste den jüngsten Sohn und die jüngste Tochter. Und damit sie unglücklich waren, wollte er ihre Heirat verhindern.
Der jüngste Sohn und die jüngste Tochter mochten einander aber sehr. Der Zauberer war jedoch mächtig, und so ersann er eine List, um die beiden Liebenden zu täuschen.
Er nahm die Gestalt des jüngsten Sohnes an und wartete in dieser Gestalt an dem kleinen Bach, bis die jüngste Tochter kam. Sie glaubte, er wäre ihr Freund und schöpfte keinen Verdacht. Sie gingen gemeinsam in die Wälder und spielten, wie es auch der jüngste Sohn und die jüngste Tochter getan hätten. Der Zauberer lockte die jüngste Tochter tiefer und tiefer in die Wälder, die keinen Verdacht schöpfte, weil sie glaubte, dem jüngsten Sohn zu folgen, dem sie blind vertraute.
Der jüngste Sohn aber musste feststellen, dass die jüngste Tochter nicht wie jeden Tag auf ihn gewartet hatte und auch nicht kam, als er auf sie wartete. Schließlich ging er traurig nach Hause und glaubte, sie habe ihn vergessen.
Die jüngste Tochter folgte immer noch voller Vertrauen dem Zauberer, den sie für den jüngsten Sohn hielt. Der Zauberer jedoch belog sie. Er erzählte ihr, er wolle von Zuhause fort und mit ihr fliehen. Damit sie jedoch gemeinsam fliehen konnten, hatte er einen Plan erdacht: Die jüngste Tochter sollte voraus laufen, weit und tief in die Wälder fliehen, und nicht zurück sehen. Er würde ihr drei Tage später folgen, damit Niemand Verdacht schöpfte, er würde sie in den Wäldern finden und sie würden gemeinsam weiter fliehen.
Die jüngste Tochter willigte ein, obwohl es ihr leid tat, ihren Vater und ihre Schwestern zu verlassen. Und so schickte der Zauberer in Gestalt des jüngsten Sohnes sie vor, damit sie tief in die Wälder floh.
Der Zauberer aber kehrte in seinen Turm zurück, denn er wusste, dass die Wölfe in den Wäldern die jüngste Tochter fressen würden.
Der Zauberer hatte aber nicht mit dem jüngsten Sohn gerechnet. Dieser wartete den nächsten Tag auf die jüngste Tochter und den Tag darauf; am dritten Tag jedoch lief er auf eigene Faust los in die großen und tiefen Wälder. Der jüngste Sohn nahm einen Knüppel gegen die großen Wölfe mit und suchte nach der jüngsten Tochter. Der Zauberer, der dies mit seinem allsehenden Augen sah, verwandelte sich eilig in eine alte Frau, die im Wald Pilze sammelte. Als der jüngste Sohn die Vettel nach seiner Liebsten fragte, wies sie ihn in die falsche Richtung. Ein Tag ging verloren, doch der jüngste Sohn stieß wieder auf die Spur der jüngsten Tochter. Der Zauberer wurde zu einem alten Mann, der auf einem Baumstamm saß und angelte; und wieder fragte ihn der jüngste Sohn nach dem Weg und wieder wies der böse Zauberer ihn in die falsche Richtung. Der jüngste Sohn suchte diesmal drei Tage, doch er fand die Spur seiner Liebsten wieder.
Der Zauberer war verzweifelt, denn der jüngste Sohn kam seiner Liebsten immer näher. Da nahm der Zauberer die Gestalt der jüngsten Tochter an und tat, als habe der jüngste Sohn sie gefunden. Erleichtert wollte der jüngste Sohn sie Heim führen, und der Zauberer verriet bereitwillig den Weg aus dem Wald heraus.
Da jedoch merkte der jüngste Sohn, dass er eine Täuschung erlegen war, denn seine Liebste hätte den Weg nicht alleine finden können. Er zog den Knüppel und verjagte den täuschenden Zauberer, dann suchte er weiter und fand schließlich die jüngste Tochter. Sie war noch nicht von den Wölfen gefressen worden, aber es war knapp, als der jüngste Sohn sie fand.
Sie waren glücklich, dass sie sich wiedergefunden hatten, doch den Weg zurück kannten sie nicht mehr, also gingen sie einfach weiter, bis sie ein anderes Dorf erreichten. Hier wurden sie freundlich aufgenommen und bekamen ein Haus; als sie aber erzählten, wie der Zauberer sie täuschte, da fürchteten sich die Dorfbewohner vor dem Zorn des mächtigen Magiers und halfen ihnen nicht weiter. Der jüngste Sohn baute Kartoffeln an und die jüngste Tochter nähte Kleider, und so verdienten sie wenig Geld und waren aber sehr glücklich.
Dies erfuhr der Zauberer und sein Zorn war schrecklich und schickte wilde Stürme über das Land. Und er beschloss, die beiden wieder zu trennen, denn solange sie glücklich wären, konnte der Zauberer es nicht sein.
Diesmal versuchte er nicht, sie zu täuschen, sondern er schickte die Elemente gegen den jüngsten Sohn und die jüngste Tochter. Wenn die Ernte wuchs, so schickte er Dürre, um sie zu zerstören. Wenn die jüngste Tochter im Garten saß und sponn, so schickte der Zauberer Regen und Hagel, um die Stoffe zu verderben. Das große Pech zwang die Liebenden, sich Tiere zu kaufen: Doch Kühe, Schafe, Schweine wurden von einer großen Grippe dahin gerafft, die der Zauberer schickte. Einzig eine schwarze Katze überlebte in dem einsamen Haus, doch bald fürchtete das Dorf die beiden Liebenden, die sich den Zorn des Zauberers zugetragen hatten.
Und so wurden der jüngste Sohn und die jüngste Tochter aus dem Haus vertrieben und mussten fliehen. Sie schlossen sich fahrenden Händlern an, doch tobende Stürme folgten ihnen, wo immer sie gingen. Die Menschen mieden sie wie Aussätzige. Sogar die Aussätzigen mieden sie. Der jüngste Sohn und die jüngste Tochter wurden sehr unglücklich, doch solange sie zusammen waren, gaben sie einander Kraft. Solange sie nicht einsam waren, waren sie tapfer.
Der Zauberer erkannte bald, dass alles Wüten von Feuer, Wasser, Erde und Wind nichts half, solange der jüngste Sohn bei der jüngsten Tochter war. Und so trachtete er danach, sie zu trennen, um sie endlich unglücklich zu machen.
Er versuchte alles. Er trieb die Winde zwischen den jüngsten Sohn und die jüngste Schwester, wenn sie draußen Spazieren gingen. Er ließ Blitze in ihren Weg einschlagen und das Feuer sie verfolgen. Er ließ das Meer aus sie zu springen und den Himmel auf sie nieder stürzen. Jedes Element und jede Macht der Welt setzte der böse Zauberer gegen die Liebenden ein, jede List, die ihm noch geblieben war.
Doch so sehr er sich auch bemühte, niemals ließen der jüngste Sohn und die jüngste Schwester einander los. Es war, als wären sie zusammengewachsen wie zwei mächtige Eichen. Keine Macht konnte sie trennen, geschweige denn ihre Liebe überwinden. Und nachdem er jedes Element gegen sie gehetzt hatte, jede List ausprobiert hatte, erkannte der böse Zauberer, dass es keinen Zweck hatte.
Der Bauerssohn und die Müllerstochter waren unzertrennlich.
Da gab der Zauberer auf, und die Liebenden lebten glücklich zusammen. Sie zogen in ein neues Dorf, und da sie endlich nicht mehr vom Unglück verfolgt schienen, wurden sie mit offenen Armen aufgenommen. Sie bauten ein neues Leben auf, wenn auch ein bescheidenes. Und sie waren glücklich.
Der schwelende Hass des Zauberer überzog jedoch die Lande mit Eis und Schnee. So kalt war es, dass die Tiere im Stall erfroren. Unglück und Hungersnöte suchten das Land heim. Die Dörfer wurden ärmer. Bald wurde es nicht mehr Sommer, und irgendwann war jedes Grün Vergessenheit.
Da ersann der böse Zauberer seinen letzten Plan. Keine List und keine Magie hatte ihm geholfen - so würde er die Wahrheit nutzen, und dazu den einfachsten nur vorstellbaren Zauber.
Er brauchte nur eine einzige Locke vom Haar der jüngsten Tochter - die Locke wurde ihm von einer Krähe gebracht. Ein schwarzer Fuchs lockte den jüngsten Sohn hinaus in die Wälder und ein großer, schwarzer Eber trieb den jüngsten Sohn zu einer Lichtung, wo der böse Zauberer auf ihn wartete.
Der jüngste Bruder erkannte den Zauberer sofort und Angst ergriff ihn. Er fiel zitternd auf die Knie und flehte den Magier um Gnade an - Gnade für ihn und die jüngste Tochter des Müllers. Der Zauberer schwieg und nickte dann langsam. Von neuem Mut ergriffen sprang der jüngste Sohn auf und bat auch, der Winter möge beendet werden.
"Es liegt in deiner Hand", sprach der Zauberer mit donnernder Stimme: "Ich werde den Winter und euer Unglück beenden und ich werde die Menschen in Frieden lassen - nur eines musst du dafür tun. Ein Dienst, den ich erbitte."
Der jüngste Sohn zögerte, denn er hatte furchtbare Angst. Außerdem wusste er, wie hinterhältig der böse Zauberer war. Doch der Lohn war zu verlockend. Er fragte, was der Preis sei.
"Erst musst du es mir versprechen. Dann kannst du zu deiner Liebsten zurückkehren; und gemeinsam mit dir wird der Sommer zurückkehren und es wird Friede herrschen."
"Wer bin ich, mich einem solchen Angebot zu widersetzen?", fragte sich der jüngste Sohn.
Und so reichte er dem bösen Zauberer die Hand, um den Handel zu besiegeln.
Da stellte der Zauberer seine Forderung: Nie wieder dürfe der jüngste Sohn Liebe zu der jüngsten Schwester empfinden. Sonst würde sie sterben, und der Winter kehre zurück.
Erschüttert von dem Preis wollte der jüngste Bruder seine Hand zurückziehen, doch es war zu spät. Das Mal des Magiers brannte sich in seine Haut, direkt über dem Herzen, mit unvorstellbaren Schmerzen. Doch Ähnliches und noch viel Schlimmeres würde die jüngste Schwester ereilen, sollte er sie je wieder lieben.
Dann verschwand der böse Zauberer in schwarzem Rauch und der jüngste Bruder blieb alleine im Wald zurück.
Viele Tage zögerte er furchtsam, zurückzukehren. Denn er hatte gesehen, dass der Zauberer die Haarlocke seiner Liebsten besaß und seine Drohung wahr machen konnte. Der jüngste Sohn konnte seine Liebe jedoch auch nicht einfach vergessen. Lange überlegte er hin und her, wie er sie alle retten sollte, bis es ihm einfiel: Wenn sein Herz zu Stein würde, könnte er keine Liebe mehr empfinden. Und so, auf der Lichtung noch, wo ihn der Zauberer verlassen hatte, ließ der jüngste Sohn sein Herz zu schwerem, kalten Stein werden. Jetzt fühlte er nichts mehr, weder Liebe noch Hass, und er konnte zu der jüngsten Schwester zurückkehren und mit ihm kehrte der Sommer zurück und die Lande wurden friedlich.
Aber ach, wie weinte die jüngste Schwester, als sie die Verwandlung ihres Liebsten bemerkte. Er war kalt und taub, liebte sie nicht mehr, sprach nicht mehr, lächelte nie. Mit jedem Tag schienen ihr die Stunden in seiner Nähe länger und der jüngste Sohn selbst ihr fremder. Sie fürchtete, die Wahrheit herauszufinden. Zu grausam schien ihr ein Schicksal, dass die wunderbare Liebe zerstörte.
Doch Monate wurden zu Jahren, und der Mann, den sie einst geliebt hatte, kam nicht wieder. Es war, als wäre er tot. Und so suchte die jüngste Tochter eine weise Frau auf, die ihr helfen sollte.
Die weise Frau hörte sich die Geschichte der jüngsten Tochter an. Dann nickte sie langsam und bedächtig: "Ein böser Zauberer verfolgt euch."
Die jüngste Tochter fürchtete sich, aber sie fragte weiter: "Wie können wir ihn besiegen?"
"Seine Macht ist immer schwächer als die Liebe", verriet die weise Frau: "Wenn die Liebe stark genug ist, kann sie jeden Fluch überwinden."
Die jüngste Tochter beherzigte diesen Rat und liebte ihren Liebsten wie nie zuvor. Sie war so freundlich, so zuvorkommend, so liebreizend, wie sie nur sein konnte.
Doch der jüngste Sohn wich ihr immer weiter aus, denn sollte er sie lieben, würde sie sterben, und das Land dazu, das wusste er. Er behielt sein Herz als kalten Stein in der Brust und langsam bildeten sich auch seine Augen in kalte Seen um, und seine Stimme wurde wie der Winter.
Die jüngste Tochter war verzweifelt, und so lief sie ein zweites Mal zu der weisen Frau und klagte ihr ihr Leid.
"Er liebt dich nicht?", fragte die Alte nach und die jüngste Tochter nickte und weinte bitterlich, denn ausgesprochen tat die Wahrheit noch viel mehr weh.
"Dann ist alles verloren", sagte die Alte: "Der Zauberer hat eure Liebe zerstört, und sie kann nicht wieder erblühen. Und er hindert deinen Liebsten daran, sich zu wehren."
"Warum?", weinte die jüngste Tochter: "und wie?"
Das vermochte die weise Frau nicht zu sagen, auch wenn sie ahnte, dass das Leben der jüngsten Tochter wohl auf dem Spiel stand.
"Du musst tapfer sein, Kind", sagte sie: "Er wird einsam werden. Eure Liebe ist vorbei."
An diesem Tag weinte die jüngste Tochter einen wahren Strom an Tränen, doch am nächsten Tag waren ihre Augen trocken.
Sie ging zurück zu dem jüngsten Sohn. Wie jeden Tag aßen sie zusammen und gingen dann ihrer Arbeit nach, um Geld zu verdienen.
Und die jüngste Tochter ließ auch ihr Herz zu Stein werden und liebte nicht mehr, denn sie wollte tapfer sein und das Los ihres Liebsten teilen.
Es wurde Sommer, und hundert Jahre lang blieb es Sommer. Der böse Zauberer war glücklich, denn der jüngste Sohn und die jüngste Tochter liebten einander nicht mehr.
Dann jedoch, eines Tages, merkte der Zauberer, dass seine Macht versiegte. Tag für Tag schwand seine Macht mehr. Erst konnte er es sich nicht erklären, doch dann fand er es heraus: Obwohl sie Herzen aus Stein hatten, liebten der jüngste Sohn und die jüngste Tochter einander noch, denn für den anderen hatten sie ihr kostbarstes Gut, ihre Liebe, geopfert. Und weil sie ohne Liebe liebten, zerstörte sich der Zauber selbst. Der böse Zauberer konnte nichts dagegen tun, dass seine Macht versiegte. So starb er elendig.
Nun kehrte auch der Winter wieder, doch nie für lange Zeit. Frühling folgte auf Winter und Herbst auf Sommer. Der jüngste Sohn und die jüngste Tochter hatten noch immer ihre Herzen aus Stein und ihre Liebe ohne Liebe. Sie waren weder glücklich noch traurig.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
*Gedichtzeile geklaut von Ifrit van Nox.