„Die Dinge, die wir am meisten fürchten, können uns – wenn wir ihnen denn entgegen treten – so manches Geheimnis über uns selbst verraten.“
Andrea rannte. Sie rannte so schnell, dass sie sich die weichen Pfotenballen auf dem rauen Stein aufschnitt, dass ihr der Atem kalt in der Kehle brannte und dampfend aus dem Maul floh. Das Blut pulsierte in ihren Ohren, sie hörte über dem Rauschen kaum das Bellen der Hunde. Ihre Tasthaare zitterten vor Angst.
Es gab keinen Ausweg mehr. Sie hielt geradewegs auf die Klippen zu, und damit auf das Ende ihrer Welt. Von allen Seiten war sie eingekreist von Menschen und Hunden und Pferden, die sie hetzten.
Und Andrea war am Ende ihrer Kraft. Ihr wurde teilweise schwarz vor Augen. Nur noch die Klippen, und der hellblaue Horizont dahinter, füllten ihr Sichtfeld. Mit langen Sätzen hetzte sie vorwärts, zwang aus ihrem abgemagerten Körper alles an Kraft, was noch in ihm steckte.
Sie zehrte von den Reserven ihres letzten Lebenswillens. Und der trieb sie zur Verzweiflungstat, als die Klippen näherkamen und sie nur noch den Weg aus Felsnadeln vor sich erkennen konnte.
Dünne Felsen standen dort, die Köpfe breiter als die Füße, wo sie aus den schwarzen Fluten ragten. Der Stein schwankte gefährlich im Wind – Niemand würde es wagen, Andrea dort hinüber zu folgen.
Die dürren Felsnadeln bildeten eine Straße hoch über dem Meer. Vielleicht führten die weiten Sprünge mit dem nassen Tod unter sich irgendwo hin.
Andrea konnte nicht nachdenken. Sie sprang, erwischte den ersten Felsen mit Müh und Not, zog sich auf den Stein, während ihre Krallen winzige Rillen hinterließen.
Die Hunde bellten nur lauter. Die Menschen fluchten.
Und die Felsnadel erzitterte selbst unter dem Gewicht der verängstigten Katze. Etwas krachte unter ihr – die Felsnadel brach!
Ohne zu zögern sprang Andrea auf den nächsten Felsen, und der Schwung ihres Absprungs ließ die Felsnadel gegen die Klippen brechen. Graue Steinsplitter regneten ins Meer. Keuchend starrte Andrea auf die weißgekrönten Fluten, die den Stein gierig verschlangen. Die Angst lähmte sie einen Herzschlag zu lange, da brach auch ihr Fels.
Diesmal ging es nach unten, auch für Andrea. Ihre Verfolger lachten, als die beinahe entwischte Beute in das kalte Meer stürzte.
Feuerrotes Fell versank im schwarzen Meer. Und Andrea schloss ihre Augen.
Der Tod war ein seltsames Gefühl. Leicht schwankend, als würde sie fliegen. Ein kühlender Wind, der ihr Fell trocknete. Salzige, frische Luft.
Andrea schlug die Augen auf und war nicht tot. Sie befand sich auf einer Insel, die sich, blau-grün und schuppig, durch die Wellen pflügte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Andrea einen gewaltigen Fisch, der so dunkel wie die Wellen war, auf dessen Rücken sie vor der Nässe sicher war.
Dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie krallte sich ängstlich neben der großen Rückenflosse fest. Sie war am Wasser! Überall um sie nur Wasser. Und sie konnte nicht fliehen!
„Hab keine Angst“, sagte eine gedämpfte Stimme und ihre Insel wurde langsamer: „Bitte, du tust mir weh!“
Erst merkte Andrea, dass die Stimme offenbar dem Fisch gehörte, dann, dass sich ihre Krallen durch die Schuppen und in die Haut darunter gebohrt hatten. Dünnes, wässriges Blut tröpfelte aus der Wunde.
„Oh! Tut mir leid!“, sagte Andres und zog mit einiger Überwindung ihre Krallen ein.
Der Fisch bewegte die Kiemen und schüttelte sich einmal leicht. Andrea bekam fast wieder Panik, obwohl nicht einmal die Chance bestand, dass ihre Pfoten nass wurden.
„Viel besser. Du bist eine Katze, oder? Ich war erst erstaunt, dass du nicht schwimmen konntest, aber du musst von oben gekommen sein.“
„Ja, ich komme von oben“, sagte Andrea: „Ich bin gefallen. Sie wollten mich dort oben nicht.“
Der Fisch gab blubbernde Geräusche von sich, die Andrea nach einer Sekunde als Lachen interpretierte: „Das ist witzig, hier unten kann mich ebenfalls Niemand leiden. Ich dachte, oben würdet ihr euch alle gut verstehen!“
Andrea schüttelte wortlos den Kopf. Der Verrat, der an ihr begangen worden war, beschäftigte sie noch immer.
„Nun gut, ich bringe dich zu einer Insel. Wir müssen uns beeilen, bevor es dunkel wird!“
Darüber konnte Andrea nur froh sein, denn sie wollte nicht mitten in der Nacht auf dem Meer sein, um keinen Preis der Welt. Und sie mochte es auch, dass der Fisch ihr keine Fragen stellte.
Er schwamm wieder schneller, und weiße Gischt flog um Andrea hoch, vor der sie sich hinter die durchsichtige Rückenflosse flüchtete.
„Wie heißt du?“, fragte der Fisch.
„Andrea“, sagte Andrea: „Und du?“
„Argan. Da vorne ist die Insel.“
Aus den Wellen vor ihnen tauchte weißer Strand auf. Die Insel war klein, aber wenigstens trocken, und ein paar kleine Bäume wuchsen darauf. Argan konnte im flachen Wasser nicht ganz auf den Sand schwimmen, also musste Andrea ihren ganzen Mut zusammen nehmen und über das Meerwasser springen.
„Danke“, sagte sie zu dem Fisch: „Aber kommst du wieder? Alleine sitze ich hier fest.“
Sie meinte, so etwas wie ein Lächeln im Gesicht des Fisches zu erkennen, obwohl sie sich da nicht sicher sein konnte.
„Ja, ich komme wieder.“
Mit diesen Worten verschwand Argan, und Andrea spürte die Müdigkeit so plötzlich und heftig, dass sie beinahe auf der Stelle einschlief. Nur in den Schutz der Palmblätter konnte sie sich noch schleppen. Dann sank sie in einen tiefen Schlaf.
Als sie am nächsten Tag erwachte, war das Meer um sie herum still, so weit sie sehen konnte. Von Argan war keine Spur zu entdecken, und ebenso konnte Andrea kein anderes Festland sehen. Sie wanderte über die kleine Insel, während sich die Mittagssonne erhob, und fand weder Fressen noch Trinkwasser. Schließlich setzte sie sich in den Sand und putzte ihr rot-getigertes Fell. Sie spürte Einsamkeit aufsteigen und kämpfte diese durch die beruhigenden Bewegungen ihrer Zunge in dem dichten Fell herunter. Jetzt war sie vollkommen alleine, verloren irgendwo im Ozean, und sie hatte Niemanden an ihrer Seite außer einen Fisch, den sie nicht einschätzen konnte. Elend kauerte sie sich zusammen und versuchte, die heißen Katzentränen zu vertreiben.
In diesem Moment plätscherte es am Strand. Erschrocken sah Andrea auf, bereits Bilder von Springfluten und nassen Wasserdämonen im Kopf. Doch es war Argan, dessen grünblaue Schuppen sich aus der Flut schälten.
„Andrea?“, rief der Fisch.
Andrea lief freudig auf ihn zu: „Argan! Du bist wieder da!“
„Natürlich“, sagte der Fisch.
Andrea zögerte nicht einmal, als sie auf den Rücken des Fisches sprang: „Kannst du mich hier fort bringen? Bitte?“
Argan schob sich etwas überrascht zurück in die See, darauf achtend, dass Andrea nicht mit dem Wasser in Berührung kam: „Wohin willst du denn?“
„Ich habe gehört, hinter dem Meer soll es ein freies Land geben!“, maunzte Andrea aufgeregt: „Kannst du mich dorthin bringen?“
Sie könnte schwören, Argan schmunzeln zu sehen: „Du meinst bestimmt das Land der Flusswiesen! Ja, das gibt es, und es ist sogar nicht sehr weit entfernt. Zwei, drei Tage, und wir könnten dort sein!“
Andrea riss die grünen Augen weit auf: „Dort möchte ich hin. Würdest du das für mich tun?“
Jetzt zögerte der Fisch. Andrea spürte förmlich, wie Angst durch den Fischleib kroch: „Der Weg ist gefährlich. Dort patrouillieren die Haie. Keinem Fisch ist es gestattet, zu den Flusswiesen zu schwimmen.“
„Hast du es denn probiert?“, fragte Andrea. Sie wollte nicht aufgeben. Denn eine andere Chance als die Flusswiesen kannte sie nicht.
Argan nickte, worauf Andrea eilig vor dem Wasser flüchtete, dass den massigen Kopf des Fisches überspülte.
„Ich wollte selbst dort hin. Aber die Grenze wird bewacht. Niemand kann sie lebendig überqueren!“
Andrea beugte sich mit einem siegessicheren Lächeln vor: „Weißt du, Argan, das hat man mir auch von den grauen Klippen erzählt: Niemand kann die Klippen durchqueren, dort warten Jäger und Hunde, und sie töten jeden, der sich dorthin wagt. Aber ich habe überlebt, dank dir! Ich glaube, zusammen können wir es schaffen!“
Argan überlegte, wobei er den Körper sanft hin und her wiegte. Andrea wartete gespannt.
„Nun, ich habe nichts zu verlieren“, sagte der Fisch langsam: „Ich habe keine Familie, keine Freunde, die ich verlassen würde.“
„Dann ist es klar? Wir überqueren die Grenze?“, maunzte Andrea und trampelte mit den Pfoten auf den Schuppen herum.
„Ja!“, sagte Argan lachend: „Ja, das tun wir! Und jetzt lass das, das kitzelt!“
„Wie, das hier?“, fragte Andrea und machte weiter, bis Argan lachend drohte, unterzutauchen.
Argan schwamm in einem beständigen Tempo durch die Wellen, das Andrea einem ausdauernden Trab gleichsetzte. Sie saß bequem vor der großen Rückenflosse und genoss den Fahrtwind. Ihre Angst vor dem tiefen Wasser war immer noch da, doch sie war sich sicher, dass Argan sie vor den Wellen schützen würde.
„Argan?“, fragte sie.
„Mhm?“, machte der Fisch.
„Sag mal, wie ist es im Meer?“
Der Fisch wurde ein wenig langsamer, während er offenbar nach Worten suchte: „Es ist dunkel. Und kalt. Das ist das Wichtigste. Ab und zu gibt es Vulkane unter Wasser, aus denen giftige Dämpfe aufsteigen. Es gibt allerhand unheimliche Kreaturen, die giftig und getarnt sind. Fast alles dort unten – Lebewesen, Stein, Gras – versucht, dich umzubringen.“
Andrea schauerte: „Genauso habe ich es mir vorgestellt! Aber du bist nicht giftig, oder?“
Argan lachte rau: „Nein. Ich bin derjenige, der nicht dazu passt. Deshalb bin ich immer allein.“
Sofort bereute Andrea ihre unüberlegten Worte: „So meinte ich das nicht. Mir geht es ähnlich. Dort oben will man nicht mal mit mir reden!“
„Wie ist es an der Luft?“, fragte Argan jetzt neugierig.
„Grausam“, sagte Andrea, ohne nachzudenken: „Oder auch gerecht. Die Schwachen sterben, die Starken überleben. Es gibt keine Tricks, kein Gift, nur Geschwindigkeit und Stärke. Es gibt eine strenge Nahrungskette, und wenn jemand ankommt, der über dir steht, dass heißt es kämpfen oder fliehen. Manchmal kämpfen sogar gleiche Tiere, Bruder gegen Bruder, Vater gegen Sohn. Es ist fressen oder gefressen werden.“
„Und du bist abgehauen?“
„Ich kann keine Mörderin sein, nicht so!“, maunzte Andrea: „Nicht, wenn alles so hoffnungslos scheint!“
Daraufhin fragte Argan nicht mehr nach.
Irgendwann wurde der große Fisch langsamer.
„Sind wir da?“, fragte Andrea sofort und sprang auf.
„Nein. Aber ich möchte dir etwas zeigen“, sagte Argan langsam: „Ich habe lange drüber nachgedacht – ich habe diesen Ort noch Niemandem gezeigt. Aber das wäre jetzt die letzte Chance. Es wäre nur ein kleiner Umweg.“
Andrea war gerührt von dem Vertrauen, das ihr der Fisch entgegen trug: „Gerne, Argan. Bring uns hin!“
Der Ort lag an den Klippen einer Insel aus hellem Edelstein. Als Argan und Andrea dort ankamen, erhob sich gerade der Mond über dem Meer. Die Insel leuchtete und spiegelte das silberne Licht wider. Auf Höhe der Wasseroberfläche lag der Höhleneingang, zu gleichen Teilen über und unter Wasser. Argan schwamm umsichtig durch die Öffnung, um in eine helle Höhle einzutauchen.
Andrea riss vor Staunen die Augen auf. Die Höhle bildete sich aus verschiedenen durchscheinenden Edelsteinen. Grün, Blau, Rot, Orange, Gold, Silber, alle Farben mischten sich in der schimmernden Luft und dem klaren Wasser der Höhle. Unzählige Brücken aus diversen Steinen spannten sich über dem Wasser. Mondstrahlen fielen durch verborgene Löcher in der glitzernden Decke. Trotzdem war es keine Flut an Farben. Die herrschende Farbe war ein helles blaugrün, wie gesundes Wasser. Die anderen Farben bildeten nur hellere Flecken und Tönungen, ohne jemals die friedliche Ruhe zu zerstören.
„Unglaublich!“, sagte Andrea begeistert: „Das ist unmöglich!“
Außer ihrer Stimme hallte nur das leise Tropfen von Wasser und das Plätschern der Wellen in der Höhle wider.
„Ich liebe diesen Ort“, sagte Argan glücklich: „Hier kommt nie jemand hin.“
Er schwamm mit langsamen Bewegungen auf eine der vielen Brücken zu. Andrea sprang ohne zu zögern von dem breiten Rücken des Fisches und setzte sich auf das grazile Gebilde aus durchsichtigem Stein. In der Höhle roch es nach Salzwasser, aber auf eine frische und klare Weise. Andrea zog die Luft tief durch ihr Näschen ein.
„Ich wusste nicht, dass es im Meer so friedlich sein kann“, sagte sie nachdenklich: „Und so schön!“
„Man muss diese Orte schon finden“, erklärte Argan: „Sonst kann es sein, dass sie für alle Zeiten in Vergessenheit geraten.“
Andrea begann, langsam über die Brücken zu wandern, den Blick staunend an die leuchtende Decke gerichtet: „Das ist der schönste Ort, den ich je gesehen habe!“
„Es ist auch ein sehr einsamer Ort“, sagte Argan: „Aber ich wollte ihn ein letztes Mal aufsuchen, bevor ich fortschwimme.“
Andrea sagte nichts, sondern kletterte weiter, bis sie einen hohen Aussichtspunkt gefunden hatte, unter dem nur das leuchtende Wasser lag.
„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte sie leise.
„Warum hast du eigentlich Angst vor Wasser?“, fragte Argan, als sie wieder unterwegs waren und die Sonne vor ihnen im Meer versank.
Andrea sah auf die Schuppen vor ihren Pfoten und erzählte dann: „Das Wasser ist kalt. Es hängt sich in unser Fell und bleibt dort, wie ein Geruch, den man nicht abschütteln kann. Dazu kommt, dass wir nicht schwimmen können. Wir können aber auch nicht weiter als bis zur Wasseroberfläche sehen – die spiegelt so sehr, dass wir allerhöchstens Fische dicht an der Oberfläche erahnen können, aber niemals erkennen, wie tief das Wasser ist. Und von den Wellenbewegungen wird uns schwindelig. Es ist einfach … alles andere als unser Element.“
Argan schwieg eine Weile, dann sagte er: „Man muss wohl vom Land kommen, um das wirklich zu verstehen. Ich komme ja kaum über die Oberfläche. Ich sehe das Wasser nur von unten, und hier ist es eine andere Welt – es ist wie eine zweite Haut, während die Luft oben kalt und schmerzhaft ist. An Land werden wir schwer, das Atmen immer mühsamer, aber hier unten ist man frei. So, wie die Vögel in der Luft fliegen, fliegen Fische durchs Meer.“
Andrea lachte leise: „Deshalb habe ich Fell und du Schuppen! Wir wurden in unser Element geboren, und ein anderes zu betreten liegt nicht in unserer Natur! Aber sag mal – du bist doch die ganze Zeit mit den Schuppen außerhalb des Wassers! Meintest du nicht, das würde dich schmerzen?“
„Doch, das tut es. Aber das ist ein kleines Opfer, denn sonst würden deine Pfoten nass werden!“, antwortete Argan.
Andrea staunte nicht schlecht: „Darauf nimmst du Rücksicht? Aber komm, der Weg war lang genug. Eine Weile lang können meine Pfoten auch mal nass werden!“
„Bist du sicher?“, fragte Argan und Andrea bestätigte. Langsam ließ sich der Fisch ein wenig tiefer ins Wasser gleiten, bis weiße Gischt um Andreas feuerrote Pfoten brandete. Das Wasser war wirklich kalt und verklebte ihr Fell, aber tapfer bekämpfte Andrea die Angst, die in ihr aufzukeimen drohte.
Und nach einer Weile war es schon fast angenehm.
Mitten in der Nacht hielt Argan so plötzlich an, dass Andrea ein paar Schritte nach vorne stolperte. Der Fisch vibrierte, seine Rückenflosse stellte sich auf und zitterte. Andrea spürte, wie sich jeder Muskeln in dem schuppigen Körper unter ihr anspannte.
Sie mussten die Grenze erreicht haben. Fast sofort löste sie sich aus der Müdigkeit, die sie die ganze Zeit umfangen gehalten hatte. Ihr Fell sträubte sich ein wenig.
In der Dunkelheit hörte sie ein Plätschern, das nicht von Argan zu stammen schien. Das mussten die Haie sein, von der ihr der Fisch erzählt hatte.
Nach ein paar Mal Blinzeln konnte sie die grauen Rückenflossen sehen, die sie umkreisten. Die Haie waren riesig, jeder mindestens doppelt so groß wie Argan.Die Angst packte Andrea. Sie krallte sich in den Schuppen fest, ohne Rücksicht diesmal darauf, dass sie Argan verletzte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
Dann machte Argan einen Satz, indem er sich mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse nach vorne katapultierte. Andrea verlor nur deshalb nicht den Halt, weil sie sich bereit mit aller Kraft an ihren Retter geklammert hatte.
Jetzt zeigte Argan, wie schnell er wirklich schwimmen konnte. Wasser schoss zu beiden Seiten hoch in die Luft. Andrea wurde pitschnass, doch sie schloss einfach die Augen und vertraute dem Fisch.
Argan wurde erschreckend schnell. Die Haie schwammen zu beiden Seiten neben ihnen und schnappten mit Mäulern voller spitzer Zahnreihen nach dem Fisch. Mehr als einmal erwischen sie ihn, doch das Blut blieb wie eine dünne Spur hinter ihnen zurück. Anstatt langsamer zu werden, wurde Argan nur schneller.
Und dann tauchte er plötzlich unter.
Andrea hielt im letzten Moment die Luft an. Sie hielt die Krallen in Argans Schuppen geschlagen und betete durch geschlossene Augen, dass sie überleben würde. Sie spürte die Panik, die jetzt aufstieg. Überall waren diese Monsterhaie, sie war im Wasser. Ihr ging die Luft aus, und sie hing nur mit ihren Krallen am Leben.
Aber sie klammerte sich fest, und im nächsten Moment, als sie schon nach Luft schnappen wollte, sprang Argan.
Der gewaltige Fisch flog durch die Luft, über ein Riff hinweg. Wassertropfen glitzerten überall. Andrea sah zum ersten Mal die grünen, durchsichtigen Flossen, die an der Seite von Argans großem Körper im Wind lagen. Fast wirkte es, als flöge der Fisch. Der Körper des Fisches war nicht halb so klobig, wie Andrea es angenommen hatte – Argan war schmal und stromlinienförmig, mit einem hellen Muster auf den Schuppen, das kaum zur Geltung kam, wenn sein Körper im Wasser verborgen war.
Der Aufprall auf der anderen Seite des Riffes war hart. Andrea wurde von Argans Rücken geschleudert, jetzt konnte sie sich nicht mehr festhalten. Wasser stürzte über ihr zusammen, und sie verlor das Bewusstsein, kaum dass das Wasser sie umschloss.
Als Andrea die Augen aufschlug, flog sie knapp über der Wasseroberfläche dahin. Sie lag auf der Spitze von Argans Schnauze, und der Fisch trug sie behutsam durch das Meer.
Die Sonne ging auf. Nur wenige Katzensprünge entfernt wuchs langes, grünes Gras, Weiden bogen sich in einem sachten Wind und Vögel sangen.
„Die Flusswiesen!“, rief Andrea staunend und sprang auf. Sofort war sie hellwach. Im erwachenden Tag war dies genau das Paradies, dass sie sich erträumt hatte. Von Flüssen durchzogen erschreckten sich die Wiesen bis zum Horizont. Verschiedenste Tiere wanderten friedlich über die Landschaft, Raubtier neben Pflanzenfresser. Es gab keinen Zwist, keinen Hass, auch keine Grenze zwischen Wasser und Land.
Argan trug sie an den Strand und Andrea sprang dort von seinem Rücken: „Wir haben es geschafft! Argan, wir sind die Besten!“
„Ja, wir sind endlich da.“
Argans Stimme klang müde, aber glücklich. Andrea drehte sich zu ihm um.
Da sah sie auf ihre Pfoten.
„Argan, warum ist das Meer hier rot?“
Sie schnüffelte an dem Wasser und sah sich um. Nicht immer waren die Fluten rot, nur an dieser Stelle. Als Argan nicht antwortete, geriet Andrea in Panik: „Argan, sag was, bitte! Sag mir, das liegt daran, dass die Sonne aufgeht! Sag mir, es sind kleine Krebse oder Sand oder irgendwas!“
„Es … es tut mir leid. Bei dem Sprung … war ich nicht hoch genug.“
Das rote Wasser war Argans Blut. Es quoll einfach unter seinem Bauch hervor, wo er sich die Schuppen abgerissen haben musste. Andrea spürte Tränen in ihren Augen: „Nein! Nein, Argan! Wir haben es geschafft, wir sind da, du darfst – du darfst nicht - !“, sie konnte nicht weiter sprechen.
Argan sah sie aus großen, grünen Augen an. Andrea lief in das Wasser, ohne zu zögern, und drückte sich an seine Seite.
„Du- du bist in Sicherheit. Das ist alles … was zählt.“
„Argan, nein“, schnurrte Andrea zärtlich, weil sie spürte, wie der Fisch vor Angst und Kälte zitterte: „Wir sind beide hier. Wir sind beide in Sicherheit. Wir haben es geschafft.“
Ihre Tränen tropften in das rote Wasser. Argan antwortete nicht mehr.
„Ich liebe dich“, sagte Andrea leise: „Ich werde dich lieben, bis das Meer austrocknet und das Land verbrennt.“
Sie saß neben dem toten Fisch, bis die Flut kam.