„Die Bestie, Tags in Mensch'gestalt, durchstreift als Wolf des Nachts den Wald.“
Kein Kind will seine Eltern streiten hören. Alyssa kletterte über ihren Tisch und aus dem Fenster, sprang in das feuchte Gras, wo der Garten verwilderte.
Lautlos schlich sie durch den Schatten der Apfelbäume. Sie wich dem Laub und den kleinen Ästen aus, die ihre Schritte verraten hätten, duckte sich unter den knorrigen Ästen hindurch, die wie mit Fingern nach ihr griffen und sprang über das Dornengebüsch und den Zaun.
Nur das Sternenlicht begleitete sie, die Nacht war finster und mondlos. Alyssa wurde schneller und lief bald über das Feld, mit sicheren Schritten, die jede Ackerfurche und jeden Stein kannten. Die kalte Luft schnitt in ihre Lungen, war frisch und duftete von Geheimnissen, die es zu erforschen gab.
Alyssa liebte die Nächte, die Ruhe und Stille. Sie fürchtete sich nicht, wenn sie im Wald ein Käuzchen rufen hörte, sondern begrüßte das Tier wie einen alten Freund. Die Kälte, der erste Hauch des Winters, machte ihren Kopf klar und trieb die Tränen zurück in die dunklen Winkel ihrer Seele, aus denen diese niemals wieder hervorbrechen sollten.
Früher war sie oft des Nachts geflohen, hatte sich in den Wald zurückgezogen. Die ersten Male war sie nur wenige Schritte gegangen, oder schon im Garten erwischt worden, früher hatte die Angst gehabt, war unerfahren und ungeschickt gewesen, wenn sie im Dunkeln durch die Nacht lief.
Früher war sie oft geflohen – inzwischen flüchtete sie jeden zweiten Tag. Der Wald war ihr Zuhause, der Bauernhof und der Tag waren ihr Gefängnis. Alyssa wusste, dass sie nur Nachts fliehen konnte, die Nacht war die Zeit für Träume.
Sie brauchte kein Licht, um den Weg zu finden, und sich tiefer zwischen die dunklen Stämme zu wagen. Ihr Herz schlug ein wenig höher, der Kitzel machte sie wach, wie sie tagsüber nie war. Ein kühler Wind spielte in ihren Haaren. Alyssa lauschte auf die Tiere des Waldes, hörte das Knacken von Ästen, die Eulen, das Bellen von Füchsen und sogar das Schnauben von Hirschen.
Alyssa war ein Teil dieses Waldes geworden, sein Kind. Sie trug nur ein Messer bei sich, lief barfuß in ihrem dünnen Nachthemd, ohne zu frieren. Ihre Augen waren trocken, als wäre sie hier draußen ein anderer Mensch. Eine Königin.
Sie fand ihren Thron, einen großen, glatten Stein, auf den sie sich setzen konnte. Sie zog die Knie vor die Brust, lehnte den Rücken an den Stamm einer großen Eiche, zu deren Wurzeln der Stein stand. Der Baum knarzte beruhigend. Alyssa strich mit der Hand über den Stamm, bevor sie ihr Messer zückte.
Angst trieb sie, die Angst, diesen Ort nie wieder zu sehen, als sie die Klinge wie so oft zuvor ansetzte. Drückte und zog im gleichen Moment. Den Schmerz empfing sie mit einem scharfen Einatmen. Ihr wurde warm. Friede breitete sich in ihr aus, kaum, dass der Schmerz verklungen war. Ein süßer Fall, ein Traum. Alyssa legte den Kopf gegen den Stamm, schloss halb die Augen. Es gab keine größere Ruhe als diese, die Erschöpfung, die Müdigkeit. Sie entspannte sich.
Ihre Mutter hatte ihr erklärt, wie man sich nach einem Orgasmus fühlen sollte, hatte die gleiche friedliche Ruhe beschrieben, die Alyssa hier fand.
Sie hatte ihrer Mutter nicht erzählen können, dass sie nach jedem Orgasmus weinte, lange und verzweifelt. Sie konnte ihrer Mutter nichts erzählen, konnte Niemandem etwas erzählen. Nur der Wald hörte ihr zu. Alyssa schlief für Minuten unter dem Rauschen der Blätter, ließ die Gedanken schweifen, frei wie Vögel. Der Wald wusch sie rein wie eine Bergquelle, er ließ sie so weit fliehen, wie sie wollte. Wie oft hatte Alyssa daran gedacht, fortzurennen.
Sie weit zu rennen, wie sie es wollte, fliehen, bis ihre Füße sie nicht mehr trugen.
Aber sie hatte Angst. Selbst hier konnte sie nicht alle Angst ablegen.
Während die Wunde langsam aufhörte, zu bluten, lauschte Alyssa wieder, die Augen fast geschlossen.
Und da hörte sie es.
Ein fernes, langes Klagen, so hoch und dünn und traurig, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Der Ruf eines einsamen Wolfes.
Ihr Herz schlug höher. Sie stand auf, nervös. Jedes junge Mädchen wäre jetzt geflohen, wäre gerannt, bis der Morgen begann.
Alyssa zögerte und blieb. Sie wollte die Angst, wollte die Gefahr, wollte die Bedrohung. Sie lauschte erneut, hörte den einsamen Ruf ein zweites Mal. Er war weit entfernt.
Leise ging Alyssa durch ihr Königreich unter dem Sternenhimmel, bis sie den klaren See erreichte. Barfuß lief sie in das Wasser, kniete sich in die Kälte und wusch ihren Arm frei von ihrem Traum.
Es war kalt, so kalt, dass sie fast zitterte. Sie schöpfte das Wasser mit den Händen und wusch sich das Gesicht. Erst, als die Kälte ihre Sinne wieder frei gab, hörte sie das Knacken von Ästen unter schweren Schritten ganz in der Nähe.
Alyssa erhob sich, das Kleid triefend nass. Sie suchte das dunkle Ufer ab. Ihr Atem stieg als kleine Wolke auf, wurde zum Nebel über dem See, durchbrochen von Sternenlicht.
Eine Gestalt zeigte sich am Ufer. Auf vier Beinen, leuchtende, blaue Augen, so hell, dass Alyssa alle Angst vergaß. Der Wolf trat vor, Pfote für Pfote, bis an das Ufer heran. Alyssa blieb stehen, den Atem angehalten. Sie hatte keine Angst um sich, fürchtete nur, den Wolf zu verschrecken. Aus klugen, blauen Augen sah das Tier zu ihr auf, bevor es den Kopf in das helle Wasser senkte, um zu trinken.
Alyssa stand wie ein Felsen, nur ihre Haare bewegten sich im Wand, schwarz wie das Fell des Wolfes.
Dann hob der Wolf wieder den Kopf. Unendliche Herzschläge lang sahen sie einander in die Augen. Als der Wolf sich bewegte, flüsterte Alyssa: „Geh nicht!“
Das Tier blieb stehen, wandte den Kopf wieder zurück.
„Niemals wollte Jemand, dass ich bleibe“, sprach der Wolf.
Alyssa sah jetzt, dass das Wasser sich rot färbte, wo der Wolf getrunken hatte. Die blauen Augen, klar wie die Ewigkeit, beobachteten sie: „Meine Aufgabe hier ist vorbei, Kind.“
Alyssa streckt eine Hand aus: „Ich bitte dich. Bleib. Ich möchte mit dir reden.“
Der Wolf legte den Kopf schief und setzte sich ihr gegenüber: „Das hat mich noch Niemand gebeten. Hast du keine Angst?“
Alyssa schüttelte den Kopf: „Ich fürchte mich nicht.“
„Dann bist du sehr tapfer – oder sehr dumm“, sprach der Wolf. Seine Stimme war freundlich.
Alyssa schmiegte die Hände an ihre Seiten, automatisch das verletzte Handgelenk versteckend: „Ich bin neugierig.“
Der Wolf ließ sich langsam nieder, bis er auf dem Bauch lag: „Dann frage.“
Alyssa kam einen winzigen Schritt näher: „Wölfe sollen reißende Bestien sein, mörderisch, im Rudel wie alleine. Aber du sprichst, du bist anders.“
Der Wolf neigte den Kopf: „Ich bin immer noch ein wildes Tier. Ich kann nicht entgegen meiner Natur handeln. Früher oder später werde ich meine Bestimmung erfüllen.“
„Und deine Bestimmung ist der Tod der Menschen?“, fragte Alyssa.
Der Wolf blinzelte langsam: „Meine Bestimmung ist das Schicksal, das geschehen muss.“
Alyssa neigte den Kopf: „Ich glaube, ich verstehe.“
Der Wolf stand auf: „Es tut mir leid, doch ich muss gehen.“
Alyssa konnte nur nicken: „Wirst du zurückkehren?“, rief sie dem Wolf nach.
Der schwarze Wolf wandte sich um und blickte zurück: „Wenn du das willst.“
„Ja“, hauchte Alyssa: „Ich bitte dich, komm wieder.“
Als Alyssa aus dem Wald zurückkehrte, musste sie feststellen, dass ihre Großmutter gestorben war, noch während ihre Eltern sich gestritten hatten. Sie kam gerade noch rechtzeitig, bevor man ihr Fehlen bemerkt hätte, schloss das Fenster hinter sich, als ihr Vater gerade die Tür öffnete.
Die Botschaft war ein Schock, doch er erreichte Alyssa kaum. Ihre Großmutter war alt gewesen und schwerkrank. Noch dazu hatte die alte Frau nie mit ihr gesprochen, nie ein freundliches Wort oder ein Lächeln von sich gegeben. Aber diesmal musste sie drei Tage überstehen und warten, musste die Tage unter Menschen verbringen und ihre Träume unter langen Ärmeln ver bergen, während unzählige Fremde ihr sagten, dass sie mit allen Problemen zu ihnen kommen könnte.
Natürlich würde Niemand ihr zu hören. Alyssa schwieg tagsüber und sah Nachts sehnsuchtsvoll in den Wald hinaus, doch weder sah sie den schwarzen Wolf, noch hörte sie sein Heulen. Im Garten brannten Kerzen und versperrten ihr den sicheren Weg in die Dunkelheit.
Drei Tage glitten vorbei, langsam und zäh, bis die Beerdigung vorüber war. Alyssa fühlte sich wie im Traum, denn all das hatte nichts mit ihr zu tun. Sie ertrug sogar die schrecklichen Stunden und weinte nicht halb so qualvoll danach, denn der Gedanke an den schwarzen Wolf gab ihr Kraft.
Und als drei Tage um waren, und die dritte Nacht sich senkte, da roch sie die Freiheit.
Alyssa lief durch den Wald, schnell wie der Wind. Der schwarze Wolf lief an ihrer Seite, hielt mühelos mit ihr Schritt. Alyssa lachte ausgelassen, der Wolf sprang an ihrer Seite. Sie liefen durch den Wald und der Wolf brachte sie zu einer weiten Wiese, Gras beugte sich unter dem Wind, weiß vom Frost. Über den Himmel zogen Nebelstreifen. Wolf und Mädchen ließen sich in das Gras sinken. Furchtlos schlang Alyssa ihre Arme um den Wolf.
„Bist du immer noch neugierig, Menschenkind?“, fragte der Wolf sie.
Alyssa nickte: „Ich will so Vieles erfahren.“
Der Wolf warf ihr einen langen Blick zu: „Glaubst du, da solltest du mich fragen, von allen, die du fragen könntest?“
Alyssa nickte ernst: „Ich möchte Vieles erfahren, nicht alles. Ich möchte hören, was du mir sagen kannst. Alles andere interessiert mich nicht.“
Ein dünner Mond hing am Himmel, beleuchtete die ungewöhnliche Freundschaft.
„Dann musst du wissen, dass ich jeden Ort der Welt aufsuchen kann, doch ich muss immer jagen und mit Blut zurückkehren“, sagte der Wolf ruhig.
Alyssa verstand, was ihr die traurigen, blauen Augen sagen wollten.
„Kannst du mir helfen?“, fragte sie leise.
Der Wolf sah in ihre Augen, bevor er die Zähne fletschte: „Kind, ich kann. Doch bist du sicher?“
Alyssa nickte. Sie sah sich auf der hellen Wiese um, die glitzerte von der Kälte, die sie überzog. Das Fell des Wolfes unter ihrer Hand war weich und warm. Das schwarze Tier wandte mit ihr gemeinsam den Blick auf den Himmel.
„Es ist gegen die Natur, mein liebes Kind, doch ich werde dir helfen. Und nun musst du gehen, die Nacht dauert nicht mehr lange.“
Alyssa stand auf: „Wirst du denn zurück kehren? Wirst du mich wieder besuchen?“
„Wenn du mich darum bittest, Kind, so werde ich kommen. Aber bist du dir wirklich sicher?“
Alyssa konnte nur nicken: „Bitte, Wolf, komm zurück.“
Der Wolf sah ihr noch einmal in die Augen: „Du weißt, was deine Bitte bedeutet?“
Alyssa schloss die Augen: „Sie bedeutet, dass ich einen Freund wiedersehen kann. Dafür würde ich alles geben. Außer dir hatte ich noch nie einen Freund.“
Der Wolf senkte die blauen Augen: „Und mich hat noch Niemand seinen Freund genannt. Ich werde zurückkehren, wenn der Mond zur Hälfte voll ist. Doch das muss unser letztes Treffen werden.“
Alyssa konnte nur schweren Herzens nicken.
Die Rückkehr in ihr Heim war ein weiter Weg. Auf halber Strecke hörte sie den Wolf heulen, als er sein Versprechen hielt. Sie begann zu rennen, sprang über Baumstämme, über Steine und über den Zaun. Doch als sie aus dem Wald herausbrach und die Felder überquerte, sah sie das Licht schon brennen. Sie musste nicht durch ihr Zimmerfenster klettern, denn die Tür öffnete sich, und die Stimme ihrer Mutter empfing sie: „Alyssa, Gott, wo warst du nur? Komm sofort rein – trägst du etwa keine Schuhe?“
Ihre Mutter war aufgelöst, und abgesehen von ihrem Schimpfen war es still in dem Bauernhof.
Alyssas Großmutter hatte in einer separaten Wohnung auf dem Dach gewohnt. Ansonsten hatten nur Alyssa und ihre Eltern hier gewohnt – und bis zum nächsten Dorf waren es mehrere Kilometer.
Die Angst bestätigte sich, als ihre Mutter Alyssa in den Arm zog, wie sie es nicht mehr gemacht hatte, seit Alyssa ein kleines Kind gewesen war.
Es wirkte, als brauchte die Mutter eine Umarmung, und Alyssa war ihr nur ein Mittel zum Zweck.
„Wir sind verflucht“, weinte die Mutter leise: „Wir sind verflucht, wir sind verflucht.“
Im Flur lag ihr Vater auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen zum Himmel gerichtet, noch seinen Gürtel in der Hand. Schwarze Schatten füllten den Flur, krochen auf Alyssa zu und griffen nach ihr. Sie verspürte keine Angst, denn sie sah blaue Augen vor sich. Während ihre Mutter weinte, blieb Alyssa ruhig. Keine Träne, nie wieder. Das war vorbei.
Sie tröstete ihre Mutter, wiegte sie und schickte sie dann schlafen.
Als der Tag begann, war alles wieder normal. Alyssa bekam Ärger und die Mutter war die Starke von ihnen. Ihr Vater wurde aufgebahrt und fortgebracht. Alyssa saß schweigend in ihrem Zimmer und konnte keinen Hauch von Trauer in ihrem Herzen finden. Nur der Wolf war vor ihren Augen, sein weiches Fell, seine hellen Augen. Der Trost, den er ihr spendete.
Für keinen Menschen war in ihren Gedanken Platz. Und wie sie so saß und dachte, wusste sie, dass sie ihn liebte.
Sie flüsterte es leise in den Raum: „Ich liebe dich.“
Sie wusste, dass er ihre Worte hören würde wie einen leisen Windhauch.
Als sie schlief und träumte, kehrte er zu ihr zurück. In ihrem Traum sah er ihr in die Augen, leckte ihre Arme, um die Narben zu heilen, und lief mit ihr durch den Wald, auf der Suche nach neuen Abenteuern.
„Es ist nur ein Traum“, pflegte er, zu sagen: „Wenn ich im Traum zu dir komme, bist du sicher vor meiner wahren Natur. Träume, Menschenkind, und lass die Augen geschlossen, so lange du willst.“
„Aber wenn der Mond halbvoll ist, dann sehen wir uns, oder?“, fragte Alyssa schwach. Sie wollte sich an den Wolf klammern.
„Du weiß, was mein Besuch bedeutet. Ein letztes Mal können wir einander sehen. Dann werde ich nur in deinen Träumen auftauchen können.“
Alyssa weinte in ihre Kissen, stundenlang, lächelnd. Sie würde nicht mehr aus Angst und Scham weinen. Sie würde bald stark sein müssen.
Die Zeit bis zum halben Mond schien ihr ewig. Jeden Tag sah sie hinaus auf den kalten Himmel, suchte zwischen den Sternen nach dem Mond und flüsterte den Nachtfaltern ihre Träume zu. Das Messer, das sie noch in der ersten Nacht im Wald für ihre Flügel gehalten hatte, lag unter ihrem Kopfkissen, seit Tagen unberührt. Alyssa flog, getragen von der Sehnsucht. Es war ein süßer Schmerz, so viel tiefer als jedes Messer schneiden konnte. So viel verheißungsvoller war der Traum, der folgen würde.
Endlich war der Mond zur Hälfte voll. Wie früher kletterte Alyssa aus dem Fenster, floh in die Nacht und flog in den Wald. Der Wolf erwartete sie schon, auf dem Weg.
„Folge mir“, sagte er ihr und lief voraus.
Alyssa folgte ihrem schwarzen Wolf, der wie ein Schatten durch die Nacht lief. Er war so schnell, dass er ihr beinahe davon lief, doch wenn das zu geschehen drohte, blieb er stehen und wartete auf sie. Und gemeinsam liefen sie.
Es ging durch den silbernen, sternendurchflossenen See, wo sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Der Wolf senkte den Kopf und trank das klare Wasser. Alyssa folgte ihm, badete sich in dem Wasser und sah dann wieder zu ihm auf, wartend.
Sie rannten weiter, bis sie die eisklaren Wiesen erreichten. Ihr Lauf führte sie über das Gras, weiter und weiter, bis das Gras Alyssa zu den Knien, dann zur Brust, schließlich über den Kopf reichte. Sie hörte den Wolf nur, folgte vertrauensvoll seiner Stimme, und das Gras wurde wieder niedriger.
Sie hatten den Wald schon lange hinter sich gelassen. Klippen erstreckten sich vor ihnen, schwarz und bedrohlich. Das Land dahinter schien klein, winzig klein. Alyssa trat so nah an die Kante, wie sie es wagte.
Höfe, Felder, Städte, nicht mehr als ferne Sterne. Dafür tanzte Nebel durch die Luft und der erste frühe Schnee, Eiskristalle fingen das Sternenlicht für sich ein, der Mond badete sie Welt in seinem Zauber.
Alles war klar und hellblau wie die ewigen Augen des Wolfes. Dazwischen die Schatten, sanfte Meere und Ruhestätten. Der Wolf sah zu Alyssa.
„So sehe ich die Welt, Menschenkind. Und ich will, dass du sie ebenfalls so siehst. Was du auch erlebst – es ist unwichtig, weit entfernt, es wird nicht immer eine Rolle spielen. Du kannst Orte wie diesen erreichen. Und du wirst über den Wolken tanzen können. Nur darfst du mich nie wieder sehen.“
„Niemals?“, fragte Alyssa, die Stimme dünn vor Traurigkeit.
Der Wolf neigte den Kopf: „Noch ein einziges Mal, in vielen, vielen Jahren.“
„So lange werde ich es nicht aushalten!“, sagte Alyssa jämmerlich.
„Du musst. Ich habe dir den Teich voller Mondlicht gezeigt, die Wiese voller Sterne und jetzt die Nacht voller Schnee. Du hast den Zauber in der Dunkelheit entdeckt, deine Kerze. Folge ihrem Licht, Kind, und nicht weiter meiner schwarzen Spur.“
Alyssa spürte, dass dies der Abschied war. Sie spürte auch die Tränen auf ihren Wangen: „Nein, bitte. Ich bitte dich, Wolf, geh nicht. Ich will nicht allein sein.“
„Du wirst nicht allein sein. Das Licht der Sterne wird dich begleiten. Nur bitte mich nicht, denn ich kann es nicht tun.“
Der Wolf sah so verzweifelt aus, wie Alyssa sich fühlte.
„Auch für mich werden die Jahre lang sein. Aber wenn ich weiß, dass du das Sternenlicht sehen kannst, werden sie nicht ganz so schrecklich.“
Die Worte rührten Alyssa: „Ich werde versuchen, tapfer zu sein, schwarzer Wolf.“
Da lächelte der Wolf ganz traurig: „Auf ein letztes Wiedersehen, Sternenkind.“
Alyssa fühlte sich schon verlassen, als der Wolf sich zum letzten Mal gegen sie drückte und sie ein letztes Mal seinen Körper umschlang.
„Geh jetzt, denn ich muss meiner Natur folgen“, sagte der Wolf: „Und dann solltest du weit weg sein, in der Sicherheit einer schnellen Flucht. Lauf, Sternenkind, und rufe mich nie mehr.“
Noch im Rennen hörte sie den Wolf heulen.
Als Alyssa ihr Haus erreichte, erwartete sie dort nur Dunkelheit und Stille. Leise betrat sie das Haus und wusste sofort, dass der schwarze Wolf seiner Natur gefolgt war.
Tiefe Trauer und Einsamkeit erfüllte sie. Sie hatte ihre Familie verloren, und sicherlich würde man ihr auch eines Tages dieses Haus nehmen. Trauer verschloss ihr Herz und sie wünschte sich vom ersten Moment an, seit sie vor ihm geflohen war, den Wolf wieder zu rufen.
Doch sie hielt an ihrem Versprechen fest und rief ihn nicht. Die Stunden waren lang und zäh. Endlich wurden daraus Tage. Eine Woche, zwei, drei. Alyssa schwieg, sah in der Nacht sehnsuchtsvoll in den Himmel und versuchte, gegen die übermächtigen Träume zu kämpfen.
Sie bemühte sich, den Worten des Wolfes zu folgen. Sie suchte die Wiesen voller Sterne und den Teich voller Mondlicht. Sie wanderte durch die Nacht voller Schnee, aber ihr Herz war kalt und dunkel. Allein konnte sie die Schönheit nicht bewundern.
Jeder Tag schien unendlich lang. Alyssa wartete auf die Nächte, und auch die Nächte waren unendlich lang. Sie wurde aus ihrem Haus geholt und in ein Heim gesteckt, später in eine Klinik für Geisteskranke.
Alyssa wartete, Tag für Tag, Stunde um Stunde, beobachtete die Uhr und ignorierte alles andere, denn nichts konnte ihr noch Freude bereiten.
Und dann, als 12 Monate um waren, wurde ihr die Sehnsucht zu schmerzhaft, und sie rief erneut nach dem schwarzen Wolf, vom Dach der Klinik aus, den Wind in den Haaren.
Sie lächelte, als der schwarze Wolf erschien. Doch er sah sie traurig an.
„Warum rufst du mich, Sternenkind? Weißt du nicht, was das bedeutet? Dreimal habe ich dich verschont, ein viertes Mal darf ich es nicht.“
Alyssa nickte: „Ich weiß es doch, Wolf, ich weiß es doch. Aber es gibt an diesem Ort keine Freude mehr für mich. Lass mich an deiner Seite bleiben!“
Die Augen des Wolfes wurden noch trauriger. Er wich ihrem Blick aus: „Du kannst nicht an meiner Seite bleiben. Ich bin einsam, und das werde ich immer bleiben. Du musst weitergehen, Sternenkind.“
Alyssa erschrak: „Wir werden getrennt?“
„Wir waren bisher nie so getrennt, wie wir es sein werden. Ich war immer einen Schritt hinter dir, Sternenkind, habe dich beobachtet und dir Glück gewünscht, doch nun verlässt du meine Heimat.“
Sie schwiegen. Alyssa fröstelte, als sie verstand, wie schwer ihr Fehler war. Sie weinte.
„Aber vielleicht ist es gerecht so“, sagte der Wolf plötzlich: „Denn ich konnte dich sehen, doch du mich nicht. Jetzt werde ich deine Einsamkeit erfahren müssen. Verzweifle nicht, Sternenkind, denn nach der Ewigkeit kommt ein neues Leben.“
Alyssa nickte tapfer und wappnete sich innerlich für die längste und traurigste Einsamkeit. Plötzlich standen sie wieder im Wald, oder wenigstens schien es ihr so. Am Himmel ging der Vollmond auf.
Und der schwarze Wolf öffnete die Pforte.
„Leb wohl, Sternenkind“, sagte der Wolf
„Leb wohl“, sagte Alyssa, durchschritt das Tor und fiel.
Doch auch die längste Ewigkeit endet, auch der Tod muss sterben, und dann beginnt die Welt erneut.