„Keinen größeren Beweis für die Liebe, kein stärkeres Band, kein schlimmerer Tod.“
Der Tag war endlich gekommen, und Jaila hatte Angst. Sie hatte furchtbare Angst vor dem heutigen Abend, obwohl es dazu keinen Grund gab. Sie liebte Hjaro. Er liebte sie. Keine ihrer Familien hatte etwas dagegen einzuwenden.
Aber die Angst blieb. Und sie wuchs mit jeder Stunde, die verstrich, ein wenig an.
Sie war so nervös! Ihre Finger zitterten, Schweiß bedeckte ihre Arme, ihr Herz schlug den ganzen Tag schon so schnell und aufgeregt, dass ihr schwindelig wurde.
Heute würde sie heiraten! Heute, der Tag war so plötzlich gekommen, so schnell. Gestern noch hatte sie an der Planung gesessen, wie jeden Tag in den letzten Wochen, und plötzlich war Karja gekommen, ein wenig verstört, und hatte gefragt, wo sie denn bliebe.
Der Jungesellinnenabschied. Jaila hätte es beinahe vergessen, ihr war die Luft weggeblieben: Jetzt? Jetzt schon muss ich meine Freiheit verabschieden?
Nicht, dass es sie groß gestört hatte. Heute würde sie sich an Hjaro binden und ihren größten Wunsch erfüllen. Aber die Geschwindigkeit, mit der dieses Ereignis immer näher gerückt war, hatte sie überrascht.
Und heute waren es plötzlich nur noch ein paar Stunden bis zu ihrem großen Tag. Die Sonne schien am Himmel festgefroren und die Zeit verstrich überhaupt nicht. Es war Vormittag. Jaila wartete ungeduldig darauf, dass die Dunkelheit herauf zog. Erst heute Abend würde sie heiraten. Das war noch lange hin – glaube sie. Inzwischen bezweifelte sie, dass sie der Zeit oder ihrem Gefühl dafür trauen konnte.
Es klopfte an die Tür des kleinen Zimmers.
„Herein!“, rief Jaila und bemerkte, wie stark ihre Stimme zitterte. Es war Karja, die sich durch die Tür schob, ihre dickliche Beste Freundin mit den fröhlichen Sommersprossen. Jetzt war ihr rundes Gesicht ernst: „Wie geht es dir?“
Sie meinte sicherlich Jailas Anfall von Nervösität, der sie vor einer halben Stunde gezwungen hatte, ihr Frühstück wieder auszuspucken. Sie schluckte, noch immer hatte sie den bitteren Nachgeschmack im Mund, und verzerrte die Lippen zu einem Lächeln: „Besser. Eigentlich geht es mir bestens.“
Karja erwiderte das Lächeln, trat ein und schloss die Tür hinter sich: „Ich war auch so nervös, das kannst du mir glauben!“
Karja hatte schon vor drei Jahren geheiratet und war inzwischen wieder geschieden. Sie trat zu Jaila und umfasste ihre Handgelenke: „Du brauchst keine Angst zu haben! Das wird der beste Tag deines Lebens!“
Es war seltsam, diese fast kindliche Freude von einer Frau wie Karja zu hören, die jetzt mit einem Sohn alleine lebte und über das ganze Leben verbittert schien. In diesem Moment jedenfalls schimmerte ein Schatten der alten Karja hervor, des jungen Mädchens, mit dem Jaila immer Streiche gespielt hatte. Bis die Krankheit sie in ein Haus sperrte und ihre Freundschaft auf die erste Zerreißprobe stellte.
Jaila lächelte nachdenklich, während sie auf ihre Handgelenke im Griff der kräftigen Finger ihrer Freundin starrte. Blasse, schmale Handgelenke, unter denen die Adern blau schimmerten, während Karjas Hände gebräunt waren, die Knöchel standen weiter hervor, weil die Knochen durch lange Jahre als Boxerin gestärkt waren.
„Ich hoffe, dass er das wird“, Jaila hatte wirklich Angst. Sie hatte Angst, dass das Glück nicht lange halten würde. Dass sie und Hjaro sich schnell auseinander leben würden. So, wie es bei Karja der Fall gewesen war.
Aber noch eine Enttäuschung dieser Art würde sie wohl kaum verkraften.
„Du brauchst nur ein wenig Vertrauen!“, versprach Karja ihr: „Er liebt dich, das kann selbst ein Blinder sehen. Hjaro ist nicht so ein Arsch wie Garjak.“
Jaila hoffte inständig, dass ihr sanftmütiger Hjaro nichts mit dem Betrüger gemein hatte, der Karja in eine verbitterte Alte verwandelt hatte. Und noch mehr freute sie sich, dass ihre Freundin den Mann offenbar überstanden hatte, denn sie konnte den Namen aussprechen, ohne dass Tränen sich zeigten.
Jaila lächelte: „Ich vertraue ihm. Aber – es dauert noch so lange, bis es Abend ist!“
Karja überlegte nur kurz, dann meinte sie: „Lass uns doch schwimmen gehen!“
„Meinst du wirklich?“, fragte Jaila: „Kann ich hier weg?“
„Natürlich! Bei den Vorbereitungen auf eine Hochzeit wird Niemand weniger gebraucht als die Braut selbst!“, sagte Karja und zog sie mit sich: „Komm, es ist alles fertig geplant, lass uns etwas Spaß haben!“
Jaila folgte ihrer Freundin langsam. Sie fühlte sich wieder, als sei alles wie früher. So, wie es immer hätte sein sollen.
Der kleine Teich im Wald war noch genauso wie früher, als sie Kinder gewesen waren. Ein geheimnisvoller Tümpel, von großen Steinen und noch größeren Bäumen umgeben, mit Schilf bestanden und sogar mit einem kleinen Wasserfall, den ihre Papierboote früher herab gesegelt waren. Es war still hier, durch Wald und Farn von der Welt getrennt. Jaila saß auf einem Stein, ein Sonnenstrahl durchdrang das Blätterdach, um genau in ihr Gesicht zu scheinen. Karja hatte sich weiter unten ans Wasser gesetzt.
Keine von ihnen würde sich in die eisigen Fluten begeben. Sie waren erwachsen, lange schon, aber hierhin zurückzukehren ließ die Geister der Erinnerung erneut tanzen. Fast war es Jaila, als hörte sie das Lachen von Kindern, während sie mit geschlossenen Augen lauschte.
Als würde ihr ganzes Leben vor ihr vorbei ziehen, wie es doch nur beim Tod der Fall war. Sie grübelte darüber nach, wie ähnlich sich Tod und Hochzeit manchmal waren, mit dem Unterschied, dass sie sich auf ihre Hochzeit freute.
Aber es war ein Ende, und danach begann etwas Unbekanntes und Neues. Sie würde ihre Familie verlassen und eine neue Familie finden. Als sie an Hjaro dachte, an sein schiefes Lächeln und die kleinen Grübchen, die dabei entstanden, lächelte sie.
„Pailja sollte auch hier sein“, murmelte Karja, die kleine Steine in das Wasser warf.
„Vielleicht ist sie das ja“, antwortete Jaila und ignorierte den Stich in ihrer Brust, der bei diesen Worten entstand. Pailja. Ihre kleine Schwester. Früher hatten sie sich nur gestritten, aber Pailja war ihnen überallhin gefolgt, wie ein nerviger, liebgewonnener Schatten.
„Entschuldige“, Karja musste ihren Tonfall bemerkt haben: „Heute ist nicht der richtige Tag für traurige Gedanken.“
„Schon gut“, erwiderte Jaila: „Ich finde, es ist ein guter Tag dafür. Irgendwie – als würde ich mit allem abschließen.“
Karja lachte: „Du heiratest nur, und gehst nicht in den Krieg!“
Jaila stimmte in das Lachen ein: „Ich hoffe, dass es da einen großen Unterschied gibt!“
Karja kletterte die Steine hinauf, um sich zu ihr zu setzen: „Oder wirst du Hjaro herumkommandieren wie einen Soldaten?“
„Niemals!“, entgegnete Jaila heftig, dann zögerte sie und grinste: „Nun, vielleicht manchmal.“
Sie kehrten erst gegen Nachtmittag zurück, damit Jaila sich fertig machen konnte. Karja half ihr in das Kleid, und ein ganzer Schwarm junger Mädchen und guter Bekannten machte ihr eine kunstvolle, geflochtene Frisur und musterte kritisch den Schmuck, den Jaila heraus gelegt hatte.
Dann, als sie in den Augen ihrer Freundinnen perfekt aussah, musste Jaila warten. Etwa eine halbe Stunde dauerte es, dann war es endlich soweit, ihr den Schleier und den Blumenkranz aufzusetzen. Da es keinen Brautvater mehr gab, der sie führen konnte, ging Jaila alleine und mit weichen Knien nach draußen, wo sich die Gäste am Waldrand versammelt hatten. Karja ging ein kurzes Stück hinter ihr.
Die Nervösität war fast unerträglich. Der Stoff des Schleiers klebte an ihrem Gesicht. Jaila wartete hinter einer Hausecke, von ihre Freundin und den Blumenmädchen begleitet. Sie hörte die Musik erklingen.
„Jetzt“, flüsterte Karja, aber Jaila konnte nicht gehen. Ihre Füße waren wie angewachsen, in ihrem Kopf herrschte eine plötzliche Leere. Sie hatte vergessen, wie man die Muskeln zu bewegen hatte. Mit zitternden Fingern umklammerte sie den Blumenstrauß, während die Musik erklang. Sie hörte die Gäste, obwohl die meisten schwiegen. Hörte den schwachen Atem. Sie sah Karja, auf deren Gesicht sich Besorgnis breit machte, hörte das ungeduldige Flüstern.
„Jaila …?“, fragte Karja und fasste ihren Arm.
Jaila riss sich los und rannte.
Sie warf den Blumenstrauß fort und raffte das Kleid hoch. Ihre Füße trommelten über den Boden, als sie fort rannte, in das Dorf, durch schmale Gassen und über Plätze, ohne auf die entsetzten Schreie ihrer Freundin zu achten.
Jaila lief schnell. Obwohl die kalte Abendluft in ihrer Lunge brannte. Obwohl das Blut in ihren Ohren rauschte. Obwohl die Tränen verhinderten, dass sie den Weg vor sich sah.
Ihre Füße trugen sie blind und von allein, durch das Dorf und aus dem Dorf heraus und über die Felder. Jaila hörte Verfolger, sah über die Schulter, wie die Gesellschaft ihr folgte, oder wenigstens ein Teil davon. Immer mehr Menschen blieben stehen und ließen sich zurück fallen.
Aber Jaila kümmerte es nicht. Ihre Füße trugen sie vorwärts, den Hand hinter den Feldern herab, durch den Graben und das schlammige Rinnsal darin, durch das Gebüsch, das mit trockenen Astfingern ihr Kleid zerriss.
Ein großer Teil der Gesellschaft blieb dort stehen. Aber immer noch verfolgte man sie, wie einen kostbaren, weißen Hirsch, und Jaila wurde nicht langsamer, sprang über Baumstämme, Steine und Kuhlen im Boden, rannte aus dem Wald heraus und auf die Bergflanke, von der dunkler Rauch aufstieg.
Hier, umgeben von der Hitze fließender Lava, in dem Qualm von Kohle, die seit Jahrhunderten brannte, blieb sie stehen.
Sie keuchte. Haarsträhnen klebten an ihrem Gesicht. Selbst Karja wurde hier langsamer und wagte es nicht, ihr in diese Hölle zu folgen: „Jaila! Was tust du?“
Aber Hjaro lief weiter. Die hellbraunen Haare wehten im Wind, seine Augen waren auf ihr Gesicht gerichtet, während er sich über den Feuerstein arbeitete.
Der Berg unter ihren Füßen rumpelte. Es war ein Vulkan, und hinzu kam, dass ein Kohlebergwerk in ihn gebaut worden war. Die Lava hatte die Kohle vor vielen Jahrhunderten entzündet, und seitdem brannte sie, und durch schmale Spalten im Boden drang dichter Rauch. Jailas Augen tränten. Ein Hustenkrampf überkam sie, sie heftig, dass sie fast auf den Boden stürzte. Es war ein Fehler gewesen, zu rennen. Und dann auch noch an diesen Ort. Bevor sie den Boden erreichte, fingen starke Hände sie auf.
Hjaro. Er hielt sie an den Schultern, richtete sie so auf, bis sie wieder Luft bekam und die Welt sich nicht mehr drehte. Dann umarmte er sie, schütze ihren Körper mit seinem vor der Hitze und seine Hände streichelten ihre Haare, hinterließen Ruß in der zerstörten Frisur.
„Warum rennst du, Jaila?“, fragte er sanft.
Sie weinte: „Ich habe Angst.“
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Sie zitterte, trotz der Hitze. Hjaro aber fragte nicht weiter nach. Er kannte sie, und damit kannte er ihre Angst.
Ihre Eltern hatten spät geheiratet. Da war Jaila bereits acht gewesen. Und sie waren am Tag ihrer Hochzeit gestorben. Karja hatte geheiratet und sich wenig später nach heftigen Streitereien getrennt. Ihre kleine Schwester, Pailja, hatte geheiratet und war von ihrem Mann ermordet worden.
Jaila hatte furchtbare Angst.
„Wir müssen nicht heiraten“, flüsterte Hjaro sanft, wie schon Monate vorher.
Jaila schüttelte den Kopf: „Ich will. Aber … ich kann nicht.“
Er wiegte sie sanft, hielt ihr ganzes Gewicht. Deswegen liebte sie ihn so. Er verstand sie. Er akzeptierte sie und ihr zerstörtes Leben.
Wieder rumpelte der Berg. Jaila klammerte sich an Hjaro. Sie wollte mit ihm die Ringe tauschen. Wollte es so sehr. Aber das kalte Metall würde ihr wie eine Kette vorkommen. Ihre Angst würde alles zerstören.
„Weißt du, wie die Leute früher geheiratet haben?“, fragte Hjaro. Er erzählte ihr immer Geschichten, wenn sie Angst hatte, und meistens lauschte sie einfach an seiner Brust dem Klang seiner Stimme. Diesmal hörte sie zu.
„Sie sind gemeinsam über ein Feuer gesprungen. Das galt als größter Liebesbeweis.“
Sie sah in sein ernstes Gesicht: „Ehrlich?“
Er nickte und küsste ihren Scheitel: „Sie haben auch Ringe getauscht. Aber eine Hochzeit war erst mit dem Sprung über das Feuer vollzogen.“
„Also wäre es auch ohne die Ringe eine Hochzeit?“, fragte Jaila und Hoffnung keimte in ihr auf. Sie könnte niemals tagtäglich auf den Ring starren und die Angst spüren. Aber einen kurzen Moment des Mutes – den besaß sie. So viel Tapferkeit konnte sie aufbringen.
„Bestimmt“, meinte Hjaro: „Was sagst du?“
„Ja!“, hauchte Jaila.
Hjaro nahm ihre Hand und zog sie zur Seite, wo aus einer Erdspalte heißer Dampf aufstieg.
Jaila starrte auf die breite Schlucht und fasste seine Hand fester.
Hjaro räuspert sich: „Ich habe mir ein Versprechen überlegt“, sagte er fast schüchtern.
Jaila lächelte, obwohl die Hitze ihr entgegen schlug: „Ja?“
„Ich schwöre, dass ich dich immer lieben werde, für immer an deiner Seite bleibe und niemals etwas anderes als Liebe für dich empfinden werde“, trug Hjaro vor, dann setzte er hinzu: „Du weißt ja, ich bin mit sowas nicht gut.“
Jaila lächelte und blinzelte eine Träne fort: „Das war das schönste Geständnis, das ich je gehört habe.“ Sie beugte sich vor uns flüsterte: „Ich werde dir gehören, jetzt und für alle Zeit, und nichts kann uns trennen!“
Ihre Hände packten einander fester. Sie atmeten tief durch. Jailas Blick huschte kurz zu Karja, die am Rand der Feuerlandschaft stand und den Sprung würde bezeugen können.
Dann nahmen sie drei Schritte Anlauf.
Eins. Zwei. Drei.
Und sprangen, hoch über die Spalte, über das Feuer, hinein in die Zukunft.
Und sie landeten unversehrt auf der anderen Seite. Karja jubelte. Hjaro umfasste Jaila und küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach Asche und Leidenschaft.
Jailas Herz schlug schnell und glücklich, als sie ihren Mann umfasste.
Zu schnell. Zu glücklich.
Sie keuchte, als Schwindel sie erfasste. Hjaro löste seine Lippen von ihren, sah die Panik in ihren Augen und hob sie hoch.
„Jaila!“, er rannte mit ihr durch den Qualm, während sie nach Atem rang, während sie begann, zu krampfen, während sie nach Luft schnappte und keine erhielt.
Hjaro merkte es vermutlich. Er merkte, dass er nicht mehr schnell genug sein würde, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Jailas schmaler Körper wurde geschüttelt. Ihre Hand war so kraftlos geworden, sie konnte ihn nicht halten.
Also traf Hjaro eine Entscheidung. Die schwerste in seinem Leben, das wusste Jaila.
Aber er beugte sich zu ihr und schrie: „Ich liebe dich!“
Er schrie es laut, damit sie es über dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren hörte. Sie hätte es auch so gewusst. Ihre Augen fielen zu, bevor sie sagen konnte: „Ich liebe dich auch.“