„Ein Grab aus Liedern soll es sein, unter den Weiden, für uns zwei.“
Wenn die Trauerweiden flüsterten, fühlte Saja sich frei. Sie lauschte den Blättern und beobachtete den Tanz der hängenden Blätter. Sie vergaß, wer sie sonst war, vergaß ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Sie vergaß alles bis auf den Moment.
Deswegen waren die Stunden, die sie im Hain zubrachte wie ein anderes Leben. Als wäre sie ein anderer Mensch. Und deswegen spielte nur dieser Teil ihres Lebens eine Rolle.
Bei Kai war es ähnlich. Er liebte die Zeit, die er im Schatten der Blätter zubrachte. Er harkte das Laub auf der Erde zusammen und zupfte die trockenen Blätter von den grünen Ästen, damit die Trauerweiden zu dem schönsten Ort in der Großstadt wurden. Kai hatte schon lange beschlossen, dass er diese grüne Oase in der Stadt als seine Zuflucht ansehen würde. Er hatte den Job als Parkwächter und Gärtner angenommen, und es war, als gehörte ihm der Wald.
Kai kannte den Gast, der jedes Wochenende auftauchte: Ein junges Mädchen, vielleicht 20, vielleicht 25 Jahre alt. Sie hatte blasse, braune Haare, die schienen, als seien sie extra für das düstere, zwielichthafte Grün der Trauerweiden gefärbt worden. Sie saß so häufig auf der Bank an dem kleinen See, dass es schließlich kein Wunder war, dass Kai auf sie traf.
Saja sah auf, als schwere Schritte ihrem Sitzplatz näherten. Blätter und Gras raschelten unter den braunen Stiefeln des Gärtners. Er hielt die Harke beinahe schüchtern vor der Brust, als er zu ihr trat, ohne sich zu setzen.
"Hallo."
Saja musterte den Mann. Er war ihr immer sehr alt erschienen, denn natürlich hatte sie ihn im Park bereits bemerkt. Ein älterer Herr mit schütterem Haar, immer mit der gleichen, dunkelbraunen Jacke, die ihm zu groß war. Im Sommer wurde die Jacke um die Hüften geschlungen und man konnte ein blaues oder graues Karohemd sehen, doch im Herbst, wie jetzt, waren alle Knöpfe der Jacke geschlossen. Er schien in seiner eigenen Welt zu leben.
"Hi", sagte sie und lächelte. Der Gärtner strich sich über den Kopf und rückte die braune Kappe zurück, die ihm in die Stirn gerutscht war.
"Du kommt oft her."
"Ja", sagte Saja und fragte sich, was der Mann von ihr wollte: "Ich mag den Park."
Er lächelte: "Ja. Ich pflege ihn, so gut ich kann. Aber eigentlich ist er von selbst so schön."
"Er wirkt ... alt", meinte Saja vorsichtig. Sie schlang die Arme um den Oberkörper.
Der Gärtner nickte: "Sehr alt. Wie aus einer anderen Zeit."
"Ich glaube, ich muss gehen", sagte Saja, der das Gespräch ein wenig unheimlich war. Doch sie blieb sitzen, denn eigentlich wollte sie nicht zurück. Sie sah auf den Teich hinaus.
"Auf Wiedersehen", sagte der Gärtner und schlurfte von dannen.
"Warte!", rief Saja ihm nach: "Wie heißt du?"
"Kai", sagte der Mann und lächelte, als er stehen blieb und zurück sah.
"Ich heiße Saja."
Der Schnee verwandelte den Park. Die Trauerweiden wurden zu schwarzen Strichen, als ihre Blätter abfielen. Der See und die Erde wurden weiß. Die Bank war zugeschneit, also musste Saja stehen. Kai beobachtete sie, wie die auf das zugefrorene Wasser sah. Sie trug einen kurzen, gelben Mantel. Sie kam ihm verzweifelt vor, sehr viel verzweifelter als in den letzten Wochen.
Deswegen kam er ein zweites Mal zu ihr.
Sie zeigte keine Reaktion, auch nicht, als er wenige Schritte hinter ihr stand.
"Saja?"
"Weißt du", murmelte sie und ihr Atem dampfe: "Das ist eigentlich nicht mein richtiger Name."
"Er ist trotzdem sehr schön", sagte Kai: "Was ist an deinem echten Namen auszusetzen?"
"Ich mag ihn nicht", sagte Saja: "Und für diesen Ort schien er mir nicht passend. Er ist so voller ... Erinnerung."
"Du willst dich nicht erinnern", stellte Kai fest.
"Ist das falsch?", fragte sie und sah ihn zum ersten Mal an. Ihre braunen Augen waren verzweifelt.
Kai hatte unglaublich helle, klare, blaue Augen. Saja war überrascht, welche Intelligenz aus ihnen sprach.
"Es ist nicht falsch", sagte Kai: "Nicht immer. Manche Dinge muss man vergessen, um weiter gehen zu können."
"Die Psychologen sagen, Verdrängung wäre nicht gut", flüsterte Saja.
"Die Psychologen wissen nichts von der Welt", erklärte Kai: "Sie kennen nur die Bücher. Sie haben verlernt, wirklich zu sehen und zu hören."
"Und du kannst das?", fragte Saja.
"Ich sehe und höre. Ja", sagte Kai: "Und du darfst vergessen. Dafür ist dieser Ort hier da."
Da verstand Saja. Kai lebte in seiner eigenen Welt. In einer Welt voller Trauerweiden, mit einem kleinen See ungefähr in der Mitte.
Und nun hatte er sie in seine Welt eingeladen.
Saja nahm die Einladung an.
Der Winter war angefüllt mit langen Gesprächen während noch längerer Spaziergänge. Unter verschneiten Zweigen entlang, manchmal bis spät in die Nacht hinein, während Kai arbeitete und wenn er eigentlich schon längst Feierabend hatte.
Niemals erzählte Saja von sich oder ihrem Zuhause. Kai erfuhr nie, wovor sie floh, doch er vergas jedes Mal, sie danach zu fragen. Auch er erzählte nicht von sich. SIe redeten über die Politik und die Trauerweiden, über vergangene Zeiten, Bücher und Filme, tauschten Witze aus und kamen doch nie darauf zu sprechen, was sie in diesen Park trieb.
Das war nicht schlimm. Kai wollte nicht über das reden, wovor er floh, und deswegen konnte er es leicht ertragen, nichts über Saja zu wissen. Dazu kam, dass die Zeit wie im Flug verging, wenn sie lachten, scherzten und redeten. Manchmal sahen sie auf und waren erschrocken, dass die Sterne bereits am Himmel waren.
Das Erstaunliche war, fand Saja, wie gut sie sich mit Kai verstand. Der Altersunterschied zwischen ihnen war beträchtlich. Trotzdem fanden sie immer neue Themen, die sie beide beschäftigten. Sie waren auf einer Wellenlänge, was an sich gesehen schon ein Wunder war.
Ein kleines Wunder in einer großen Stadt.
An Weihnachten hatte Kai die größte Weide mit Lichtern geschmückt, als Saja kam.
Sie stand eine lange Weile neben ihm und betrachtete den geschmückten Baum.
"Wunderschön!", meinte sie dann.
Kai lächelte: "Ich fand Tannen immer hässlich."
"Zu spitz", bestätigte Saja: "Und manchmal finde ich es ganz schön, wenn ein Baum nicht grün ist."
So war es mit ihnen. Sie waren so oft einer Meinung, dass sie kaum etwas zu sagen brauchten.
Gleichzeitig entschlossen sie sich, ein Stück zu gehen. Kai bot Saja scherzhaft den Arm an und sie hakte sich unter. Der Winter hatte ihr Gesicht rot gefärbt.
"Ich wünschte, es würde ewig so bleiben", sagte sie nachdenklich und wies auf den Wald.
"Es kann nicht immer Winter sein", sagte Kai ruhig.
Saja nickte: "Der Sommer wird bestimmt schön."
Kai hielt inne: "Du wirst es doch miterleben!"
Saja senkte traurig den Kopf: "Nein. Wir ziehen um."
Kai war erschrocken. Es war ihm so vorgekommen, als könnte diese Zeit niemals enden. Er schwieg lange, während er mit Saja weiter ging. Sie sah unglücklich aus.
"Wann?", fragte er.
"Im Frühling. Bald", antwortete sie.
"Bis zum Frühling ist noch Zeit", meinte Kai.
"Ja. Aber jetzt, da ich weiß, dass ich fort muss, fühlt es sich an, als sei überhaupt keine Zeit mehr."
Kai nickte. Es stimmte. Jetzt, mit einem Satz, war ihre Zeit endlich geworden.
Saja verließ den Park nur ungern. Denn sie wusste, dass sie immer seltener kommen würde. Nicht, weil sie zu viel zu tun hätte oder weil sie den Ort nicht mehr liebte. Es war, weil sie wusste, dass sie nur noch wenige Monate hatte.
Paradox, das wusste sie. Doch je weniger Gelegenheit sie hatte, desto seltener war ihr noch danach, Kai und die Trauerweiden zu besuchen. Sie wollte den Schmezr der Trennung schwächen.
Viel zu schnell kam der März. Unter den Trauerweiden blühten Krokusse. Saja und Kai saßen auf der Bank und sie hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt, um die Augen zu schließen.
Er hielt ihre Hand.
"Ich würde so gerne bleiben", sagte Saja.
Kai nickte. Er wollte auch, dass sie blieb. Er wollte, dass die Zeit nicht mehr verging. Aber vielleicht fühlte er sich dem Tod auch näher, als er sich wahrhaben wollte. Er spürte, wie kostbar jeder Moment wurde.
"Ich werde zurückkommen", sagte die junge Frau: "Und wenn ich es als alte Frau tue."
"Soll ich dir einen Platz frei halten?", fragte Kai und Saja nickte.
"Unter der großen Weide da. Am Ufer des Sees."
Dort war die Erde kahl, statt mit grünem Gras bewachsen. Kai fand den Flecken unansehnlich, doch dort wollte einfach nichts wachsen. Saja hatte Mitleid mit dem traurigen Erdflecken.
"Genau dort", versprach Kai, "Zwischen den langen Zweigen. Ich werde dort täglich schneiden."
Saja lächelte, dann stand sie auf. Die Zeit lief fort.
"Ich muss gehen. Morgen komme ich wieder", versprach sie. Kai winkte ihr hinterher und machte sich dann daran, den kleinen Erdflecken unter der großen Trauerweide von alten Blättern zu säubern.
Saja kam nicht wieder in den Park. Kai wartete den nächsten Tag, und den übernächsten. Er wartete eine Woche.
Dann wurde ihm mit plötzlicher Gewissheit klar, dass sie fort war.
Jemand anderes betrat seine kleine Welt, eine alte Frau, schwer auf einen Stock gestützt.
Kai half ihr zu der Bank am See. Die Frau setzte sich genau dorthin, wo Saja immer gesessen hatte.
"Ein wunderschöner Ort", begann die Dame.
"Ja", sagte Kai.
"Er wirkt ... alt."
"Wie aus einer anderen Zeit", erwiderte Kai.
Die Frau lächelte traurig.
"Wissen Sie - ich möchte Sie nicht mit dem Geschwätz einer alten Frau belästigen, doch ich muss es Ihnen einfach sagen: Ich hatte mal eine Freundin, die sehr oft hierher kam. Vielleicht kennen Sie sie - sie müssen damals dreißig gewesen sein, oder jünger."
"Hmm", sagte Kai.
"Jedenfalls hat sie diesen Park geliebt. Eine Zeitlang kam sie so oft her, wie sie konnte."
Kai nickte und setzte sich neben die alte Frau.
"Was ist dann passiert?", fragte er.
"Sie ist gestorben", sagte die alte Frau und gab ein trockenes, humorloses Lachen von sich: "Eine ganz alltägliche Geschichte. Sie wurde überfahren, auf dem Weg hierher. Das hat eine gewisse Ironie, finden Sie nicht?"
"Ja", sagte Kai.
Die alte Frau seufzte: "Sie war eine wunderbare Frau. Traurig. Sie hatte viele Probleme. Aber welche Kraft ihr dieser Ort gegeben hat ... ich hätte viel früher hierher kommen sollen. Sie hat oft von den Weiden gesprochen. Sie war so gerne hier."
"Herbst und Winter. Dann musste Saja gehen", sagte Kai.
Die alte Frau starrte ihn an: "Saja? Nein, so hieß sie nicht."
"Aber so hätte sie sich gerne genannt", sagte Kai und stand wieder auf: "Ich muss los."
"Weiter arbeiten?", fragte die Frau.
Kai schüttelte den Kopf.
"Ich arbeite hier nicht. Hab nur einmal ein halbes Jahr ein Praktikum gemacht. Aber im Herbst und im Winter komme ich her und schneide die Blätter in einem kleinen Teil vom Park", er deutete über den See: "Da drüben."
Die alte Frau schlurfte hinter ihm her zu dem kleinen Erdflecken unter der großen Trauerweide. In die alte Rinde war ein Name geritzt und jemand hatte sorgfältig alles Moos entfernt. Jetzt fiel der Frau auf, dass der Erdfleck leicht gewölbt war - wie ein Hügel.
Kai seufzte: "Ich habe den Park gehasst. Ich war als Strafe hier, weil ich Mittäter bei einem Raub war. Saja hat mir gezeigt, wie schön der Park sein kann. Wir waren nie einer Meinung. Aber Sie haben Recht, Madam. Saja war ein wundervoller Mensch."
In diesem Leben und in dieser Welt lebte sie fort, solange die Trauerweiden flüstern.