„Manche Wünsche sollten besser unausgesprochen bleiben.“
Der letzte Strahl der Abendsonne ging zwischen den hohen Bergen unter, die das kleine Tal wie stumme Wächter umstehen.
Jurei wanderte den schmalen Weg hinab in das von Schatten erfüllte Tiefland, seinen Wanderstab in der Hand und frierend in der kalten Abendluft. Der eisige Hauch folgte ihm aus den schneebedeckten Bergen herab zu dem kleinen Dorf.
Für Jurei war der Krieg vorbei. Für das kleine, verschneite Dörfchen noch lange nicht. Zwar gab es hier keine Kampfhandlungen, doch der Hunger wütete dafür umso grausamer. Jurei wünschte, er könnte noch etwas für seine Liebsten tun, für alle Dorfbewohner und für Sayelle.
Der Winter kam jetzt schnell und unbarmherzig. Er würde Kälte bringen, aber keine neuen Lebensmittel.
Wenigstens könnte er mit Sayelle reden und ihr Mut machen. Das war sehr viel mehr, als den meisten Soldaten möglich war.
Jurei schlich lautlos durch den Garten. Blumenbeete, Zierhecken, kleine Teiche, alles unter dem Schein des bleichen Mondes. Für die ersten Moment schien es, dass wenigstens der Palast und die Gärten vom Krieg verschont geblieben waren.
Dann sah er das wuchernde Unkraut, die toten Fische im Wasser. Auch hier tobten sich also Hunger und Elend aus. Das kleine Dorf in den Bergen, Zuflucht der königlichen Familie, war nicht sicher vor der Welt da draußen.
Keine Lampe beleuchtete Jureis Weg. Die Wachen bemerkten ihn nicht, wie er durch das düstere Labyrinth huschte, und dann in den Schatten des Säulengangs eintauchte.
Seine Schritte verursachten keine Geräusche. Eine Tür stand nur angelehnt, ließ die kalte Winterluft und Jurei in das Gebäude hinein.
Er stand in einem beinahe leeren Zimmer. Früher war hier vielleicht ein Gesellschaftsraum gewesen, Sitzgelegenheiten, kleine Tische und Vitrinen.
Jetzt war das Zimmer geräumt, einige Möbel mit weißem Tuch bedeckt. Angesichts der Armut ihres Volkes, schienen die Königlichen ihre eigenen Möbel zu verkaufen.
Jurei wanderte durch das Gebäude. Er kannte die Flure, die Treppen, jeden Winkel und jedes Versteck. Auf dem Weg zu Sayelle ließ er sich Zeit. Er wusste nicht, ob sie schlief oder wach war. Sie erwartete ihn ja nicht, glaubte ihn noch draußen auf dem Schlachtfeld.
Jurei schlich durch die vertrauen Zimmer, die jetzt alle leer und nur noch von Geistern bewohnt waren. Trauer schlich sich in seine Gedanken.
Er würde diesem Haus auch kein neues Leben mehr einhauchen können, würde das Königreich nicht mehr zu neuer Kraft führen. Langsam ging er die Treppen hinauf, strich mit der Hand über das von Raureif bedeckte, goldene Geländer.
Sayelle. Sie musste irgendwo dort oben sein. Die Sehnsucht zog ihn vorwärts, als dränge die Zeit, um mit ihr zu reden.
Er lief, kletterte die geschwungenen Treppen hinauf, lief durch das große Kaminzimmer, wo die Glut schon lange erkaltet war, durchquerte das Esszimmer, auf dessen langer Tafel nur Staub lag.
Als er die Tür zu Sayelles Zimmer erreichte, stand auch diese offen. Es war kalt im ganzen Haus. Er überlegte kurz, die Tür zu schließen, doch da stand er bereits im Rahmen und sah, dass das Bett zwar aufgewühlt, aber verlassen war.
Für einen Moment strich er über die weißen Laken, in der Hoffnung, einen Hauch von Sayelles Wärme zu ertasten. Doch der Stoff war kalt. Sie musste schon länger fort sein.
Jurei spürte, wie ihm ein Seufzen über die Lippen entwich.
Jetzt musste er seiner Frau auch noch nachjagen. Er verließ das Gemach der Königin und begab sich auf die Suche.
Seine eigene Schwäche machte ihn wütend. Er war hilflos, während sein Land im Krieg versank. Mit seiner geliebten Sayelle hatte er keine Nachkommen gezeugt, und jetzt, wo er dem Krieg den Rücken kehren musste, glaubte er dennoch nicht an eine Rettung.
Ein König, so fand er, gehörte in die Schlacht, zu den Männern, die dort ihre Leben ließen. Mehr noch hätte er alles tun sollen, um den Krieg zu verhindern, doch damals war er jung und ehrgeizig gewesen. Er hatte sein Königreich behalten wollen, und nicht eine weitere Provinz der größeren Mächte werden.
Was war er früher nur für ein Starrkopf gewesen! Auf der Suche nach Sayelle schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf.
Und immer wieder diese eine Frage: Wo steckte sie nur?
Als er das ganze Obergeschoss abgesucht hatte, versuchte er es einen Stock tiefer, bis er im Erdgeschoss war und immer noch keine Spur hatte. Draußen konnte sie nicht sein, er hätte sie im Garten bemerkt. Also ging er in den Keller.
Die Wände waren noch kälter. Wenigstens war es hier nicht feucht. Doch welcher Wahnsinn trieb sie hierhin?
Er fand sie tatsächlich.
Sie schlief auf einem Bett aus weißen Laken. Friedlich ruhte ihr Gesicht auf Seide und Silber, ein leichtes Lächeln spielte noch im Schlaf auf ihren Lippen.
Er berührte sie. Die Trauer verhinderte fast, dass er ihren Namen flüsterte: „Sayelle.“
Seine Stimme war ein hohles Flüstern. Fröstelte sie im Schlaf? Nein, es waren nur die Tränen, die ihm in die Augen stiegen.
Das war er also, der Moment des Abschiedes. Jurei spürte den Schmerz in der Brust. Er griff die Hand seiner Frau.
„Sayelle. Ich … ich muss mich von dir verabschieden“, begann er flüsternd. Es war kalt, so verdammt kalt: „Es tut mir so leid, mein Schatz. Ich werde nicht zu dir zurückkehren. Der Krieg ist vorbei. Für mich. Bald auch für das ganze Land. Hörst du mich, Schatz?“
Sayelle rührte sich nicht. Die Kälte griff nach Jurei, umschlang ihn.
Er spürte, wie die Zeit verrann. Nur wenige Stunden blieben ihm. Er hatte nur einen Wunsch gehabt, als der Speer ihn traf.
Abschied nehmen. Ein letztes Mal. Bevor ich in das große Nichts falle und diese Welt verlassen.
„Ich bin gefallen, Sayelle. Du musst das Land nun alleine führen. Du musst stark sein. Ich werde immer bei dir sein, in deinem Herzen. Versprich mir, dass du das Volk rettest. Kapituliere, tu, was nötig ist, tu, was ich nicht tun konnte. Sayelle -“
Jurei schluckte mit bebenden Lippen: „Sayelle, ich liebe dich. Mehr als alles auf der Welt. Mehr als mein Leben. Mein Tod ist unwichtig, solange ich weiß, dass es dir gut geht.“
Eine Nacht. Nur eine einzige Nacht. Er beugte sich über die schlafende Königin, um sie sachte zu küssen. Seine Tränen waren kleine Eiskristalle.
Selbst jetzt noch, wo er Angst um sein eigenes Schicksal haben sollte, war da nur Liebe in ihm.
„Ich habe viele Fehler gemacht“, verriet er ihr: „Aber du, du warst das, was ich richtig gemacht habe.“
Hier, im Hinterland, war sie sicher. Er hatte sie beschützt, mit seinem Leben. Aber sie würde leben und vielleicht einen neuen Sommer sehen.
Nach dem Krieg.
Jurei konnte sich nicht von ihr losreißen.
Dann fiel ihm die Stille auf.
Die Kälte.
Und ihre Regungslosigkeit.
„Sayelle?“, flüsterte Jurei und hörte seine Stimme widerhallen.
Sie rührte sich nicht – sie atmete nicht!
Jurei spürte Panik in sich aufsteigen – und einen stechenden Schmerz in der Herzgegend. Er spürte sein Herz schlagen!
Das war falsch, das war ganz falsch. Er ergriff Sayelles Hände und drückte sie an sein Gesicht, küsste die kalte Haut.
„Sayelle! Sayelle!“
Nur eine Nacht war ihm gegeben worden, um Abschied zu nehmen. Nur eine Nacht – dieses Geschenk war eine Lüge.
Sie konnte seine Worte nicht hören, und seine Tränen fielen auf ihr bleichen Gesicht. In diesem Moment starb Jurei.
Denn nicht er war tot, sondern sie.