„Liebe heißt, für das Wohl eines Anderen zu tun, was einem selbst nicht behagt.“
Der Tag fängt schon müde an. Träge Sonnenfinger tasten durch die Lücken in den Rollläden, zwängen sich durch die mikroskopischen Schlitze meiner geschlossenen Augen und rauben mir viel zu früh den Schlaf.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
Halb sechs. Ich hasse den Sommer. Im Winter, wenn es länger dunkel bleibt, kann ich auch länger schlafen.
Weil meine Mutter dann länger schläft.
Noch bevor ich aus dem Schlaf heraus richtig zu mir gekommen bin, höre ich bereits die Klingel. Ich quäle mich hoch. Die Glocke schrillt durch das leere Haus. Ich schlurfe auf den Flur. Der Geruch ist bereits hier unerträglich. Offene Abszesse. Dadurch, dass meine Mutter nur liegt und sich nicht von alleine bewegen kann.
Meine Mutter liegt im Zimmer nebenan, jedenfalls seit ich mein ehemaliges Kinderzimmer zugunsten der Wohnzimmercouch verlassen habe.
Als ich ihre Tür öffne, schlägt mir der Gestank mit aller Wucht entgegen. Der muffige Geruch hat sich über Nacht verdichtet und ist nun eine fast spürbare Wolke. Wie eine Faust in die Magengrube.
Ich sollte lüften. Aber Mutter friert so schnell.
Ich schlucke den Würgreiz herunter und lächele: „Guten Morgen!“
„Kai“, sagt sie und blickt mich unter schweren Augenlidern an. Jeden Morgen bin ich auf's Neue entsetzt, wie alt und verbraucht sie aussieht.
„Du siehst müde aus“, begrüßt sie mich. Ich hatte etwa zwei Stunden Schlaf. Aber das sage ich nicht. Ich sage: „Ich bin jung. Ich halte das aus.“
Aber ich bin bereits 37, und ich spüre jeden einzelnen Knochen und Muskel, als wäre ich doppelt so alt. Pflege ist kein leichter Job.
„Wie geht es dir?“, fragte ich sie und gehe um das Bett.
„Ich liege schon zu lange“, haucht sie schwach und versucht, sich zu bewegen, während ich die Vorhänge zur Seite ziehe und das ganze Elend des trostlosen Zimmers offenbare.
Das Bett steht mit dem Kopfende an der Wand, einen Schritt vom Fenster und zwei Meter von der anderen Wand und der Tür entfernt. Der Aufbau erinnert an ein Krankenhaus, aber ich brauche Platz, um die Windeln zu stapeln und mit dem Bodenlifter zu hantieren. An der Wand steht ein wackeliges Regal voller Medikamente und ein Rollstuhl hinter der Tür in der Ecke. Obwohl es keine wirkliche Einrichtung gibt – nur Pflegeartikel – ist das Zimmer voll und man kommt kaum durch.
Ich hole meine Mutter mit dem Lifter aus dem Bett. Sie ist zwar mager und dürr und wiegt nicht viel, doch schon das wenige Gewicht kann mein geschwächter Rücken nicht ertragen. Dadurch, dass ich sie so lange schon pflege und so lange auf einer schmalen Couch schlafe, bin ich nicht mehr so belastbar, wie ich es sein müsste.
Als erstes, wie jeden Morgen, bade ich sie. Dazu schiebe ich sie im Lifter in das Badezimmer. Wir mussten die Tür extra für den Lifter verbreitern lassen, sonst hätte ich ihn nicht durch den Rahmen bekommen. Ich streite mich immer noch mit der Krankenkasse darüber, wer die Kosten dafür übernimmt.
Ich drehe die Heizungen auf und lasse warmes Wasser einlaufen.
„Gestern im Fernsehen kam der Tatort“, erklärt mir meine Mutter.
„Worum ging es?“, frage ich.
Sie erzählt mir die Handlung des Krimis. So, wie sie mir jeden Morgen erzählt, was sie am Abend zuvor gesehen hat. Eine Zeitlang hatte ich diese Stunden genossen, in denen ich nachholen kann, wofür ich durch den Haushalt keine Zeit hatte. Meine Mutter konnte immer ausgesprochen gut Geschichten erzählen - vorzugsweise solche Geschichten, die mir peinlich waren, und dann vorzugsweise auf großen Familientreffen.
Jetzt können wir schon lange nicht mehr zu Familientreffen und werden auch nicht mehr eingeladen. Meine Mutter verliert häufig den Faden, überspringt Szenen, vergisst Namen oder redet plötzlich von etwas völlig anderem. Ich höre nur mit halbem Ohr zu. Eigentlich möchte ich nicht mitbekommen, wie oft sie einen Satz anfängt und ihn nicht beendet. Ich kontrolliere, dass das Wasser weder zu heiß, noch zu kalt ist, ziehe meine Mutter aus, begutachte ihren abgemagerten, von der langen Krankheit gezeichneten Körper. Ich lasse sie langsam in das lauwarme Wasser ab, damit sie sich an die Temperatur gewöhnt. Die Wanne ist knapp halb voll, so, dass man auf keinen Fall darin ertrinken kann, falls der Lifter einmal reißen sollte - das ist durchaus schon vorgekommen und meine Mutter hatte sich damals den Kopf aufgeschlagen. Tatsächlich hat das ihre Krankheit nur verstärkt.
Ich muss sie mit einem Waschlappen waschen, denn das flache Wasser bedeckt ihren Körper bei Weitem nicht. So kann ich besser darauf achten, dass ihre Wunden nicht schlimmer werden - es dauert aber auch länger. Als ich sie endlich hochfahre und in drei Handtücher wickelte, haben wir beide Hunger. Ich trockne sie sorgfältig ab und setze sie dann in ihren Rollstuhl. Das klapprige Gestell muss ich mit vielen Kissen polstern, sonst würde sich meine Mutter im Sitzen noch mehr verletzen. Als sie sitzt, bin ich bereit für die Wanne, aber das muss warten. Jetzt muss ich das Essen pürieren. Meine Mutter kriegt Suppe, die ich mit Zwieback andicke und püriertes Brot. Selbstständig essen kann sie nicht mehr. An manchen Tagen kann sie nicht einmal kauen, dann muss ich ihr durch die Nase eine Sonde legen und das Essen über eine Spritze in ihren Magen kriegen. Die größte Gefahr besteht dabei darin, dass die Sonde in ihre Lunge rutscht, statt in ihren Magen. Ich bin wirklich froh, dass mir das heute erspart bleibt. Ich sitze nur neben ihr und reiche ihr Löffel um Löffel wie einem kleinen Kind, meist mit je einem von ihren zahlreichen Medikamenten im Brei. Sie schluckt alleine, auch, wenn es jedes Mal ein Kampf ist. Nebenbei esse ich selbst, wische ihr den Sabber aus dem Mundwinkel und lasse die Tagesschau laufen. Wie immer passiert nichts in der Welt, dass mich interessieren würde.
Fast zwei Stunden füttere ich. Dann muss ich die Windeln wechseln. Wo ich gerade dabei bin, creme ich ihre vielen wunden Stellen ein.
Meine Mutter wird müde. Ich lasse sie schlafen und lehnte die Tür an.
Zeit, um Wäsche zu waschen, das Abendessen zu kochen und zu spülen - per Hand, weil die Spülmaschine kaputt ist. Doch ich lasse mir nur eine halbe Stunde für diese Aufgaben (ich brauche eine Viertelstunde länger), denn solange meine Mutter schläft, muss ich auch noch die Verordnungen durchgehen. Muss ich irgendwelche Medikamente neu verschreiben lassen? Habe ich irgendwelche Zahlungen nicht bekommen, oder muss ich noch etwas abbezahlen?
Täglich kommt irgendwas. Die Krankenkassen können keine Patienten leiden, die sie Geld kosten. Sie versuchen ständig, uns etwa zu streichen. Etwa die Windeln: Meine Mutter braucht spezielle Windeln, um die Druckstellen und Entzündungen nicht noch zu verschlimmern. Alle zwei Jahre kommt ein Brief von der Krankenkasse, dass wir doch bitte 70 Euro bei den Windeln zuzahlen oder ein Billigprodukt nehmen sollen.
Jedes Mal setze ich aufs Neue durch, dass wir die teuren Windeln brauchen. Aber jedes Mal stehe ich ein paar Wochen ohne Lieferung da; obwohl ich inzwischen einn Vorrat im Keller horte.
Ich habe kaum mit dem Papierkram angefangen, als meine Mutter auch schon aufwacht.
"Es tut alles weh!", jammert sie, als ich auf ihr Klingeln reagiere. Ihre Haut ist bereits blass - ich weiß, dass sie schon eine ganze Weile gegen die Schmerzen kämpft. Sie wollte mich nicht stören.
Ich unterdrücke ein mitleidiges oder auch erschöpftes Seufzen. Dann lagere ich sie um, setze sie in den Rollstuhl und lege sie wieder ins Bett. Sie findet keine bequeme Lage, bis zum Abendessen nicht.
Heute gibt es Eintopf aus Resten. Ich bin zu lange nicht mehr zum Einkaufen gekommen. Es schmeckt furchtbar, aber meine Mutter lobt meine Kochkünste trotzdem.
Ich wickele sie nochmal. Dann muss ich sie waschen, denn sie ist inkontinent und hat den Kot überall verschmiert. Als ich sie in frische Sachen packe und das beschmutzte Zeug in den Wäschekorb bringen will, fasst sie mit kraftlosem Griff meine Hand: "Es tut mir so leid!"
Ich winke ab. Sie kann nichts dafür, dass sie alt ist. Sie hat meine WIndeln gewechselt, jetzt wechsele ich ihre. Das ist der Kreislauf des Lebens.
Abends sitzen wir vor dem Fernseher. Eigentlich müsste ich durch die Papiere gehen, mit der Krankenkasse telefonieren - sie wollen unsere Unterstützung kürzen, ich müsste einen Einkaufszettel schreiben, die dreckige Wäsche waschen, ... ich müsste so vieles.
Ich bin einfach nur müde. Selbst die Aussicht, dass wir bald kein Geld mehr bekommen, erschreckt mich nicht mehr. Ich bin müde. Meine Muskeln schmerzen. Eigentlich kann ich keinen Finger mehr rühren.
Also sitze ich neben meiner Mutter, ihren Kopf auf meiner Schulter. Sie wimmert ab und zu leise. Sie gibt sich alle Mühe, dass ich sie nicht höre. Ich höre es dennoch und weiß, dass es schlimm ist. Ich halte sie.
Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über Beutelratten in Australien. Ich achte kaum auf den Inhalt. Ich schlafe mit offenen Augen. Dabei darf ich noch nicht schlafen, ich muss gleich meine Mutter noch ins Bett bringen.
„Du wolltest auch nach Australien“, sagt sie unvermittelt. Ich setze mich auf: „Was?“
„Du wolltest nach Australien. Nach dem Abi“, erklärt sie mir.
Ich nicke. Ja. Ich wollte nach Australien, oder nach Neuseeland. Bevor ich Medizin studiere.
„Ich war in Australien, Mama“, sage ich ruhig.
„Aber du musstest zurück. Wegen mir.“
Mein Vater war gestorben, als ich gerade zwei Wochen auf dem Kontinent gewesen war. Ich flog sofort zurück.
Meine Mutter hat den Tod meines Vaters nie verkraftet. Sie wurde krank. Und kränker.
Das ist zwanzig Jahre her.
„Du wolltest Medizin studieren“, sagt meine Mutter verträumt, „Ich halte dich die ganze Zeit nur auf!“
„Nein! Auf keinen Fall, Mutter!“, sage ich schnell: „Ich bin gerne bei dir!“
„Du musst studieren. Geld verdienen“, sagt sie, „Du solltest mich nicht pflegen müssen.“
„Ich kann dich nicht in ein Heim geben!“, sage ich sofort.
„Ich weiß“, antwortet sie.
Die Beutelmäuse sind echt niedlich. Winzig. Sie krabbeln und die Blumen und wirken nicht viel größer als Insekten.
„Danke“, sagt meine Mutter.
Später, als die Doku vorbei ist, bringe ich sie ins Bett und hole noch ihre Medikamente. Jeder Schritt ist eine Qual.
Sie brabbelt leise vor sich hin, redet mit meinem Vater, schimpft auf Menschen, die nicht mehr leben. Sie fragt mich, wo ihre Badesachen sind und will aufstehen, bevor ich sie zurück ins Bett bringe und das Gitter hochklappe.
Lange stehe ich vor ihr, höre ihrem sinnlosen Gerede zu und denke nach.
Es ist dunkel in dem Zimmer. Die Luft riecht muffig.
Wir haben keine Ersparnisse mehr. Und die Unterstützung soll uns gestrichen werden. Ich bin so müde. Ich habe keine Kraft mehr.
Das Schlimmste ist, meine Mutter so zu sehen. Ich spüre, wie mir die Tränen kommen, als ich an sie denke, wie sie früher war.
Eine lebenslustige und starke Frau, kein psychisches Wrack.
Ich hole ihre Medikamente. Schmerzmittel, Psychopharmaka, ein paar andere Sachen, gegen den Alzheimer und gegen spastische Anfälle, Blutverdünner, Medikamente gegen die Nebenwirkungen anderer Medikamente.
Manchmal kommt es mir so vor, als wäre meine Mutter ein ausgestopftes Tier, ein Museumsstück, dass ich einlegen und präparieren muss, damit es nicht zerfällt.
Da fällt mein Blick auf das Morphium.
Eigentlich ist es nur für die Tage, an denen es meiner Mutter sehr schlecht geht. Wenn sie vor lauter Schmerzen die Augen nicht schließen kann. Wenn sie schreit und sich selbst schlägt.
Das Morphiumfläschchen sieht einem anderen Medikament sehr ähnlich. Ich gebe zwanzig Tropfen von dem einen Medikament in ein Glas Wasser, wie immer. Ich bringe das Sammelsurium an Medikamenten meiner Mutter. Sie erkennt mich nicht und hält mich für einen alten Freund. Ich nicke und rede mit ihr, während ich ihr die Medikamente gebe. Sie vergisst, zu schlucken. Wasser läuft aus ihrem Mundwinkel, gelblich und blau verfärbt. Ich gebe die Medikamente, die sie so verliert, nochmal. Ungefähr die gleiche Menge. Zwanzig Tropfen im Wasser.
Ich kann ja nicht sehen, wie viel sie wieder ausgespuckt hat. Manchmal frage ich mich, ob meine Mutter so krank ist, weil ich die Medikamente bei solchen Gelegenheiten falsch dosiere.
Meine Mutter schließt erschöpft die Augen.
Ohne zu wissen, wer ich bin.
Ich küsse ihre kalte Stirn.
Ein Pflegefehler.
Sowas kommt vor, wenn man übermüdet Medikamente gibt. Ich streiche mir über die Stirn und schleiche in das Wohnzimmer.
Ich falle mit einem leeren Gefühl im Bauch auf die Couch.
Ich hab noch nicht zu Abend gegessen!
Egal. Keine Zeit, noch was zu kochen.
Obwohl meine Finger zittern.
Es ist kalt im Haus.
So kalt.
Dabei friert meine Mutter doch so schnell!
Ich stehe auf und schließe das Fenster. Dann kehrt Stille ein.