„Nichts trennt stärker als das Schweigen.“
Tag 1
„Hey!“
„Oh. Hallo.“
[eine Pause]
„Wie heißt du?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Warum nicht?“
„Du bist auf der anderen Seite.“
„Oh.“
[eine weitere Pause]
„Es ist eine große Schlucht, nicht wahr?“
„Groß und tief, bis in die Grundfesten der Erde hinab.“
„Echt?“
„Das sagt jedenfalls mein Vater immer.“
„Oh. Warum hat man nie eine Brücke gebaut?“
„Das siehst du doch. Die Schlucht ist so breit, dass ich dich kaum sehen kann. Ein Wunder, dass der Wind deine Stimme nicht fortreißt!“
„Ja, sie ist sehr breit. Groß und tief und breit. Ist niemals Jemand außen herum gegangen?“
„Es gibt kein Außen herum.“
„Wirklich nicht?“
„Nein. Viele haben es versucht. Du kannst ja selbst gehen. Aber die Schlucht hört nicht einfach auf.“
„Woher weißt du das? Hat das auch dein Vater gesagt?“
„Nein, das sagen alle. Du kannst, bist du stirbst, die Schlucht hört nicht auf. Manchmal kommen Wanderer. Mönche, weise Männer und Narren. Sie suchen das Ende der Schlucht, und manche sind ihr ganzes Leben gegangen, und ihre Väter vor ihnen, und deren Väter, aber Niemand kann von einer Stelle berichten, wo die Schlucht auch nur schmaler wäre.“
„Dann gibt es nur diese und jene Seite – aber keinen Übergang?“
„Nein.“
[Pause]
„Weißt du – ich bin neugierig. Wie ist es drüben? Anders als hier?“
„Das kann ich nur sagen, wenn ich weiß, wie es bei dir ist. Erzähl mir etwas.“
„Aber ich darf dir nichts erzählen – und du mir sicher auch nichts. Weil du doch von dort bist und ich von hier.“
„Vielleicht … erzählen wir nur ganz unwichtige Dinge? Nichts über unsere Familien oder über unsere Heimat, sondern nur … über die Natur?“
„Ja, das kann wohl kaum falsch sein.“
[Pause]
„Also?“
„Nun ja. Wir haben hier Bäume. Und Vögel. Und Rehe. Und Dachse. ... Ich hab sogar mal einen Fuchs gesehen.“
„Was ist ein Fuchs?“
„Na, so ein rotes Tier. Mit vier Beinen, Ohren, einem buschigen Schwanz ...“
„Oh. Und ein Dachs?“
„Er ist etwas kleiner und runder. Und schwarz-weiß.“
„Ach. Und Rehe?“
„Kennst du denn drüben nichts davon?“
„Nein. Tut mir leid. Ich kenne auch keine Bäume. Aber Vögel, die kenne ich.“
„Ja, Vögel können ja auch herüber fliegen.“
„Das stimmt wohl.“
„Ja.“
[Pause]
„Darf ich jetzt fragen?“
„Tu es.“
„Was habt ihr drüben?“
„Wir haben Kakteen. Und Sand. Und Schlangen. Kamele.“
„Was ist das alles?“
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Kakteen sind grün und stachelig. Und Sand ist rau und heiß. Schlangen sind gefährlich. Kamele sind gemütlich.“
„Hmm. Weißt du, ich glaube, ich verstehe ein bisschen.“
„Das ist schön. Aber ich muss jetzt gehen. Ich soll nicht an die Schlucht.“
„Ich auch nicht. Kommst du wieder?“
„Ich weiß nicht.“
Tag 2
„Du bist ja wieder da.“
„Oh. Ich habe dich nicht kommen gehört.“
„Der Wind ist ja auch sehr stark heute.“
„Was?“
„Ich sagte, der Wind wäre heute sehr stark.“
[Pause]
„Sehr, sehr stark. Ich finde es unheimlich, wie er brüllt.“
„Ich weiß, was du meinst.“
[Pause]
„Ob der Wind auch Angst vor uns hat?“
„Was?“
„Ich überlegte, ob der Wind wohl auch Angst vor uns hat!“
„Warum sollte er?“
„Weil wir doch auch brüllen!“
„Du bist witzig.“
„ … Danke.“
[Pause]
„Ich glaube, der Wind wird stärker.“
„Ja, und es regnet bald.“
„Was?“
„Ich sagte, es regnet bald!“
„Was ist regnet?“
„Oh. Das ist … das sind Wassertropfen. Aus dem Himmel.“
„Wasser aus dem Himmel?“
„Lass es mich anders probieren: Regen ist kalt. Und deprimierend.“
„Oh. Dann gehst du nach Hause?“
„Ja. Ich weiß nicht, ob ich wiederkommen kann.“
„Ich auch nicht.“
[Pause]
„Dann … Wiedersehen?“
„Ja. Auf Wiedersehen.“
Tag 3
„Hallo.“
„Hallo.“
[Pause]
„Warum kommst du immer her?“
„Ich weiß nicht.“
„Du weißt ziemlich wenig.“
„Du stellst doch immer die Fragen.“
„Welche Fragen?“
„»Wie kommt man über die Schlucht, wie sieht es bei dir aus, kommst du wieder?«. Die Fragen. Und immer sind es die gleichen, dummen Fragen!“
„Aber die Fragen sind nicht dumm!“
„Doch, sind sie!“
[Pause]
„Bist du sauer?“
„Ja.“
„Warum?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Aber ich habe viel Ärger bekommen.“
„Weil du hier bist?“
„Auch.“
„Das tut mir leid. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.“
[Pause]
„Glaubst du, ich komme nur wegen dir hier hin?“
„Nein. Du warst ja auch vorher hier.“
„Genau!“
„Und du bist hier, obwohl du nicht mit mir sprechen willst.“
„Siehst du!“
[Pause]
„Ich bin einfach gerne hier.“
„Ich auch. Ich mag die Schlucht. Sie ist so ...“
„Tief?“
„Groß wollte ich sagen. Daneben wirkt alles andere klein und … unbedeutend.“
„Hast du dann keine Angst?“
„Nein. Wovor denn?“
„Na, vor der Tiefe. Und vor dir selbst.“
[Pause]
„Du hast Angst, oder?“
[Pause]
„Ja.“
[Pause]
„Ich finde es friedlich hier. Ich habe Angst davor, nach Hause zu gehen. Aber du hast Angst vor der Schlucht – ist es dann friedlich bei dir Zuhause?“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“
„Aber hier bist du doch sicher. Hier muss man keine Angst haben.“
„Ich bin nirgendwo sicher.“
„Kannst du mir das erklären?“
[Pause]
„Ich … ich habe das Niemandem gesagt.“
„Du musst keine Angst haben.“
„Aber ich kenne dich nicht. Ich – ich weiß nicht.“
„Du musst es mir nicht sagen.“
„Ich will nicht, dass du mich hasst o-oder ablehnst.“
„Keine Angst. Ich bin ja hier drüben. Ich kann dich gar nicht hassen.“
„Gut.“
[Pause]
„Willst du mich denn nicht drängen?“
„Nein. Du musst dir sicher sein.“
„G-gut. Also. Ich habe Angst. Vor mir.“
„Warum denn?“
„Ich – ich habe Angst, dass ich mir etwas antue.“
„Warum solltest du das tun?“
„Weil ich es schon getan habe. Im Traum.“
„Im Traum?“
„Ich habe seltsame Träume gehabt. Und ich bin gestorben. Aber das Schlimmste war, es tat nicht weh. Es war … friedlich.“
„Deshalb hast du Angst.“
„Weil ich nicht weiß, ob ich aufhören kann, zu träumen.“
„Dann sag mir Bescheid, wenn du wieder träumt. Und ich wecke dich.“
„Aber, weißt du, ich möchte nicht aufwachen. Wenn ich aufwache, das ist, als müsste ich von der Schlucht nach Hause gehen. Dann habe ich keine Angst mehr vor mir, aber dafür Angst vor … allem anderen.“
„Wovor genau?“
„Das – das verstehst du bestimmt nicht.“
„Darf ich raten?“
„Ja.“
„Hast du Angst vor der Veränderung?“
„Ja.“
„Große Angst?“
„Ja!“
[Pause]
„Ich auch.“
„Bei dir auch?“
„Menschen sind doch überall gleich. Auf dieser oder auf jeder Seite.“
„Das kann wahr sein.“
„Sind es bei dir auch deine Eltern?“
„Ja. Tag und Nacht.“
„Weißt du, ich habe gelogen. Eigentlich ist es ihnen egal, wo ich bin. Das heißt, ich darf hier sein.“
„Ich auch.“
„Was hast du gesagt? Du musst lauter sprechen, bitte!“
„Ich habe auch gelogen. Es tut mir leid.“
„Ach, nicht so schlimm.“
„Doch. Weil ich nicht mehr aufhöre.“
„Du bist doch jetzt ehrlich zu mir.“
„Ja, aber sonst.“
„Du musst nur ehrlich zu dir selbst sein.“
„Das reicht?“
„Ja. Glaube ich.“
[Pause]
„Ich sollte jetzt gehen.“
„Ich weiß. Viel Glück.“
„Wobei?“
„Das weißt du doch. Wer stellt jetzt die dummen Fragen?“
„Ja. Danke.“
Tag 4
„Da bist du ja wieder!“
„Tut mir leid. Hat länger gedauert.“
„Kein Problem.“
„Hast du jeden Tag auf mich gewartet?“
„Fast jeden.“
[Pause]
„Und?“
„Ja. Es hat geklappt.“
„Und was hast du herausgefunden?“
„Naja. Es ist nicht schön.“
„Ich habe niemals geglaubt, dass es schön wird.“
„Ja, aber es ist wirklich traurig.“
„Du musst es nicht erzählen.“
„Ich – wirklich nicht?“
„Ich habe es auch herausgefunden.“
„Wann?!“
„Schon lange.“
„Schon lange? Dann … muss es nicht jetzt sein?“
„Nein. Ganz bestimmt muss es nicht jetzt sein. Kann ja sein, dass sich noch etwas ändert.“
„Ich glaube nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Warum bist du noch hier?“
„Weil ich Hoffnung hatte.“
„Dann bist du sehr tapfer. Tapferer als ich sein kann.“
„Versprichst du mir etwas?“
„Was denn?“
„Weißt du – ich bin nicht tapfer. Ich habe Angst. Da hab ich auch gelogen – als ich sagte, ich hätte keine Angst.“
„Das hast du gesagt?“
„Ich sagte, die Schlucht würde mir keine Angst machen. Das stimmt nicht. Sie macht mir sogar große Angst.“
„Deshalb?“
„Ja. Deshalb. Hilfst du mir?“
„Du hast mir auch geholfen.“
„Aber nicht jetzt, ja?“
„Warum nicht jetzt?“
„Weil ich noch was tun muss. Nur eine Kleinigkeit.“
„Ich auch. Vielleicht.“
„Dann … warte hier auf mich, wenn du bereits bist.“
„Und du wartest auch auf mich?“
„Ja.“
Tag 5
„Du bist wieder da!“
„Es war lange her.“
„Ja. Hast du auf mich gewartet?“
„Nicht immer. Ab und zu. In den letzten Jahren häufiger.“
„Ich war auch ab und zu hier. Mal lange. Mal kurz.“
„Hast du alles erledigt?“
„Ich glaube.“
„Ich glaube, ich auch.“
[Pause]
„Du – darf ich dir was sagen?“
„Natürlich.“
„Ich – ich habe immer an dich gedacht. Also, wirklich immer.“
„Ich – ich auch an dich.“
„Schon lustig.“
„Meinst du?“
„Ja. Weil da doch die Schlucht ist.“
„Hmm. Ich finde es eher traurig.“
„Keine Angst.“
„Ich habe keine Angst. Nicht mehr.“
„Das ist gut.“
[Pause]
„Also, ich denke, ich liebe dich.“
„Es passt irgendwie. Wie ein Puzzlestück, das noch gefehlt hat.“
„Ja, genau so.“
„Ist das Liebe?“
„Ein Puzzlestück? Nein. Liebe ist das Puzzle.“
„Achso.“
„Aber wir sind ein Puzzlestück. Deswegen passt es.“
„Und die Schlucht?“
„Die ist das Wichtigste.“
„Ich glaube, ich verstehe es jetzt.“
„Ja? Dann gib mir die Hand.“