„Es heißt, der erste Satz einer Geschichte sei der Entscheidende. Dass von ihm abhängt, ob ein Leser das Buch mag oder nicht, ob der Verlag weiter liest oder aufgibt, ob es eine lustige, spannende, nachdenkliche oder romantische Geschichte wird.
Ich sehe das anders. Sicher, für ein Buch mag der erste Satz wichtig sein. Für die Geschichte ist nur das Ende wichtig.“
"Was schreibsten?", fragt Markus und schiebt sich samt Stuhl und Bierglas näher.
Ich sehe von meinem Notizblock auf: "Keine Ahnung. Eigentlich bewege ich nur den Stift, während ich denke."
"Und woran denkste?", Markus nimmt einen Schluck aus dem Glas. Seine Wangen sind gerötet. Ich kann den Alkohol in seinem Atem riechen, aber noch ist er nicht betrunken. Ich seufze.
"An nichts besonderes."
Markus kennt mich. Er schlägt mir auf den Rücken: "Mach dir keinen Kopf darum. Das waren nur Idioten."
Es ist wirklich nichts besonderes. Menschen reagieren manchmal seltsam darauf, wenn sie mich und Markus sehen, zwei Jungen, Arm in Arm, Lippen auf Lippen. Es kommt vor, das einer uns beschimpft, dass Mütter mit ihren Söhnen die Straßenseite wechseln, dass man uns schief ansieht.
Markus nimmt das auf die leichte Schulter. Ich bemühe mich, die Blicke und Schimpfworte zu ignorieren, doch sie tun jedes Mal weh. Heute hat sich eine alte Frau im Bus weggesetzt, als sie bemerkte, dass sie Händchen halten. Wirklich nichts besonders.
Markus schiebt mir ein Glas vor die Nase: "Trink. Und Vergisses."
Ich nicke stumm, hebe das Glas und trinke. Ich bin nicht so trinkfest wie mein Freund, obwohl er hart daran arbeitet. Nach einigen Schlucken setze ich mein Bier wieder ab. Ich male sinnlose Kreise unter meine Notizen. Die Kneipe ist überfüllt. Irgendjemand hält eine Geburtstagsparty mit viel Lärm und noch mehr Alkohol. Ansonsten sind die Tische besetzt von kleinen Gruppen, die fast ausnahmslos angeregte Gespräche führen. Nur an einem Tisch sitzen zwei Mädchen, vielleicht Freundinnen, die nur schweigend Muster in die Bierflecken malen.
Markus sieht sich um: "Wo bleiben die denn?!"
Ich hebe den Kopf. Von Thomas und Maxi ist noch immer nichts gesehen. Es ist normal, dass sie sich eine halbe oder Dreiviertelstunde verspäten. Jetzt ist eine Stunde um und Markus wird zusehends genervt. Ich wittere eine Katastrophe, bestehend aus zu viel Alkohol und hochkochenden Gefühlen. Ich fasse ihn am Arm: "Vielleicht hat die Bahn Verspätung. Wir können zur Haltestelle gehen und nachsehen."
Markus zögert, dann nickt er. Bevor wir gehen, leert er sein Glas auf einen Zug. Nach einem kurzen Blick schiebe ich mein halbleeres Bierglas zu ihm herüber.
Draußen ist die Luft kalt. Ich ziehe die Hände tief in die Ärmel meiner Jacke. Markus scheint die Kälte nicht zu fühlen. Dabei trägt er nur eine dünne Lederjacke. Mir wird vom Hinsehen noch kälter.
Wir müssen drei Häuserblocks umrunden, um zur Haltestelle zu kommen. Doch so weit kommen wir nicht, denn aus einer Seitengasse hören wir plötzlich Lärm und Stimmen. Ich packe Markus am Arm, als ich Angst bekomme. Ganz deutlich höre ich Maxis Stimme.
Markus geht mit selbstbewussten Schritten auf die Gasse zu. Darin sehe ich mehrere Menschen, bestimmt zehn oder so.
Dann sehe ich zwei weitere Menschen, die auf dem Boden liegen und von den zehn umkreist werden.
"Nein!", schreit eine der Gestalten.
Maxi.
Ich weiche zurück. Das sind Maxi und Thomas, die da zusammengeschlagen werden! Markus scheint die Gefahr nicht zu erkennen, sondern brüllt: "Was ist hier los?"
Die zehn Männer fahren wie ein Wolfsrudel herum. Mir bleibt fast das Herz stehen, als sich dunkle Blicke in uns bohren.
"Das geht dich nichts an!", knurrt einer.
Jetzt sieht wohl auch Markus, wen sie da verprügeln, denn er stolpert zurück und tastet nach meiner Hand. Ich fasse zu, ohne nachzudenken.
"Ey! Noch mehr Schwuchteln!", brüllt ein anderer von den zehn. Ich sehe, wie Thomas vom Boden aufsieht. Blut läuft über sein Gesicht. Ich ziehe Markus zurück. Wir müssen hier weg!
Mehrere der Jungen brüllen wortlos, wie Tiere. Ich kann sehen, dass sie betrunken sind. Einige halten die leeren Flaschen wie Waffen.
Markus hinter mir her ziehend renne ich zu der Kneipe zurück. Er folgt mir stolpernd, ohne zu verstehen, was vor sich geht. Ich kann nur daran denken, dass wir uns in der Kneipe vielleicht verstecken könnten. Hinter uns höre ich viel Füße, die auf das Pflaster knallen. Die Betrunkenen folgen uns.
Ich sehe endlich den Lichtschein, der aus der Tür der Kneipe dringt. Blitzschnell ziehe ich Markus hinein und schlage die Tür hinter uns zu. Doch unsere Verfolger sehen uns verschwinden.
Im Inneren herrscht Stille. Mehrere Betrunkene starren uns an, wie wir keuchend im Eingang stehen.
Wir müssen uns verstecken! Ich zerre Markus weiter, hinter uns fliegt die Tür erneut auf.
"Feige Schwuchteln!", brüllt eine Stimme durch den ganzen Schankraum: "Kommt zurück!"
Ich wühle mich durch die Stehenden und an den Tischen vorbei, Markus am Ärmel gepackt. Gibt es denn hier keine Toiletten oder einen Hinterraum? Warum rührt sich keiner?
Doch ich stehe urplötzlich vor einer Wand voller Fotos. Keine Tür. Kein Fluchtweg. Erschrocken drehe ich mich um. Den zehn Verfolgern wird Platz gemacht. Die anderen Gäste sind zu ängstlich, um uns zu helfen. Ich fühle mich in dem überfüllten Raum vollkommen allein, als ich Markus hinter mich zerre.
"Na? Weiter könnt ihr nicht rennen!", feixt einer der Verfolger: "Auf sie!"
"Hey!"; fährt eine Stimme dazwischen. Im letzten Moment.
Alle Augen richten sich auf ein blondes Mädchen, das jetzt aufsteht. Sie wirft den Kopf zurück und stellt sich zwischen uns und die Verfolger. Ihre Brünette Freundin folgt ihr zögerlicher. Es sind die beiden Mädchen, die ich vorher bereits bemerkt hatte.
"Was wollt ihr denn?", schimpft einer der zehn Männer und will sich an dem Mädchen vorbei drängen: "Was wir mit den Schwulettis machen, geht euch nichts an!"
"Das geht uns sehr wohl was an", sagt das Mädchen: "Diese "Schwulettis"", sie formt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft: "Sind zufällig unsere Freunde!"
Ein paar der Männer lachen. Die Brünette zückt ein kleines, schwarzes Handy und droht mit dünner Stimme: "Ich rufe die Polizei!"
"Nie im Leben sind das eure Freunde! Aus dem Weg!", knurrt einer der zehn. Jetzt stehen auch weitere Menschen auf und sprechen Drohungen aus - manche gegen die Eindringlinge, manche schimpfen auch gegen Markus und mich sowie die beiden Mädchen. Zwei Lager formen sich in der Kneipe, als mehrere Menschen zu uns treten. Ergriffen merke ich, dass sich mehr Menschen hinter mich stellen als sitzenbleiben oder zu den zehn Fremden gehen.
"Wir glauben euch nicht!", schreit einer der zehn.
"Sollen wir es euch beweisen?", schreit die Blondine mit blitzenden Augen und deutet auf mich: "Das da ist Sam, mein Freund!"
Das ist natürlich nicht mein Name, doch ich nicke mit dem, was ich für einen festen Blick halte. Ehe ich mich versehe, hat mich das blonde Mädchen am Kragen gepackt und zerrt mich neben sich. Ich lasse Markus los und stolpere an ihre Seite.
"Wohl eher Samantha!", höhnt einer der Zehn und spuckt vor dem Mädchen auf den Boden. Ich dränge mich vor: "Lasst meine Freundin in Ruhe!"
Die Atmosphäre ist geladen. Die Gäste der Kneipe beobachten uns wie gierige Geier. Das blonde Mädchen nimmt meine Hand. Irgendwie kribbelt meine Haut.
Doch einer der Gäste fällt uns in den Rücken: "Die Jungen waren vorher schon hier! Händchen halten!"
Die Fremden grinsen triumphierend. Alkohol und Hass schaukeln sich zu einer gefährlichen Mischung hoch. Meine Hände werden schwitzig. Die Brünette tippt jetzt auf ihr Handy und nimmt es ans Ohr. Es ist keine Drohung mehr. Ich merke, wie die Situation kurz vor einer Katastrophe steht. Entsetzt schließe ich die Augen, als Markus vor taumelt. Der Schreck, als wir Thomas und Maxi gefunden haben, hat ihn zwar größtenteils nüchtern gemacht, doch er ist immer leicht reizbar gewesen.
"Verschwindet, oder meine Faust macht euch gleich zu Homos!", brüllt er. Ich bin erleichtert, dass er die Maskerade aufrecht erhält, gleichzeitig sehe ich jedoch, wie mehrere der Fremden die Fäuste heben. Auch Markus tritt kampfbereit vor.
"Wir beweisen es euch!", schreit das Mädchen an meiner Seite. Ich höre die Verzweiflung in ihrer Stimme.
Plötzlich liegen ihre Hände an meinen Wangen und ihr Gesicht ist meinem ganz nah. Unsere Lippen berühren sich.
Ich bin vollkommen überrascht. Zuerst erwidere ich ihren Kuss nicht, doch ihre Hand zwickt mich ganz leicht in die Wange. Ich erinnere mich wieder. Wir stehen in der Kneipe. Unser Leben ist auf dem Spiel.
Ich küsse sie.
Es ist nicht einmal so anders, als einen Jungen zu küssen. Ihre Lippen sind weich und warm. Ich schmecke das Bier, das sie getrunken hat und das Salz von Erdnüssen, die hier überall in kleinen Schalen auf den Tischen stehen. Ich schließe die Augen und entspanne mich. Für die Show, natürlich.
Ihre Arme sinken langsam von meinen Schultern herunter. Ihr Körper schmiegt sich an sich. Ich spüre ihre Brüste.
Natürlich habe ich schon früher Mädchen geküsst. Aber es hat sich immer falsch angefühlt. Widerlich.
Diesmal ist es anders. Es ist noch schöner, als Markus zu küssen, und dabei liebe ich ihn.
Dachte, ich liebe ihn.
Jetzt spüre ich, wie sich etwas in meiner Hose regt. Etwas, dass Niemand hier bemerken darf, nicht Markus und auf keinen Fall das Mädchen.
Doch als sie sich von mir löst, fällt der Blick der Verfolger genau auf die Beule in meinem Schritt. Ich werde rot und wünsche mir nichts sehnlicher, als im Boden zu versinken.
Tief, tief im Boden.
"Kein Zweifel. Der steht auf Frauen", kommentiert einer.
Die ersten treten von der Gruppe der Schwulenhasser zurück. Unsere zehn Verfolger merken, dass sie in der Unterzahl sind.
Ich stehe inmitten all der Menschen. Ich sehe Markus' weit aufgerissene Augen. Ich sehe auch das blonde Mädchen lächeln. Ihre Freundin telefoniert mit der Polizei und berichtet von der Situation.
"Sie sollen einen Krankenwagen schicken", sage ich, als mir Thomas und Maxi einfallen, die irgendwo blutend in einer Gasse liegen. Ich möchte an alles andere denken als an meinen Körper.
Die zehn Männer ziehen sich zurück. Ich spüre meine Beine zittern und werde auf einen Stuhl gedrückt. Jemand spendiert mir, Markus und unseren Retterinnen ein Bier.
Die Blonde lächelt mich an: „Entschuldigung. Ich wusste nicht, wie ich euch sonst helfen sollte.“
Sie reicht mir eine Hand. Ich schüttele sie und sage nichts. Ich bemerke Markus' Blick von der Seite.
„Unverantwortlich!“, echauffiert sich die Brünette und lehnt sich zu Markus: „Manche Menschen sind so veraltet! Marisol und ich haben die gleichen Probleme!“
Und sie greift die Hand der Blonden.
Aus irgendeinem Grund spüre ich einen Stich im Herzen. Einen tiefen, schmerzhaften Stich.
Bald kommt der Krankenwagen. Ich laufe mit Markus los und führe die Sanitäter zu der schmalen Gasse, wo Thomas und Maxi noch liegen. Sie werden in den Wagen gehoben. Wir müssen vor der Polizei aussagen, einige der Gäste werden ebenfalls ausgefragt. Markus und ich werden auf einen Schock untersucht.
Als wir zurück in die Kneipe kommen, ist es bereits der nächste Morgen.
Marisol und ihre Freundin ist fort. Nur Markus ist an meiner Seite.
„So schnell hast du bei mir nie einen Steifen bekommen“, sagt er mit kalter Stimme. Er ist inzwischen gänzlich nüchtern. Ich suche den Raum wieder und wieder ab, aber von meiner Retterin ist nichts zu sehen. Es sind überhaupt nur noch wenige Gäste hier.
Sie ist weg.
Es erschreckt mich, wie sehr ich sie vermisse, und das, obwohl ich nur kurz mit ihr gesprochen habe. Marisol. Der Name klingt nach Mai und Sonne. Vielleicht bedeutet „sol“ auch Einsamkeit. Ich glaube, sowas hatte ich mal in Latein.
Ich will sie wiedersehen. Aber sie ist lesbisch. Ich bin schwul.
Dachte ich.
„Hey, hörste mir zu?“, fährt Markus mich an: „Ich sagte, ich gehe jetzt!“
„Okay“, sage ich, „bis dann.“
„Kein „Bis dann“. Leb wohl.“
Die Tür fällt hinter Markus ins Schloss. Es macht mir nichts, dass er mich verlässt. Ich habe mich hoffnungslos in ein Mädchen verliebt, von dem ich nicht mehr als ihren Namen weiß.
Das stimmt nicht ganz. Ich weiß, dass sie eine gute Küsserin ist. Ein wunderschöner Engel. Eine mutige Kriegerin. Ich weiß, dass sie meine Traumfrau ist.
Und ich weiß, dass ich sie niemals wiedersehen werde.
„Es heißt, der erste Satz einer Geschichte sei der Entscheidende. Dass von ihm abhängt, ob ein Leser das Buch mag oder nicht, ob der Verlag weiter liest oder aufgibt, ob es eine lustige, spannende, nachdenkliche oder romantische Geschichte wird.
Ich sehe das anders. Sicher, für ein Buch mag der erste Satz wichtig sein. Für die Geschichte ist nur das Ende wichtig.“
Egal, wie schön eine Geschichte anfängt, am Ende bleibt nur der fade Geschmack des Endes.