„Für einen einzelnen Wolf (auch den Haushund) gehört die Katze ins Beuteschema und löst daher den Jagdinstinkt aus. Die Katze wird, vom Hund bedrängt, ihr Leben verteidigen. Der Kampf ist unausweichlich.“*
Ich hasse es ja immer, wenn mein Herrchen aus dem Haus geht, ohne mich mitzunehmen. Die Wohnung ist so langweilig, wenn man nur alleine ist. Und ich vermisse Felix sehr, wenn er mich zurück lässt. Deswegen freue ich mich jedes Mal, wenn er zurück kommt.
Diesmal kann ich aber schon an der Haustür riechen, dass etwas anders ist.
Zuerst einmal kann ich riechen, dass Felix aufgewühlt ist. Ich kann das kalte Regenwasser riechen, draußen regnet es nämlich in Strömen. Ein richtiges Hundewetter, könnte man sagen. Ich freue mich auch nicht besonders auf Gassi heute.
Aber dann rieche ich Blut.
Zuerst habe ich furchtbare Angst um Felix. Ich konnte ihn nicht beschützen, während er draußen war, und jetzt ist er verletzt! Ich winsele und will mich durch die Tür drängen, als er diese aufschließt. Doch Felix kennt mich und seine Beine sind mir im Weg. Er kommt in die Wohnung. Also kann er noch alleine laufen – puh!
Ein seltsames Geräusch macht mich ganz nervös. Etwas jammert kläglich. Das ist nicht mein Herrchen. Das ist … ein anderes Tier!
Ich belle den Eindringling an, immer noch voller Sorge um Felix. Warum schimpft er denn jetzt mit mir? Ich mache mir doch nur Sorgen um ihn.
Statt mich zu umarmen, geht Felix zuerst ins Bad. Ich folge ihm. Der Geruch nach Blut bleibt. Mein Herz klopft ganz wild. Das Jammern hört auch nicht auf, dabei kann ich nichts und niemanden sehen, der so wimmern könnte!
Ich dränge mich dicht an Felix' Beine, als er sich am Waschbecken zu schaffen macht. Wenn er fällt, muss ich ihn doch stützen! Und wer jammert denn so sehr? Vor Mitgefühl winsele ich mit.
„Pscht“, sagt Felix auf Menschensprache. Ich verstehe seine Sprache ganz gut, finde ich. „Teppich“ heißt etwa, dass ich gefälligst draußen hinmachen soll.
„Pscht“ heißt, dass ich leise sein soll. Ich verstumme, mache brav Sitz und klopfe nur mit dem Schwanz auf den Boden. Ich lege den Kopf schief. Felix sieht ja gar nicht verletzt aus!
Dann kniet er sich vor mich und zeigt mir etwas, dass er die ganze Zeit unbemerkt in den Händen gehalten hat.
Ich schnuppere. Daher stammt der Blutgeruch und das Wimmern!
In Felix' Händen liegt ein kleines, graues Fellbündel, total durchnässt und voller Blut. Aber es bewegt sich noch und jammert schwach. Mir geht sofort das Herz auf. Ich will das kleine Wesen trösten und wärmen und seine Wunden heilen! Es ist so winzig! So klein und – aua! So spitz?! Ich belle erschrocken. Pass auf, Felix!
Aber Felix redet schnell in Menschensprache und zieht das Fellbündel weg, das jetzt zischt. Ich stelle die Ohren auf. Meine Nase tut weh, weil mich etwas gekratzt hat.
Eine Katze! Ich hasse Katzen! Warum bringt Felix eine Katze mit?
Mein Mensch beantwortet mir die Frage nicht. Stattdessen schimpft er mich aus. Ich soll die Katze erschreckt haben? Die hat mich zuerst erschreckt!
Beleidigt trolle ich mich in Felix' Schlafzimmer. Wenn er sich nur um die Katze kümmert, werde ich mich eben auf sein Bett legen. Nase um Nase, wie es bei uns Hunden heißt! Das hat mein Herrchen davon!
Ich rolle mich zusammen und lege den Kopf auf die Vorderpfoten. Ich kann nur hoffen, dass ich heute besonders stark haare.
Beim Abendessen ist das Vieh immer noch da. Felix ist mit mir nur eine kurze Runde gegangen, und ich durfte nicht mal an einer Straßenlaterne schnuppern. Bei dem Regen war mir das allerdings auch ganz recht. Aber mein Herrchen war überhaupt nicht bei der Sache. Ich habe so einen tollen Stock gefunden und er wollte nichts davon wissen!
Jedenfalls gab es jetzt Abendessen. Felix stellt mir meinen Napf wie immer hin. Dann holt er einen Pappkarton, aus dem hohes Miauen kommt. Ich lege die Ohren an.
Felix aber füttert das Mistding mit einem Fläschchen wie ein Menschenbaby. Ich überlege, ob ich meinen Napf absichtlich umwerfen soll, aber dann wird Felix nur noch mehr mit mir schimpfen. Dabei hat er noch nicht wegen dem Bett geschimpft, nur meine Nase verarztet. Es war zum Glück nicht so schlimm.
Dann, nach dem Essen, lege ich mich in meinen Korb. Ich fühle mich einsam. Es ist, als wäre mein Herrchen unterwegs, dabei ist er da. Aber er spielt nicht mit mir. Traurig rolle ich mich wieder zusammen, aber eigentlich bin ich nicht müde.
Als Felix schon eine Weile im Bett liegt, klingelt das Telefon. Er springt auf. Ich höre nur mit einem gespitzten Ohr zu und verstehe nichts. Nach dem Telefonat kommt Felix aber zu mir.
„Ich muss noch mal weg, Anis“, er streicht über meinen Kopf. Er liebt mich doch!
Dann seufzt er, als müsste er eine schwere Entscheidung fällen, steht auf und geht in sein Schlafzimmer, nur um mit einer alten Decke zurückzukehren, auf der – genau – die blöde Katze liegt!
Er streichelt mich wieder: „Guck mal, Anis: Das ist Thymian. Sie ist noch ein ganz kleines Kätzchen und ganz allein. Ich muss jetzt weg. Aber Thymian braucht jemanden, der auf sie aufpasst. Kannst du das tun? Wirst du ein guter Junge sein?“
Er hält mir die Decke vor sie Nase. Die Augen auf ihn gerichtet schnuppere ich an der Katze. Eigentlich ist es ein Kätzchen. Sie riecht inzwischen nicht mehr nach Blut. Ein kleines, hellgraues, geflecktes Häufchen Elend. Ich stupse sie an. Ob man mit ihr spielen kann?
„Nein, Anis, aus!“, warnt Felix, „Ganz sanft, Junge. Sanft.“
Ich stupse die Katze ganz sanft an. Sie regt sich leicht und ich ziehe meine Nase lieber in Sicherheit. Felix lächelt aber. Ich klopfe auf den Boden. Hab ich das gut gemacht?
„Gut gemacht, Anis“, sagt Felix: „Pass auf Thymian auf, bis ich zurück bin, ja? Sanft.“
Natürlich. Wenn Felix dann glücklich ist.
Er legt die Decke neben mir ab. Ich lege den Kopf auf die Decke. Nachdem Felix gegangen ist, bleibt das Kätzchen eine Weile still liegen.
Dann maunzt es jämmerlich.
Ähm. Was tue ich denn jetzt?
Das Kätzchen maunzt weiter und versucht sogar, aufzustehen.
Oh neinneinnein! Nicht gut! Ich soll doch aufpassen. Warnend winsele ich.
Das Kätzchen dreht sich zu mir und kriecht ungeschickt vorwärts. Ich erstarre vor Angst. Will sie mich jetzt töten? Die Augen auskratzen?
Aber das Kätzchen kuschelt sich nur an meine Seite. Es hat die Augen noch nicht ganz offen. Ich entspannte mich, als ich merke, dass das Kätzchen mir nichts tun. Ich bin doch ziemlich müde. Langsam fallen mir die Augen zu. Schwere Lider. Ich gähne. Ich bin müde. So … müde.
Knurren!
Ich fahre aus dem Halbschlaf auf. Etwas knurrt doch gerade! Das Kätzchen!
Es liegt zusammen gerollt neben mir und knurrt … nein, nicht ganz. Es macht ein ganz ähnliches Geräusch und tastet mit einer winzigen, rosa Pfote nach meinem Fell, weil ich zurück gezuckt bin. Ich lege meinen Kopf zurück.
Wie hieß das nochmal? Irgendein Hund hatte mir davon erzählt. Ach, wie war das Wort?
Schnurren!
Genau, das Kätzchen schnurrt.
Es schnurrt MICH an. Mir schwillt die Brust vor Stolz.
Ganz vorsichtig rücke ich näher an das kleine Kätzchen. Es ist ungefähr so groß wie meine Pfote. So zerbrechlich!
Meins! Mein Kätzchen! Meins ganz alleine!
Am nächsten Morgen werde ich von einem begeisterten Felix geweckt, der mich dafür lobt, was für ein guter Junge ich doch bin. Ich springe auf und laufe um ihn herum, während er das Kätzchen streichelt und füttert. Keine Sekunde lasse ich mein Adoptivkind aus den Augen. Das geht so lange, bis Felix total genervt ist. Aber schließlich lässt er das Kätzchen auf den Boden. Es kann kaum stehen – es muss wirklich verletzt sein – aber ich helfe ihm vorsichtig mit der Schnauzenspitze nach. Als Thymian wirklich keinen Schritt mehr tun will und sich auf den Boden setzt, lecke ich vorsichtig ihr Fell, bis sie doch wieder aufsteht und versucht, zu entkommen.
Aber nicht mit mir, Kleine! Ich gebe nicht auf, bis ihr Fell ordentlich und sauber ist. Schon viel besser.
Felix sieht meine Wäsche und schickt mich – nicht unbedingt in bösem Ton – in das nächste Zimmer, damit Thymian ein bisschen alleine sein kann. Ich langeweile mich etwa fünf Minuten zu Tode, da taucht das graugefleckte Kätzchen im Türrahmen auf und stolpert auf mich zu. Ich recke den Kopf und belle sie freundlich an. Halb blind folgt Thymian meiner Stimme, klettert über meine Hinterpfote und macht es sich auf meinem Rücken bequem. Ich liege ganz, ganz still, damit sie nicht herunter fällt. So findet uns Felix, als er später Gassi gehen will.
Ich glaube, er mag es, dass ich Thymian mag.
Diesmal kommt Thymian mit Gassi gehen. Sie wird die ganze Zeit von Felix getragen, und ich laufe neben ihm und lasse das Kätzchen nicht aus den Augen.
Felix trägt Thymian ganz behutsam und setzt sie manchmal sogar ab – wenn keine Straße in der Nähe ist, kein anderer Hund, nicht viele Menschen, kein Fluss, keine Hecke, in der das Kätzchen verschwinden könnte und so weiter.
Ich bin so sehr auf Thymian konzentriert, dass ich beinahe den Grund für den Spaziergang vergesse und Felix mich irgendwann ermahnen muss, dass ich doch bitte mein Geschäft erledige.
Zuhause wird Thymian schon munterer. Sie wurde offenbar angefahren – Felix redet ganz lange mit einer Bekannten, die ich nicht mag, weil sie Tierärztin ist und erzählt ihr das alles – aber davon merkt man kaum etwas. Ein Tag hat gereicht, damit aus Thymian ein lebenslustiges Kätzchen geworden ist. Sie versucht bereits, auf die Stühle und die Küchenanrichte zu klettern. Sie ist aber zu ungeschickt, und schließlich mache ich ihr mit einem Bellen klar, dass ich nicht weiter zusehen werde, wie sie sich weh tut. Tatsächlich hört sie auf mich und läuft ins Wohnzimmer, ich immer hinterher. Hier kann sie auf das flache Sofa hüpfen und über die Lehne turnen. Ich bewache gerade ihre Kletteraktion, als ich Felix ein ganz fieses Wort sagen höre.
„... Tierheim.“
Ich spitze die Ohren. Jeder Muskeln spannt sich an und ich suche automatisch nach einem Versteck. Dann erst höre ich ihn weiter reden: „Es wird vielleicht das Beste für sie sein.“
Was? Felix will Thymian doch nichts ins Tierheim stecken! Aber er sieht das Kätzchen jetzt nachdenklich an und sagt: „Anis wird traurig sein.“
Ja, das wäre ich! Ich springe auf das Sofa neben Thymian und setze mich. Das Kätzchen klettert zu mir. Ihre Augen sind noch immer nicht ganz offen. Demonstrativ lecke ich über ihren Rücken.
Mein Kätzchen! Das soll Felix mir nicht wegnehmen!
„Ach weißt du, Katrin“, sagt mein Herrchen, „vielleicht bringe ich das zusätzliche Geld doch auf. - Was? - Nein, nein. Du solltest die beiden sehen. Ein Herz und – ja, ein Herz und eine Seele, ehrlich!“
Ich lege mich hin, in dem Wissen, dass ich die Katastrophe nochmal abgewendet habe.
„Natürlich gehen wir zum Arzt. Du kannst sie auch selbst untersuchen“, redet Felix weiter. Ich lege die Ohren an. Die Tierärztin kommt vorbei? Hoffentlich kümmert sie sich wirklich nur um Thymian!
Ich spüre ein zwicken im Rücken und hebe den Kopf. Thymian erschreckt sich vor der Bewegung und macht automatisch einen winzigen, total flauschigen Buckel. Sie zischt sogar leise. Eine richtige Katze!
Ich lege den Kopf langsam wieder ab, während Thymian über meinen Rücken turnt. Ein bisschen nervig ist so ein Kätzchen ja doch.
Au! Jetzt jagt sie auch noch meinen Schwanz!
Die Tierärztin kommt zwei Tage später. Zu meiner Erleichterung untersucht sie nur Thymian. Obwohl die ganzen Medikamente furchtbar stinken, bleibe ich bei meinem Kätzchen. Thymian hat große Angst, weil sie die Ärztin nicht kennt. Ich versuche, zu ihr auf den Tisch zu klettern, aber Felix schiebt mich fort. So bleibt mir nichts anderes übrig, als zwischen ihren Beinen herum zu laufen.
„Das sieht nicht gut aus“, sagt die Ärztin.
Ich setze mich auf den Boden. Was sieht nicht gut aus?
„Ist es schlimm?“, fragt Felix sofort. Hoffentlich nicht!
„Ihre Beine sind irreversibel geschädigt“, erklärt die Ärztin, und dann schließt sich ein langer Vortrag mit ganz vielen komplizierten Menschenwörtern an. Zum Glück versteht Felix nicht sehr viel mehr als ich und fasst alles nochmal zusammen: „Das heißt, sie wird nie richtig laufen lernen und darf sich nicht anstrengend? Ich wusste nicht, dass Tiere auch Asthma haben können.“
„Es ist kein richtiges Asthma“, erklärt die Ärztin und wieder verstehe ich nichts von den komplizierten Wörtern. Was ist überhaupt ein Asthma? Es klingt, als würde es Thymian schaden. Kann ich ein Asthma totbeißen?
„Also gut, Thymian“, sagt die Ärztin zu dem Kätzchen, das versucht, von dem Tisch zu flüchten: „Keine Sprünge und keine Dauerläufe, meine Liebe.“
Ich richte mich auf und laufe zu Thymian, als sie auf den Boden gesetzt wird. Vorsichtig beschnuppere ich sie, ob die Ärztin auch keine fiesen Sachen gemacht hat. Manchmal binden sie uns nämlich Krägen um oder packen unsere Beine in Seile und Stangen, dass man sich nicht mehr bewegen kann.
„Wollen wir Anis noch untersuchen?“, fragt die Ärztin. Ich sehe erschrocken auf: Echt jetzt?
Die Menschen lachen.
„Ich sag doch, der versteht jedes Wort!“, sagt Felix und krault mich lobend am Kopf: „Keine Sorge, alter Junge. Du bist erlöst. Aber pass mir gut auf Thymian auf, ja?“
Klaro! Ich laufe zu dem Kätzchen und stelle mich hinter sie. Soll dieses Asthma nur kommen, ich bin bereit!
Die Menschen reden weiter, allerdings nur über langweiliges Menschenzeug. Ich folge Thymian.
Mein Kätzchen! Meins ganz alleine! Weder das Tierheim, noch dieser Asthma, noch sonst etwas darf mir Thymian wegnehmen!
Die Wochen vergehen. Thymian wird immer wilder und größer. Bald hat sie schon fast Chihuahua-Größe, die Augen geöffnet und fast mehr Ausdauer als ich. Mit der Zeit merke ich, dass Asthma – beziehungsweise dieses andere, komplizierte Wort, das zutreffender ist, dafür aber überhaupt nicht leicht zu merken – nur bedeutet, dass Thymian nicht lange rennen kann, bevor ihre Atmung plötzlich verkrampft wird. Dann muss ich sie stoppen und ihr am besten den Bauch lecken, bis sie sich wieder beruhigt hat. Ich bin schon eine richtige Krankenschwester geworden!
Außerdem sind ihre Beinchen immer noch schief, und sie ist immer noch total ungeschickt. Sie kann auf keine Stühle springen und stolpert häufiger als andere Katzen.
Manche, die uns besuchen, jeden von einer „behinderten Katze“. Sie sagen das nicht als Schimpfwort, was ja auch geht, sondern als wäre das eine Tatsache – wie Asthma zum Beispiel.
Menschen sind manchmal sehr dumm. Thymian kann vielleicht nicht rennen und nicht springen, aber sie ist vollkommen normal!
Bei solchen Gelegenheiten kann man nur den Kopf schütteln.
Thymian schläft immer an meiner Seite. Wenn sie nachts mal aufsteht, um etwas zu trinken, werde ich sofort mit wach. Ich mache mir eben ein bisschen Sorgen. Ich glaube, manchmal nerve ich Thymian damit, dass ich ihr überall hin folgte. Manchmal nervt sie mich damit, dass sie mir ständig zwischen den Pfoten herum rennt. Ausgleichende Gerechtigkeit eben.
Sie läuft inzwischen auch beim Gassi gehen neben mir her. Andere Menschen reden immer viel mit Felix, wenn sie uns zusammen sehen. Sie wundern sich, dass die Katze brav mitrennt und solche Sachen und hören erstaunt zu, wenn Felix erzählt, wie er die Katze an einem regnerischen Tag auf der Straße gefunden hat.
Ich sitze neben Thymian und passe auf, ob irgendwelche anderen Hunde kommen. Manchmal versuchen die, mein Kätzchen zu beißen. Und da Thymian nicht so weit wegrennen kann und auch nicht auf Bäume klettern, muss ich auf sie aufpassen.
Es ist ein schöner Tag, sehr warm, aber die Luft kühl. Thymian tollt fröhlich im Gras herum und ich bewache aufmerksam den schmalen Weg.
Mein Gassipfad führt durch einen kleinen Park. Seit wir Thymian mitnehmen, nimmt Felix immer einen sehr geraden Weg am Rand eines Baches entlang. Zur einen Seite fällt die Wiese leicht zu dem Bach ab, auf der anderen ist eine große Rasenfläche. Hier kann ich jeden Hund auf große Entfernung hin sehen.
Felix wimmelt den nächsten neugierigen Menschen ab, der Thymian und mich für eine Attraktion zu halten scheint. Endlich können wir weiter gehen.
Ich trotte leichtfüßig neben meinem Kätzchen her. Sie bleibt noch häufiger stehen als ein Hund, um nach etwas zu schnüffeln. Deswegen läuft Felix ein Stück vor uns.
Ich genieße die Sonne im Fell, so früh im Jahr ist sie noch nicht allzu warm. Nachts wird es noch kalt. Aber die Luft riecht bereits nach Sommer.
Felix bleibt plötzlich stehen und beschleunigt dann seine Schritte ich hebe den Kopf.
Ah. Johanna. Felix mag Johanna. Ich mag Johanna nicht ganz so wehr, weil sie keine Hunde mag, und das spüre ich. Während als mein Herrchen nach vorne rennt, als hätte er eine läufige Hündin gewittert, trödele ich mit Thymian ein bisschen und ermutige das Kätzchen sogar, im Gras zu spielen. Gespräche zwischen Felix und Johanna können dauern.
Während wir warten, laufen wir immer weiter auf die Wiese hinaus. Thymian rennt hinter mir her und versucht, mich zu fangen. Ich laufe langsam, damit das Kätzchen sich nicht überanstrengt. Obwohl man mit ihr nicht wie mit einem Hund spielen kann, macht das Spaß. Weil Thymian sich immer so sehr freut.
Ins Spiel vertieft achte ich kaum auf die Umgebung. Erst, als ich aggressives Bellen höre, fahre ich herum: Da stürmt ein Rottweiler direkt auf Thymian zu. Das Kätzchen sträubt entsetzt das Fell und stolpert nach hinten, bereit, zu fliehen.
Ohne nachzudenken, belle ich selber und springe dem Rottweiler knurrend in den Weg. Er stürmt einfach weiter vorwärts und eine Weile sieht es so aus, als würden etwa eine Millionen Tonnen Muskelmasse mit Lichtgeschwindigkeit in meinen Körper krachen und mir jeden Knochen brechen.
Doch als ich nicht weiche, bremst der Rottweiler aus und bleibt verdutzt stehen. Ich knurre noch einmal mit Nachdruck, während Thymian sich unter meinem Bauch versteckt und bekräftigend faucht.
Der Rottweiler zuckt mit den Schultern und trollt sich desinteressiert. Offenbar hat er entschieden, dass ein Stock doch interessanter als eine Katze ist. Trotzdem bringe ich Thymian näher zu Felix, damit mein Herrchen uns im Notfall auch beschützen kann.
Wir tollen eine Weile umher, dann höre ich Felix, der mich ruft.
Ich laufe weiter vor Thymian her, nur diesmal in die Richtung von meinem Herrchen. Das Kätzchen folgt mir hopsend.
Felix krault mich abwesend und starrt Johanna hinterher, die gerade den Park verlässt. Sie hatte wohl keine Zeit. Irgendwie erleichtert mich das.
Wir erreichten Felix und laufen neben ihm her. Er schlurft über den Boden, hat die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und den Blick auf den Boden gerichtet.
Hm. Irgendwas bedrückt ihn. Vielleicht ist das Gespräch mit Johanna nicht gut verlaufen, oder er denkt über irgendwas nach.
Wir sind fast zuhause. Nur noch eine Straße liegt vor mir. Während ich Felix hinüber folge, überlege ich, wie ich mein Herrchen wieder aufmuntern kann.
Vor der Haustür bleiben wir beide wie angewurzelt stehen. Nur am Rande registriere ich, dass Thymian gegen meine Hinterpfote läuft und ein leises, empörtes Maunzen von sich gibt.
Die Tür ist aufgebrochen worden und hängt schief in den Angeln. Ich kann fremde Menschen riechen, die vor Kurzem in der Wohnung waren – oder noch dort sind. Ich knurre. Felix schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Das ist überhaupt nicht gut. Ich dränge mich an die Seite meines Herrchens. Dann denke ich noch daran, Thymian vorsichtig in die dichte Hecke vor unserem Haus zu schieben.
Ich hoffe, sie bleibt da. Dort ist sie in Sicherheit!
Dann betrete ich mit Felix das Haus.
Drinnen herrscht Chaos. Schränke wurden aufgerissen und Möbel umgeworfen. Über allem hängt der Geruch von Fremden. Sie haben irgendwas gesucht. Felix lauscht einen Moment, dann, als er nichts hört, rennt er sofort zu dem kleinen Safe im Wohnzimmer.
Der Safe war in einem kleinen Schrank. Er ist fort. Während Felix flucht, suche ich das Haus ab. Abgesehen von dem kleinen Metallschrank fehlt aber nichts. Und die Einbrecher sind auch weg. Weiß nicht, warum Felix so ein Theater macht und in sein Telefon schreit. Ich hole lieber Thymian rein.
Später am Abend kommen noch einmal fremde Männer und reden ganz viel mit Felix. Das Abendessen wird ziemlich nach hinten verschoben. Als mein Magen lauf knurrt, gehe ich zu Felix und lege den Kopf auf seinen Schoß. Ich knabbere so lange an seinen Fingern und winsele leise, bis er das Gespräch unterbricht, um mich und Thymian zu füttern. Nach dem Essen legen wir uns in mein Körbchen vor die warme Heizung. Das Fenster steht offen, um den fremden Geruch zu vertreiben, also kuscheln wir uns eng aneinander. Viel zu schnell bin ich eingeschlafen.
Der Vorfall ist bald vergessen. Jedenfalls für mich.
Knapp eine Woche später wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich Rauch rieche.
Thymian ist tief schlafend an mich gekuschelt. Ich hebe den Kopf und schnuppere.
Der Geruch wird intensiver. Feuer. Es brennt, irgendwo in der Nähe!
Ich stehe auf, wodurch Thymian von meiner Seite rutscht. Das Kätzchen wacht auf und miaut. Dann riecht auch sie den Gestank und ihr Fell sträubt sich.
Ich muss sie aus dem Haus kriegen. Schnell.
Aber alleine kriege ich die Tür nicht auf.
Ich laufe vor und Thymian immer hinter mir her. Mein Ziel ist Felix' Schlafzimmer. Ich stürme hinein und belle laut. Als Felix nicht sofort reagiert, springe ich auf sein Bett und reiße die Decke weg. Müde will mein Herrchen mich verscheuchen.
„Ich will jetzt nicht spielen!“, protestiert er.
Ich beiße leicht in seinen Arm: Ich auch nicht. Das hier ist kein Spiel. Endlich hört Felix, wie panisch ich klinge. Er wälzt sich aus dem Bett.
Komm schon! Mach schneller!
Ich belle mir die Seele aus dem Leib. Sogar Thymian bellt ein bisschen. Schlaftrunken schiebt Felix sich vorwärts.
Das Wohnzimmer ist bereits in roten Schein getaucht. Das Feuer dringt von außen herein. Der Weg zur Tür ist schon jetzt von dichtem Rauch verhüllt. Ich packe Thymian so vorsichtig, wie ich kann, am Nackenfell und laufe los. Felix ist jetzt hellwach. Er hantiert an der Tür herum und braucht quälend lange, bis er sie aufkriegt. Seite an Seite rennen wir nach draußen. Die Hitze folgt uns ins Treppenhaus. Thymian jammert in meinem Griff.
Halt durch, mein Kätzchen!
Ich laufe einfach nur weg von dem Haus. Nur einmal bleibe ich stehen, und sehe zu Felix zurück. Ich habe die Straße halb überquert, als mich plötzlich etwas von der Seite trifft.
Ich verliere den Boden unter den Pfoten und Thymian fliegt durch die Luft davon. Die ganze Welt dreht sich um mich. Ich höre Reifen quietschen und Felix schreien.
Ich rolle über harten Asphalt und rappele mich sofort auf. Zuerst glaube ich, das Haus wäre explodiert, doch es steht noch, zwar völlig von Flammen umhüllt, aber intakt.
Dann erkenne ich, dass ein Auto mich angefahren hat. Ein dunkler Wagen, der gerade am Ort des Geschehens vorbei gefahren ist.
Felix starrt völlig entsetzt auf den Unfall. Ich wedele mit dem Schwanz. Alles gut, tut überhaupt nicht weh! Naja, ein bisschen.
Aber Felix rennt direkt zu etwas, das vor dem Wagen liegt.
Mein Herz bleibt stehen: Thymian!
Ich hetzte an die Seite meines Herrchens. Der Fahrer des Wagens steigt aus und entschuldigt sich bei Felix. Doch mein Herrchen versteht wohl gerade in etwa so viel wie ich normalerweise. Nämlich nichts.
Er kniet vor dem Wagen. Ich dränge mich an seine Seite und erstarre.
Felix guckt gar nicht auf Thymian.
Er guckt auf einen Hund, der mir im ersten Moment überhaupt nicht bekannt vorkommt. Dunkelbraunes, kurzes Fell, ein mittelgroßer, mittelschlanker Mischlingshund, jetzt natürlich durch unzählige Wunden entstellt.
Mir wird kalt, als eine Erinnerung in mir aufsteigt. An früher, als ich dachte, im Spiegel würde ein fremder Hund leben, mit dem man nicht so richtig spielen kann.
Ich weiche zurück. Das, was da auf der Straße liegt, bin ich!
Erschrocken belle ich Felix an, aber er reagiert nicht auf mich. Er hört mich nicht! Ich bekomme Panik. Verzweifelt versuche ich, mein Herrchen anzustupsen, anzubellen, ich beiße ihn sogar, weil es mich böse macht, dass er mich nicht bemerkt.
Aber meine Zähne gleiten einfach durch seinen Arm hindurch.
Ich habe furchtbare, furchtbare Angst. Aber plötzlich drückt sich etwas an meine Seite.
Ich sehe nach links, und da steht Thymian.
Thymian ist ein kleiner, blasser Geist. Ich kann die Straße sehen, auf der sie steht, durch ihren Körper hindurch. Ihre kleinen Augen sind weit aufgerissen: Was passiert mit mir, fragen sie.
Ich versuche, mich zu beruhigen und stupse das Kätzchen an.
Wir mussten leider weg von Felix, Thymian.
Ich versuche, es ihr zu erklären. Sie scheint mich zu verstehen.
Aber wo gehen wir jetzt hin?, fragt das Kätzchen wortlos.
Ich sehe zu Felix. Ich habe immer noch Angst. Aber für Thymian muss ich jetzt stark sein. Ich sehe auf meine Pfoten. Sie sind durchscheinend, so wie das Kätzchen. Trotzdem spüre ich noch ein bisschen die Schmerzen.
Vor allem mein Herz tut weh. Ich sehe Felix weinen. Jemand hat den leblosen Körper von Thymian gefunden. Jetzt sind auch die großen Lärm-Autos da, die das Feuer löschen.
Aber das alles verschwimmt. Farben und Formen werden immer blasser. Nur Thymian ist noch da, die sich an mich drückt.
Keine Angst, mein Kätzchen, versuche ich ihr zu sagen: Alles wird gut.
Thymian nickt tapfer. Sie zittert.
Ich sehe zurück zu Felix.
Weine bitte nicht, Herrchen. Es tut mir leid! Ich will nicht, dass du traurig bist!
Felix verschwimmt immer mehr. Als wäre er in einer Pfütze oder in einem See und ich könnte nur auf die Oberfläche starren.
Ich kann ihn nicht erreichen.
Wenigstens ist Thymian bei mir.
Aber als ich mich umdrehe, ist das Kätzchen fort. Nur Dunkelheit und Kälte sind geblieben.
Weil es für Hunde und Katzen keinen gemeinsamen Himmel gibt.
*Zitat: http://www.abendblatt.de/ratgeber/wissen/article107989346/Sind-Hunde-und-Katzen-von-Natur-aus-Feinde.html (17.03.16)