02.01.20 von 19:40 bis 20:40
»Kyrre erzählt neuerdings rum, dass er dich liebt. Weißt du was davon, Llew?«
Der Vampir besah sich den Stoff in seinen Händen genauer und überlegte, wie er sich am besten aus der Situation hinausmanövrierte. Ihm war ebenfalls zu Ohren gekommen, dass der kleine Bruder der Ladenbesitzerin in der letzten Zeit das eine oder andere Gerücht streute und fand es bis eben noch recht niedlich. Da Sandra jedoch mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stand, hielt er es für wenig angebracht, ihr das ins Gesicht zu sagen. Sie wusste, wie man ihn ernsthaft verletzen konnte.
»Ehrlich gesagt, ja. Ich fand es unnötig, seine jugendlichen Träume zu zerstören. Die Realität wird ihn schließlich schon bald hart genug treffen«, entgegnete er hoffentlich zu ihrer Zufriedenheit. Wenn die stämmige Blondine ihm jetzt eine Backpfeife verpasste, war das seiner Meinung nach auch eine passende Reaktion. Es ging hier schließlich um ihren Bruder, über den er nicht gerade wohlwollend sprach.
»Du hast ihn also nicht dazu angestiftet?«
Zugegeben, er hatte sich bei ihrem letzten Aufeinandertreffen etwas aus dem Fenster gelehnt, indem er sich mit dem sommersprossigen Jüngling hinter dem Regal mit den Stoffen einen Spaß erlaubt hatte. Dies könnte ihren Bruder dazu ermutigt haben, aber ... Himmel, es war doch nur ein unanständiges Gedicht gewesen. Er hatte nicht geahnt, dass der Junge sich derart hinreißen ließ. Kyrre schien seine Schwester jedoch nicht darüber informiert zu haben.
Llew strich sich mit einer Hand über den Nacken, bevor er den Stoff zu den anderen zurücklegte.
»Bewusst und unbewusst nicht, nein. Es ist mir auch nicht neu, wenn mich Menschen für ihre Fantasien heranziehen. Willst du, dass ich mit ihm rede?«
Ihm wäre es lieber, wenn er darauf verzichten durfte. Der Gedanke, einem frisch verliebten Jungen das Herz aus der Brust zu reißen und drauf herumzutrampeln, verstimmte ihn. In den letzten Jahrhunderten hatte sich immer mal wieder ein Mensch in ihn verguckt. Sie hatten ihm die Aufwartung gemacht und er begrüßte es, denn auf die Art fühlte er sich etwas mehr wie ein Mensch. Geliebt zu werden war für ihn ein Privileg.
Wenn Sandra allerdings wünschte, dass er ihrem Bruder die Leviten las, würde er das notgedrungen tun. So leid es ihm um den Jungen auch tat, er wollte das Vertrauen dieser Frau nicht verlieren. Außerdem benötigte er weiterhin Zugang zu diesem Laden.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich von alldem halten soll«, gestand sie ihm gegenüber mit einem Seufzen, »er hat nie den Anschein erweckt, dass er sich für Männer interessiert. Zudem bist du nicht einfach nur ein Mann, sondern ein Vampir und auch, wenn ich dich mag, Llew, genieße ich diesen Fakt mit gesunder Vorsicht.«
»Verständlich«, stimmte er ihr zu. Sie wusste nicht einmal annähernd, mit was für einen Untoten sie es zu tun hatte.
»Deshalb wollte ich sichergehen, dass du Kyrre nicht irgendwie manipulierst oder mit ihm spielst. Mit ihm reden muss ich sowieso, auch wenn du mit seinem Verhalten einverstanden wärst. Er kann nicht einfach ...«
An dieser Stelle unterbrach er Sandra.
»Stimmt, Kyrre sollte wirklich nicht derartige Gerüchte in die Welt setzen, doch es ist vorerst für mich in Ordnung. Du musst ihm meinetwegen keine Moralpredigt halten. Es trifft mich, dass du glaubst, ich würde ihn zu diesem Verhalten verleiten.«
»Tut mir leid, Llew. Es ist nur«, sie biss sich auf die Unterlippe, »mein Bruder. Ich mach mir Sorgen um ihn.«
Vielleicht sollte sie das wirklich tun.
Vor dem Haus drehte er die halbe Nacht seine Runden, unfähig, das Gespräch aus seinem Gedächtnis zu löschen. Er hatte versucht, den Jungen vor dem Laden abzufangen, aber Kyrre war bei seinem Anblick durch die Hintertür abgehauen.
Llew blieb erst stehen, als er am Fenster eine Kerze aufflackern sah. Bis eben war da nichts gewesen und sah es als Aufforderung, der er zu gern nachkam.
»Hallo Llew«, grüßte ihn Sandras jüngerer Bruder mit gesenkten Kopf, ehe er vom Fenster wegtrat.
»Du bist nackt«, stellte der Vampir beim Eintreten fest und musterte den schlaksigen Körper vor ihm. Fasziniert von den ganzen Sommersprossen trat er einen Schritt näher. »Absicht?«
»N-nein, ich hatte nur einen Traum, der meine Unterhose ruiniert hat. Außerdem war mir heiß und ...«
Amüsiert schaute er dem Jungen dabei zu, wie dieser innehielt, um sich mit den Händen das Gesicht zu bedecken.
»Hab ich das gerade wirklich gesagt? Oh Gott.«
»Es muss dir nicht peinlich sein. Dass du allen von deiner Schwärmerei erzählst, dürfte etwas schlimmer sein«, wisperte er dem Jungen ins Ohr. Kyrre reagierte mit angehaltenem Atem, während das Herz in seiner Brust einen Wimpernschlag aussetzte. Eine atemlose Entschuldigung glitt dem Jungen über die Lippen.
»Aber ich hab nicht gelogen, Llew. Es ist mir auch egal, ob du ein Vampir bist.«
Den Kopf zur Seite geneigt, ließ er den Blick über Sandras kleinen Bruder gleiten. Ihm war, als nähme er den jungen Mann zum ersten Mal wirklich wahr.
»Verstehe.«