Die kühle Nachtluft umhüllte sie wie ein sanfter Schleier und füllte sie mit neuer Energie.
„Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass dieser Abend so schön wird“, meinte sie mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen.
„Die Gesellschaft macht den Unterschied“, bestätigte er mit einem ebenso schmalen Lächeln. Doch selbst hier draußen im Dunkeln, wo das einzige Licht vom vollen Mond und dem sternenklaren Himmel kam, konnte sie den Glanz in seinen Augen sehen. Für einen kurzen Moment ließ es ihr eigenes Lächeln heller werden, doch sie wandte sich ab, bevor er zu viel hineininterpretieren konnte.
„So sehr ich mich auch dagegen gewehrt hatte, jetzt bin ich doch froh, dass wir, auch in Zeiten wie diese, Momente wie hier genießen können. Gerod hatte Recht.“
Sie sah ihn aus dem Augenwinkel still nicken, während er den Blick auf den Nachthimmel gelegt hatte. Sie folge seinem Blick und sah in die Sterne. Obwohl sie in den vergangenen Wochen so oft nach oben in den Himmel gesehen hatte, erschien er ihr in dieser Nacht besonders schön. Oder nicht? All die Wochen, die sie zusammen gereist waren, all die Nächte, die sie unter freiem Himmel verbracht hatten. Was macht diese hier so besonders?
„Erinnerst du dich an die Taverne in Velorum?“
Ihr Blick wanderte zurück zu ihm, die Brauen gehoben.
„Das war das einzige andere Mal, dass wir einen unbeschwerten Abend hatten, bevor wir hier angekommen sind.“
Ein schmunzeln stahl sich über ihre Lippen, das in einem kurzen, trockenen Lachen endete. „Ja. Aber es stimmt nicht ganz. Ich finde, wir hatten sehr viele schöne Abende, bevor wir hier angekommen sind.“
Auch er lächelte kurz und nickte zustimmend. „Aber dieser Abend war anders. Wir waren anders. Damals waren wir noch Fremde.“ Für einen Augenblick wurde sein Gesicht seltsam leer und das Leuchten war aus seinen Augen verschwunden.
„Damals dachte ich noch, du wärst ein Taugenichts. Als Söldner zwar gut, aber sonst nur ein Tunichtgut, ein Herumtreiber, der nirgendwo wirklich dazugehört oder dazugehören will.“ Sie hoffte, dass er ihre Aussage als Necken verstand und sie die Situation wieder auflockern konnte.
„Autsch“, kommentierte er trocken, mühte sich aber doch noch zu einem Lächeln ab. „Ich hoffe doch, dass sich diese Meinung im Laufe der Zeit geändert hat.“
„Ja“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie hatte das Gefühl, dass sie an dieser Stelle etwas mehr sagen sollte, doch ihr wollten einfach keine passenden Worte einfallen. So eindringlich, wie er sie plötzlich ansah, vergaß sie alles, was ihr eben noch auf der Zunge gelegen hatte.
„Ich hätte auch nicht erwartet, dass unter der harten Oberfläche doch noch ein so zartes Geschöpf steckt, dass sich in einem so edlen Kleid unter die Leute wagt.“
Nun war sie es, die ihn mit gehobener Braue ansah. Dann folgte sie wieder seinem Blick, zu ihrem Kleid hinunter bis auf ihre Fußspitzen, die frech unter dem Saum des langen Kleides, in den edlen, aber unpraktischen Schuhen, hervor spähten. Irritiert darüber, was ihn dort interessierte, blicke sie wieder nach oben. Direkt in sein Gesicht, dass sie mit unergründlicher Miene eindringlich musterte.
Für einen Augenblick fühlte sie sich wie erstarrt. Sogar den Atem hatte sie für einen Moment lang angehalten und ihr Herz pochte plötzlich so wild, wie noch vor eben zuvor bei ihrem gemeinsamen Tanz. Wieder überkam sie dieses berauschende Gefühl, dieses Verlangen, dass sie seither bei noch keiner anderen Person verspürt hatte. Bei ihm war es das erste Mal, dass sie sich allein vorstellen konnte, geküsst zu werden. Und in diesem Moment, entgegen allem, was sie bisher gefühlt hatte, wollte sie nichts mehr als das.
„Warum wolltest du, dass ich dich nach draußen begleite?“, fragte sie vorsichtig, um die Stille zu durchbrechen und sich von dem Sturm in ihrem inneren abzulenken.
„Ich wollte mit dir über etwas reden. Etwas Wichtiges.“
Er verstummte wieder und sein Gesicht nahm erneut den seltsamen Ausdruck von Leere an, während seine dunklen Augen auf ihren lagen und sie trüb musterten.
„Und?“, hakte sie vorsichtig nach.
Ein langes, tiefes Seufzen kam zur Antwort. Offensichtlich suchte er nach den passenden Worten. Oder er wollte nicht reden. Bitte mach, dass er nicht reden will. Oh lieber Gott, bitte lass das nicht meine wirklichen Gedanken sein, dachte sie im Stillen.
Er trat einen Schritt näher zu ihr heran, sodass es kaum noch einen Abstand zwischen ihnen gab. Wieder hielt sie für einen Moment unwillkürlich den Atem an. Die Leere war aus seinem Gesicht gewichen, stattdessen lag ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen, dass seine Augen aber nicht ganz erreichte. Er musterte sie mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. Eine Hand legte sich zaghaft an die Seite ihres Gesichts und streichelte sanft über ihre Wange. Jede noch so zarte Berührung hinterließ ein sanftes Kribbeln unter ihrer Haut. Unwillkürlich hatte sie ihre Augen geschlossen und genoss die zarte Geste. Langsam neigte er seinen Kopf nach vorne, sie konnte seinen Atem schon auf ihren Lippen spüren.
Doch statt einem Kuss, ließ er seine Stirn gegen ihre sinken.
Erneut drang ein langes und tiefes Seufzen aus ihm. Und obwohl sie nichts sah, spürte sie, wie ein Teil der Anspannung aus ihm wich. Eine Weile verharrten sie so. Es war kein Kuss und trotzdem fühlte sie sich ihm näher, als sie sich jemals sonst jemandem gefühlt hatte. Näher, als sie jemals geglaubt hatte, es zulassen zu können. Es war schön.
„Amea“, stahl sich seine Stimme langsam durch die Stille. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich Gerods Verdacht bewahrheitet.“
„Was meinst du?“ Amea wollte zurücktreten und ihn ansehen, doch er hielt sie zurück, legte seine Hände auf ihre Schultern und hielt sie noch für einen Moment länger bei sich.
„Gerod glaubt, ich wäre ein Verräter. Ein Spion für die andere Seite. Das weißt du. Und dieser Verdacht wird sich bald bestätigen.“
Diesmal trat sie energischer zurück und er ließ sie gewähren. Ihr Blick war kaum zu deuten. Sie war verwirrt, wütend, entsetzt, verwirrt? Alles davon auf einmal. Er sah, dass sie nach Worten suchte, doch nichts davon wollte ihr über die Lippen kommen.
„Sobald sie Carishs Fähigkeit entfesselt haben, erfahren sie auch die Wahrheit über mich.“
Noch immer gelang es ihr nicht, etwas dazu zu sagen. Sie sah ihn nur an, mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Lippen. Er hätte sie gerne wieder berührt, noch einmal seine Hand über ihre Schläfe gleiten lassen, doch nun war sicher nicht der richtige Zeitpunkt, also hielt er sich zurück.
„Es tut mir so leid“, flüsterte er stattdessen.
„Nein, das kann nicht…“, begann sie leise, brach dann aber ab. Sie sah zur Seite weg, über die Felder und den Himmel, bevor sich ihr starrer Blick wieder auf ihn legte. „Wir waren zusammen, die ganze Zeit. Du hast uns geholfen, du hast uns beschützt… wie… warum…?“
„Ich wollte, dass ihr mich hierher führt. Den Prinzen zu jagen, das ist nur das eine Ziel. Doch Gerods Versteck zu finden, den letzten, wirklich gefährlichen Widerstand zu finden und zerschlagen zu können, ohne dass sie uns kommen sehen. Ich habe die Chance gesehen und sie ergriffen.“
Vielleicht waren seine Worte zu direkt, zu viel, um alles auf einmal zu verstehen. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat und wie sehr er sich wünschte, dass es nie so weit gekommen wäre. Dass er längst nicht mehr an das glaubte, wofür er in den Kampf gezogen war.
Doch er wollte ihr auch die Möglichkeit geben, sich selbst ein Bild über ihn zu machen. Sie kannten sich, nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten. Kaum jemand hatte ihn so sehr berührt, so viel von ihm erfahren. Und das in so kurzer Zeit. Er hoffte, dass sie an all die Momente dachte, in denen sie im Streit über ihre verschiedenen Meinungen lagen. Und vor allem daran, wie sie beide daran gewachsen waren. Dass sie erkennen würde, wer er wirklich war. Dass er es ernst mit ihr meinte. Dass er, obwohl er ihr Feind gewesen war, jetzt ihr Freund sein wollte und das wichtiger war, als alles, was in der Vergangenheit lag. Sie musste es selbst für sich erkennen. Ansonsten wäre es immer nur eine weitere Lüge, die er ihr erzählte.
Es dauerte, bis Amea den Inhalt seiner Worte begriff. Alles fühlte sich plötzlich so viel langsamer an. Als würde die Welt sich plötzlich langsamer drehen. Oder war sie es, die plötzlich nicht mehr mithalten konnte?
Er gab ihr etwas Zeit, um die neuen Informationen sacken zu lassen. Es gab offensichtlich viel zu verarbeiten. Er konnte es ihr nicht verübeln. Viel lieber hätte er ihr das alles erspart.
„Ich wolle nicht, dass es so weit kommt…“, ergriff er langsam erneut das Wort.
„Nein, nein… wir… Du, Carish, ich… wir … ein Team… wir…“, stammelte sie leise. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Aus Wut? Oder Schmerz? „Wer bist du?“