Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich bereits jemand im Rüstungsraum befand. Araz war gerade dabei, sich umzuziehen und war bis auf die Unterhose unbekleidet. Für einen Moment überlegte sie, umzudrehen und später wiederzukommen. Andererseits hatte es bisher für sie nie einen Unterschied gemacht, wer sich mit ihr im Raum befand, wenn sie sich umzog.
Er warf ihr nur einen beiläufigen Blick zu, als sie sich den Spinden näherte, vor denen er stand. Ihn schien es also nicht zu stören, dass sie nun auch hier war.
„Hey“, grüßte er knapp, als sie ihren Spind unweit von ihm entfernt öffnete und begann, ihren Hoodie auszuziehen.
„Hey“, antwortete sie ebenso knapp und sah kurz zu ihm hinüber. Sie wusste schon, dass er Tattoos hatte. Doch bisher nicht, wie weit sie auf seinem Körper verbreitet waren. Bisher hatte sie nur seinen Hals gesehen, über den sich eine gerade Linie über die Kehle hinweg bis über das Kinn hinaus zog. Die anderen Linien, die davon abzweigten und seinen Hals aufsteigend umschlangen und an den Seiten in Spitzen endeten. Von seinem Nacken aus wiederholte sich das gleiche Bild. Vorne endeten die zwei innersten Linien zusammen mit der mittigen kurz unter seiner Unterlippe.
Auch seine Hände und Unterarme waren nichts Neues für sie. Beides hatte sie schon gesehen und insgeheim hatte sie sich schon gedacht, dass die drei Tattoos miteinander verbunden sein müssten. Doch dass sich seine Tattoos von Kinn, über Hals, Brust, und Bauch bis hinunter zu den Fußspitzen zog, hatte sie nicht erwartet.
Nein, nicht Tattoos. Das Tattoo. Es gehörte alles zusammen. In einem symmetrischen Muster erstreckte sich in klaren Linien und geometrischen Formen über seinen Gesamten Körper, mit Ausnahme seines Gesichts, dass nur von den drei Linien über dem Kinn berührt wurde. Alle Linien waren miteinander verbunden, in einem tiefen Schwarz und untermalten seine schlanke, aber durchaus muskulöse Statur.
Rove bemühte sich, nicht die ganze Zeit zu starren. Es ging sie nichts an, wie er aussah. Doch die Neugier hatte sie gepackt, ob sie nun wollte oder nicht. So fiel ihr Blick immer wieder möglichst zufällig auf ihn, während sie selbst damit beschäftigt war, von ihrer Alltagskleidung in die leichte Rüstung zu schlüpfen.
Große Güte, seit wann machte sie sich so viele Gedanken, wenn sie einen fremden Mann beim Umkleiden sah? Sie schüttelte den Kopf, als würden dadurch die Gedanken verfliegen.
Er wirkte so … anders.
Sie hatte ihn als sehr ruhig und zurückhaltendend kennengelernt. Doch mit diesen Tattoos wirkte er eher wild und verwegen. So gegensätzlich zu dem Bild, dass sie seither von ihm hatte.
Rove, Konzentration. Nicht gaffen. Du bist stärker als das.
Was war nur los mit ihr?
Sie schmetterte ihren Spind zu, obwohl sie gerade erst ihre Einsatzhose angezogen hatte und der Rest ihrer Ausrüstung noch fehlte.
„Rove… ist alles in Ordnung?“
Rove schreckte auf und sah zu Araz, der sie mit besorgter Miene musterte. „Du wirkst etwas zerstreut“, ergänzte er auf die Frage in ihrem Gesicht. Im Gegensatz zu ihr stand er mittlerweile vollständig bekleidet in Jogginghose und Pullover vor ihr.
Hoffentlich waren ihre Wangen nicht so rot, wie sie sich anfühlten.
„Alles in Ordnung. Nur etwas angespannt…“, presste sie hervor und wandte sich schnell wieder ihrem Spind zu und begann, ihre restliche Ausrüstung auszuräumen und anzuziehen.
„Vielleicht solltest du deinen Auftrag jemand anderem übergeben, wenn du dich nicht wohl fühlst. Zu deiner eigenen Sicherheit.“
„Mach dir keine Sorgen, mir geht es bestens“, entgegnete sie mit einem schärferen Unterton, als geplant. Er hob beschwichtigend die Hände, bevor er sich umdrehte um den Raum zu verlassen.
Hatte er… etwa gelächelt?
Ihre Wangen mussten so rot glühen.