Rove mochte die Falten, die sich in den weiten, dunklen Stoffen von Rayyas Robe bildeten. Wie der Stoff langsam und geschmeidig mit ihren Bewegungen folgte. Vom Stand in die Verbeugung und die Verneigung direkt auf dem Boden. Ebenso Rayyas sanftes Murmeln, dass kaum von dem der anderen Personen zu unterscheiden war. Leise, melodisch und voller Gefühl. Sie spürte es bis hier.
Hier, im Türrahmen, halb hinter der Wand des Flurs versteckt. Immer wenn sie hierher kam, war es mit dem Ziel gewesen, den Raum auch zu betreten. Bisher hatte sie es aber nie durch die Tür geschafft. Schon gar nicht, wenn sich Personen darin befanden. Doch wenn, dann verweilte sie gerne. Hier, an der Tür. An der Schwelle. Still lauschend, die Ruhe genießend.
„Wieso kommst du nicht rein?“, riss sie Rayyas Stimme aus den Gedanken.
„Was?“, hauchte Rove erschrocken und trat einen Schritt von dem Türrahmen weg. Sie war so tief in ihr eigenes Inneres versunken, sie hatte nicht einmal bemerkt, wann ihr Blick von dem Raum abgewichen war und sie sich gegen die Wand gelehnt hatte.
„Warum kommst du nicht mit rein? Du darfst dich gerne zu uns setzen. Auch wenn du nur zuhörst“, wiederholte Rayya und legte Rove sanft eine Hand über die Schulter. Rove zuckte unter der Berührung, doch sie ließ sie verharren.
„Ich weiß nicht… Ich… Will euch nicht stören.“
„Du störst nicht“, meinte Rayya mit einem Lächeln. Im Schatten ihrer weiten Kapuze war es auf ihrer dunklen Haut kaum zu erkennen. Doch es war da. Warm und freundlich und so behutsam wie ihr Tonfall.
Rove schüttelte stumm den Kopf und wandte sich ab, um zu gehen.
„Glaubst du?“, hörte sie Rayya noch fragen.
Nach einem kurzen Zögern drehte sich Rove wieder zu ihr um.
„An Gott?“, fragte sie, statt zu antworten.
Rayya nickte. Ihre schwarzen Augen verschwanden beinahe vollständig im Schatten. Nur winzige Lichtschimmer bezeugten, dass sie da waren und Rove entgegen blickten.
Rove zuckte die Schultern und neigte den Kopf zur Seite. „Ich weiß nicht…“, meinte sie mehr zu sich selbst als zu Rayya. Sie hatte das Gefühl, dass es etwas gab. Manchmal war sie sich sogar sicher, dass es etwas geben musste, aber… Mit einem tiefen Seufzen verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und lehnte sich wieder gegen die Wand. Manchmal gefiel ihr der Gedanke, dass es eine Gottheit gab, die über sie wachte und sie behüten würde. Die ihre Gebete hören und ihre tiefsten Wünsche erfüllen könnte. Die sie ruhig und gelassen werden lassen konnte. Die ihr ebenso viel Frieden gab, wie sie Rayya und ihren Brüdern und Schwestern gab. Doch selbst wenn… Wie sollte sie sich jemals an sie wenden können? Sie war doch, wer sie war. Hatte doch getan, was sie getan hatte.
Langsam spürte sie, wie sich ihre Hände in ihre Oberarme gekrallt hatten. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, während durch ihre Arme ein dumpfer Schmerz pulsierte. Mit einem scharfen Seufzen stieß sie sich von der Wand weg, bemerkte, dass Rayya noch immer bei ihr stand, rang sich einen entschuldigen Blick ab und trat davon.
Sie hatte doch nur ein bisschen Ruhe gewollt. Wieso brannte nun alles in ihr?