So früh am Morgen sollte noch niemand wach sein. Die perfekte Zeit, um noch etwas Ruhe zu genießen und wach zu werden, bevor jemand versuchte, ihn anzusprechen. Ein Plan, wie er ihn bisher jeden Morgen erfolgreich durchführte. Doch als Araz an diesem Morgen mit seinem Kaffee in den Hangar schlurfte, war er nicht allein.
Auf der Motorhaube des Shuttles, mit einem Kissen im Rücken und in eine Decke gehüllt, saß Rove. Im ersten Moment überlegte er, auf dem Absatz kehrt zu machen. Es gab auch andere Orte und Dinge, mit denen er sich beschäftigen konnte, bevor auch die anderen aufwachten. Doch Rove hatte ihn bereits gesehen. Für einen Moment zögerte er. Die von dunklen Ringen unterzogenen Augen waren gerötet und wachsam auf ihn gerichtet, während der Rest ihres Körpers schlaff über Windschutzscheibe lag. Bei der Erinnerung an den gestrigen Abend wunderte er sich nicht über ihr Erscheinungsbild. Er konnte sich ein kurzes Schnauben nicht verkneifen, bevor er wortlos am Eingang vorüberzog und Rove allein zurückließ.
Allerdings nur für ein paar Minuten.
Etwas überrascht hob Rove den Kopf, als er wieder vor dem Eingang auftauchte und diesmal zielstrebig auf sie zukam. Ohne Worte zu verlieren, stieg er zu ihr auf die Motorhaube. Ob sie immer noch zu überrascht oder einfach nur zu müde war, um etwas zu sagen, wusste er nicht. Doch sie wehrte sich nicht dagegen, als er die zwei Tassen vom Shuttledach nahm, sich neben sie setzte und ihr eine davon kommentarlos überreichte. Er schlürfte zuerst von seinem eigenen Kaffee, bevor er sprach.
„Schlechte Nacht gehabt?“
Rove antwortete nicht sofort, drehte stattdessen die noch heiße Tasse zwischen ihren schmalen Fingern. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, doch Araz bemerkte das feine Zittern ihrer Lippen.
„Kann man so sagen…“, antwortete Rove schließlich. Ihre Stimme war leise. Wie das Seufzen, als sie ihren Kopf zurück gegen die Windschutzscheibe gleiten ließ.
„Der Auftrag gestern hat dich sehr mitgenommen…“, begann Araz und trank erneut von seinem Kaffee. Er musterte Rove aus seinen Augenwinkeln und wartete darauf, dass sie mit ihm redete. Doch sie blieb stumm, während ihr Blick auf dem Eingang zum Hangar verweilte.
„Was siehst du?“, fragte Araz nach einer Weile. Doch er rechnete nicht mit einer Antwort.
„Meinen Bruder…“
Überrascht hoben sich Araz‘ Brauen, während er ihren Blick verfolgte. Natürlich war im Eingang niemand zu sehen. Wie auch? Er wusste doch selbst, dass ihr Bruder schon lange nicht mehr am Leben war. Konnte sie ihn denn wirklich sehen? Bildete sie es sich nur ein? Glaubte sie, dass er wirklich hier war? Was es noch eine Nachwirkung der Drogen?
„Ich weiß, dass er nicht wirklich hier ist“, sagte Rove nach einer Weile, ohne ihren Blick von der Stelle abzuwenden, wo sie ihn vermutlich sah. „Ich weiß, dass es nicht echt ist. Aber… Dort steht er. Und sieht mich an.“ Leise lösten sich Tränen aus ihren geröteten Augen und bahnten sich einen Weg über ihre Wangen hinunter. „Ich weiß nicht, was er von mir will. Er steht einfach nur da und spricht nicht. Das macht er nie. Und wie er mich ansieht…“ Sie schluckte und kniff dabei schmerzerfüllt die Augen zusammen. „Ich weiß nicht, ob er mich verurteilt. Ob er leidet. Ob er stolz ist. Oder traurig. Ich kann es nicht erkennen. Ich sehe ihn an und ich weiß nicht…“
Rove verstummte. Vielleicht, weil ihre Stimme ihre Worte nicht mehr tragen konnte.
Araz indessen fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sich zu ihr zu setzen. Er hatte das Ganze nicht gut genug durchdacht. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Ob und wie er helfen konnte. Ob sie überhaupt Hilfe wollte. Ihr ging es offensichtlich nicht gut. Und das war selten. Zumindest selten derart offensichtlich. Es versetzte ihm einen Stich in seinem Herzen, sie so zu sehen. Mittlerweile kannten die beiden sich gut und vielleicht… vielleicht waren sie sogar so etwas wie Freunde. Deswegen nahm ihn die Sache auch so mit. Oder nicht?
„Erzähl mir von deinem Bruder“, bat er schließlich. Vielleicht würde das Reden helfen.
Ein kurzes Lächeln huschte über Roves Lippen. Obwohl es schnell verschwand, blieb ein sanftes Leuchten in ihren Augen zurück. „Er war mein Zwillingsbruder. Gutaussehend, stark… ein sehr guter Mensch, in allen Punkten. So viel besser als ich…“ Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nur diesmal wirkte es anders. Nicht bitter und erschöpft. „Er hat immer alle beschützt. Und niemals aufgegeben. Er ist immer stark geblieben…“
Araz erinnerte sich, dass ihr Bruder auch Soldat gewesen war. Und nicht irgendeiner.
„Wegen ihm bist du Soldat geworden, richtig?“
Rove nickte langsam. „Irgendjemand musste ja ihn beschützen, während er sich um alle anderen kümmert…“ Ihr Gesicht verzerrte sich, als hätte sie Schmerzen. Araz sah auf die Kaffeetasse in Roves Händen, von der sie noch immer nicht getrunken hatte.
„Was ist passiert?“
„Wir waren gemeinsam im Einsatz. Ein großer Fall. Es ist mächtig schief gegangen…“ Rove lachte trocken auf. „Bar- … Der Gegner wusste, dass wir kommen. Er war vorbereitet. Zuerst sah alles gut aus, wir hatten uns sehr gut geschlagen. Doch nach und nach wurden die Mitglieder unseres Teams…“ Rove schluckte und schüttelte den Kopf. „Wie immer hat Amon versucht, uns zu beschützen. Er hat nicht auf die Befehle gehört. Hätte er doch nur… Jedenfalls haben sie ihn erwischt. Amon… Archangel. Sie waren so stolz.“ Den letzten Satz spuckte sie fast heraus. „Wie ich, hatte Amon oft ein Schwert benutzt. Irgendwie fanden sie das witzig. Sie haben sich darüber lustig gemacht. Gespottet. Dann haben sie Amon auf die Knie gezogen, ihn an den Armen festgehalten. Als hinge er an einem Kreuz. Dann haben sie sein Schwert genommen. Und ihm die Arme abgeschlagen.“ Rove schluckte erneut und obwohl ihr wieder Tränen aus den Augen traten, starrte sie stur nach vorne. „Sie fanden es besonders witzig. Wie er am Boden lag, sich krümmte und stöhnte. Und eben nichts weiter als ein kleiner, zerbrechlicher Mensch war. Kein Erzengel. Keine Gefahr für sie. Nur ein lächerlicher, kleiner, gebrechlicher Mensch.“
Araz wusste nichts darauf zu sagen. Er verfolgte ihre Geschichte mit Bildern in seinem Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, einen Bruder zu verlieren.
„Amon hatte mir befohlen, zu warten. Er wusste, wenn ich es schaffen würde zu ihm zu kommen, würde ich… Er wollte, dass ich überlebe. Egal wie groß sein Schmerz war und obwohl er wusste, was passieren würde…“ Roves Hände krampften sich um ihren kälter werdenden Kaffee, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. „Die Verstärkung kam erst an, als er schon gestorben war. Verblutet… nur wenige Minuten, bevor sie uns geborgen haben.“
„Hörst du deswegen nie auf einen Befehl, wenn sich jemand in Lebensgefahr befindet?“
Einer von Roves Mundwinkeln zuckte kurz nach oben. „Diesen Fehler begehe ich kein zweites Mal. Ich kann nicht. Auch wenn William es nicht versteht…“
„Ich denke, er versteht das sehr gut“, erwiderte Araz. „Er wollte sicher nicht, dass es dir genauso ergeht, wie deinem Bruder.“
Das erste Mal, seit sie die Geschichte zu erzählen begonnen hatte, sah sie zu Araz, eine Braue leicht erhöht. Araz zuckte auf ihren Blick hin nur mit den Schultern.
Seufzend ließ sich Rove wieder zurücksinken, lehnte den Kopf wieder gegen das Shuttle.
„Danke… für's zuhören…“, meinte sie schließlich und nippte an ihrem Kaffee.