Ächzend und stöhnend kam Araz zu sich. Sein Körper schmerzte vom Scheitel bis in die Zehenspitzen. Es kostete ihn außergewöhnlich viel Kraft, sich allein zur Seite zu drehen. Sein Rücken dankte es ihm nicht. Was war passiert? Wo war er?
Er versuchte die Augen zu öffnen, presste aber jäh die Augenlider wieder aufeinander. Seine Augen brannten wie Feuer, genau wie sein Hals und seine Nase. Ein kurzes, schmerzhaftes Husten stahl sich seine Kehle hinauf und drohte, seinen Kopf zu zersprengen. Obwohl alles in ihm schrie aufzustehen und die Lage zu mustern, zwang er sich liegen zu bleiben und zu warten, bis sein Körper sich ein wenig erholt hatte.
Langsam erinnerte er sich.
Zwei Tage… drei Nächte… sein Schädel pochte wieder. Stück für Stück kam alles zurück. Er hatte hier schon zu lange gelegen. Er erinnerte sich an Dunkelheit, die ihm umgeben hatte. Dann wieder grelles, heißes Licht. Ein stetiger, langsamer Wechsel von Tag und Nacht, den er nur verfolgen konnte, wenn er für ein paar Minuten aus seinen Fieberträumen erwacht war.
Fieberträume…? Nein, es war mehr als das. Es war ein Kampf. Ein Kampf ums Überleben. Und er war dabei, ihn zu gewinnen. All die Bilder, die er vor seinen Augen gesehen hatte. Das Gewirr in seinem Kopf, das sogar die Schmerzen in seinem Körper überstieg… Langsam ergab es einen Sinn. Trotz der nahezu betäubenden Schmerzen fiel ihm eine Sache deutlich auf: Seit schon viel zu langer Zeit gelang es ihm, klare Gedanken zu fassen. Während sein Körper sich noch im Kampf befand, war sein Geist zum ersten Mal seit langem frei.
Mendraa… dieser verfluchte Bastard.
Mit seiner Wut flutete eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper. Geschüttelt von Krämpfen bäumte er sich auf, wollte seine Wut und seinen Schmerz herausschreien, doch seine heisere Stimme ließ nur ein wundes Krächzen zu. Wie hatte er es wagen können? Sich seiner so zu bemächtigen?! Heiße Tränen liefen seine glühenden Wangen hinunter. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Menraa würde es bitter bereuen. Er würde bezahlen für das, was er ihm angetan hatte.
Mit einem letzten, heiseren Stöhnen richtete er sich langsam auf. Seine Schmerzen ebbten schleichend ab, doch er konnte immer deutlicher spüren, wie sein Körper sich regenerierte. Seine Kraft kam zu ihm zurück. Es fühlte sich gut an.
Die Augen endlich geöffnet, sah er sich im Halbdunkel um. Für einen Menschen wäre das spärliche Licht kaum ausreichend gewesen, etwas klar erkennen zu können. Doch er war kein Mensch. Er war auch kein Vampir, auch wenn es Menraa so lieber gewesen wäre.
Araz musste sich in einer verlassenen Wohnung, vielleicht auch einem Haus befinden. Der Raum, den er nun mit langsamen Schritten durchquerte, war kahl und leer. Nicht ein Möbelstück befand sich darin, die alten Tapeten schälten sich an manchen Stellen langsam von den Wänden. Einzig vor den teilweise zerschlagenen Fensterscheiben wehten alte, mottenzerfressene Vorhänge in der durchziehenden, kühlen Brise. Sanftes Mondlicht stahl sich herein und ließ den Raum eigentümlich erstrahlen.
Araz Mund verzog sich zu einem kurzen, schiefen Lächeln. Das passte zu ihm. Sich an einen solchen Ort zu flüchten. Er trat an das Fenster heran, von den Schmerzen in seinem Körper nur noch ein dumpfes Pochen zu spüren. Als er nach draußen blickte, war die Stadt nur in der Ferne zu erkennen. Dass er es in seinem Zustand doch so weit geschafft hatte… Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er den Weg hierher gefunden, oder besser, überstanden hatte. Ein Stich durchfuhr seinen Schädel. Auch wenn er sich erholte, er sollte es nicht übertreiben. Er legte seine Hand über seine Stirn und massierte seine Schläfen.
Stechend grüne Augen. So hell und so strahlend bohrten sie sich tief in seine Seele.
Araz blinzelte ein paar Mal verwirrt. Eine weitere Erinnerung? Es stimmte. Menraa war nicht der Grund, warum er sich hierher geflüchtet hatte. Diese Sache lag schon sehr lange zurück. Ein Ziehen und Beißen durchfuhr sein Schienbein und seine Schulter. Er erinnerte sich an die Schüsse und den Schmerz. Dann konnte er auch die Frau vor sich sehen. So unscheinbar, so weich und zart mit ihrem weißen Haar und der schlanken, schmalen Statur. Der durchdringende Blick ihrer strahlenden Augen. Die gleichen, wie die der älteren Frau. Die beiden hatten sich sehr ähnlich gesehen. Verwandte? Geschwister? Nein… Mutter und Tochter? Erneut stahl sich ein kurzes Lächeln auf sein Gesicht. Sie hatten versucht ihn umzubringen. Ein trockenes Lachen verließ seine Kehle. Ob sich Menraa amüsiert hatte, als er Araz beim Sterben beobachtet hatte? Ihm hätte das sicherlich gefallen.
Sein Lachen endete in einem kratzenden Husten. Erst jetzt bemerkte er das Zittern in seinen Gliedern. Seine Kraft kam zwar langsam zurück, aber lange würde der Rest nicht reichen. Er sollte zusehen, dass er einen besseren Ort fand, um sich zu erholen. Dass er etwas zu sich nahm, um sich zu stärken und den Heilungsprozess zu unterstützen.
Nur wo sollte er hin? Zurück zu seinen ‚Gefährten‘? Nein, ganz sicher nicht. Sie waren nicht seine Gefährten. Sie waren nicht seine Brüder, nicht seine Familie, keine Freunde, nicht einmal Verbündete. Mit dem Gedanken an all die Gesichter, an deren Seite er gekämpft hatte, wallte die Wut wieder in ihm auf. Nicht nur Menraa würde büßen.
Mit der aufwallenden Wut meldete sich auch der Schmerz in seinem Körper. Vor Anspannung drohte seine Haut zu zerreißen. Er sah, wie seine Fingerspitzen bereits den Ansatz von Klauen zeigten. Er zwang sich, sich zu beruhigen. Nachdem er diese Chance erhalten hatte, musste er vernünftig vorgehen. Er durfte nichts überstürzen, die Kontrolle nicht verlieren. Zuerst musste er sich immer noch erholen.
Sollte er zurück in die Stadt? Mit Sicherheit suchten auch die Rebellen nach ihm.
Die Rebellen… Wieder tauchte das Bild der jungen Frau vor seinen Augen auf. Auch in seinen Träumen hatte sie ihn immer wieder verfolgt. Oder er sie? Sie musste zu den Rebellen gehören, daran gab es kaum etwas zu Zweifeln. Schließlich hatte sie versucht ihn zu töten. Oder? Nein. Da war noch etwas. Die andere Frau wollte, dass er starb. Doch die jüngere...
Hatte er es nicht ihr zu verdanken, dass er noch lebte?
‚Ich kann… helfen…‘ Waren das nicht seine eigenen Worte gewesen?
Hatte sie ihn deswegen gehen lassen? Oder ging sie davon aus, dass er ohnehin starb?
Nein. Er erinnerte sich an ihren Blick, mit dem sie ihn gemustert hatte, bevor er geflohen war.
Vielleicht war es nur Einbildung, Wunschdenken. Andererseits würden sich dadurch für ihn viele neue Möglichkeiten ergeben. Araz könnte mehr, als nur eine Schuld begleichen.
Es gab viele Gründe, weshalb es keine gute Idee sein könnte. Aber er wollte es versuchen.