Draußen war es so düster, dass man meinen könnte, der Nachthimmel zöge bereits herauf. Dichte, dunkle Wolken verdeckten die Sonne und hüllten die Welt in ein bedrückendes Grau. Fast den ganzen Tag über war es draußen trocken geblieben, doch nun prasselte der Regen endlich gegen das Fenster.
Rove folgte den Tropfen, die sich ihre Wege über das Glas bahnten. Die Welt dahinter war grau und verschwommen und wirkte so verzerrt wie all die Gedanken, die in ihrem Innern wirbelten. Doch der Regen hatte auch etwas beruhigendes. Während draußen die Elemente in Bewegung gerieten und es sich anfühlte, als würde die Welt sich verändern, begann sich der Sturm in ihrem Inneren langsam zu legen.
Mit einem tiefen Seufzen ließ Rove ihren Kopf seitlich gegen das bodentiefe Fenster sinken und zog sich die dünne Wolldecke enger um die Schultern. Sie lauschte dem Regen. Einer besonderen Melodie, ein Rhythmus, der keine höhen Tiefen und kannte, gleichmäßig und unaufdringlich.
Sie hätte noch ewig so verharren können, doch der Signalton ihrer VI zwang sie in die Gegenwart zurück. „Kommandant William Hunt wartet vor ihrer Tür, Miss Rove. Soll ich ihm öffnen?“, tönte die sanfte, weibliche Stimme ihrer VI durch die Wohnung und eine holografische Anzeige blendete das Bild der Kamera auf der anderen Seite der Wohnungstür ein. Dort stand William, den Blick direkt in die Kamera gerichtet, mit einer großen Tüte in den Händen, die er ebenfalls einmal in die Kamera hob.
Seufzend zog sich Rove die Decke von den Schultern und erhob sich von ihrem Sofa. „Lass ihn rein“, entschied Rove. Sofort ertönte ein leises Rumoren der Verriegelung ihrer Wohnungstür, bevor diese mit einem sanften Wehen aufschwang.
William trat mit einem zufriedenen Lächeln ein und fand sich unvermittelt in der Küche wieder, die direkt an den kaum vorhandenen Flur vor der Wohnungstüre anschloss. Von dort aus konnte er bis zu Rove ins Wohnzimmer blicken, in das die Küche nach nur wenigen Schritten endete.
Es war das erste Mal, dass er die junge Frau mit offenen Haaren sah. Die weißen Strähnen hingen ihr in sanften Wellen um die Schultern, bevor Rove sie mit einer Hand hinter ihren Rücken schob. Auch das sonst makellose Makeup fehlte und gab den Blick auf die dunklen Ringe unter den blassgrünen Augen frei, die die seinen fixierten. Barfuß, in weit fallender Jogginghose und einem zu groß scheinenden Pullover, wirkte sie alles andere als die stramme Soldatin, als die er sie kannte.
William verharrte nahe der Wohnungstür und stellte die Tüte auf dem winzigen Esstisch ab, der mit zwei Stühlen gegenüber der Küchenzeile zu seiner rechten Seite stand. Dabei schweifte sein Blick durch Roves Wohnung, zumindest den Teil, den er von hier aus sehen konnte. Sie war mit allem eingerichtet, was man in der Wohnung einer jungen, alleinstehenden Frau erwarten würde. Ein gemütlich aussehendes Sofa, das im Eck der Wand zum angrenzenden Zimmer und der Fensterfront stand, davor eine einfache, weiße Kommode, bestückt mit kleinen Pflanzen und einigen Büchern, über der Fernsehen eingeblendet werden konnte. An den Wänden hingen vereinzelt Bilder. Fotos von Roves Familie, soweit William das von weitem erkennen konnte.
„Ich habe Curry mitgebracht. Scharf, aber ich glaube, du magst das. Ich hoffe, du hast auch Hunger“, grüßte er, während Rove langsam auf ihn zuschritt.
„Danke“, meinte Rove knapp. „Was macht du hier?“
„Ich dachte, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen“, meinte William knapp und musterte sie für einen Moment eindringlich. „Und ich könnte auch etwas Gesellschaft gebrauchen. Wenn es für dich okay ist“, fügte er mit einem Seufzen hinzu.
Nach einem kurzen Zögern nickte Rove schließlich und öffnete einen der Hängeschränke über ihrem Spülbecken, um zwei Teller herauszunehmen. William nahm währenddessen die zwei Boxen mit dem scharfen Curry aus der Tüte und ließ sich von Rove zeigen, wo er Wasser und Gläser fand, um sie auf dem Tisch zu platzieren, bevor er sich setzte. Rove reichte ihm noch Gabel und Löffel, bevor auch sie sich auf dem zweiten der beiden einzigen Stühle niederließ.
Der würzig scharfe Duft des Currys stieg ihr sofort entgegen, als sie Box aufklappte, um den Inhalt auf ihren Teller umzufüllen.
„Rotes, scharfes Thai-Curry, mit Gemüse und ohne Fleisch“, erklärte William noch einmal genauer, während auch er sein Essen auf seinen Teller schob.
„Es riecht gut“, kommentierte Rove knapp und entsorgte schnell die leeren Schachteln, bevor sie sich wieder setzte. „Es sieht auch nicht schlecht aus.“
„Mhm.“
„Du wirkst nicht begeistert. Hast du das falsche bestellt?“
„Nein, nein. Alles in Ordnung.“
„Dann… warum so enttäuscht?“
„Ich bin nicht enttäuscht. Es ist nur… Das ist das letzte, das ich von meiner Mutter bekommen habe, bevor sie gestorben ist. Heute ist der Todestag meiner Mutter. Das letzte, was ich je von ihr gehört habe, war, dass sie dieses Curry gegessen hat. Es war ihr viel zu scharf. Scharfes Essen ist nichts für sie, war es noch nie. Aber sie hat es trotzdem geschafft. Sie meinte, für mich wäre es genau das richtige. Und wenn ich sie das nächste Mal sehen würde, würden wir das gemeinsam essen.“
Aber wenn das das letzte war, was er von seiner Mutter gehört hatte, dann ist es nie dazu gekommen, dachte Rove im Stillen. Sie nickte langsam und suchte nach passenden Worten, um ihr Beileid auszurücken, doch William winkte ab, bevor sie sprechen konnte.
„Sag nichts. Es ist schon in Ordnung. Ich esse nicht alleine, das reicht mir schon.“
Für einen Moment wurde es still zwischen den beiden. Jeder stocherte in seinem Teller herum und obwohl das Essen wirklich gut war, zwar scharf, aber lecker, wollte jeder Löffel nur mit Mühe herunter.
„Wieso bist du dann bei mir und nicht bei Ashley?“
„Wie gesagt: Ich dachte, du kannst heute auch Gesellschaft gebrauchen.“
Seufzend nahm Rove einen Schluck Wasser, um ihre brennende Zunge etwas abzukühlen und gleichzeitig etwas Zeit zu schinden. Neben dem Chili im Curry, brannte ihr auch eine Frage auf der Zunge.
„Geht es eigentlich darum, dass ich das Team verlassen werde?“