„Tabata, es ist so schön, dich endlich einmal wiederzusehen“, grüßte Indra und viel ihrer Freundin glücklich in die Arme.
„Ebenso Indra, wirklich. Es ist viel zu lange her. Es tut mir so leid, dass ich so wenig Zeit für dich hatte, vor allem gerade jetzt…“ Tabatas Blick fiel auf den Kinderwagen, der neben den beiden Frauen stand und das Neugeborene darin. Beim Anblick des Babys wurde es um ihr Herz ganz weich.
„Komm, setzt dich Indra. Wir müssen hier nicht stehen“, schlug Tabata mit einem Blick durch die Kantine vor. Im Augenblick war es sehr ruhig. Um diese Zeit hielten sich kaum Mitarbeiter darin auf und sie hatten sich in ein Eck zurückgezogen, in dem sie ungestört miteinander reden konnten.
Indra nickte, zog den Kinderwagen zu ihrem Stuhl heran. „Mach dir keine Gedanken. Ich weiß ja, dass dein Job nicht immer zulässt, Zeit für Freunde zu finden.“ Indra setzte ein verständnisvolles Lächeln auf, doch Tabata glaubte trotzdem etwas Wehmut zu erkennen. Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie wusste, dass sie das nicht brauchte. Dennoch… Indra war ihre engste Freundin. Fast wie eine kleine Schwester für sie, seit sie sich vor etwas mehr als zwölf Jahren kennengelernt hatten. Die beiden hatten bereits so viel miteinander durchgestanden. Fast jeden ihrer Wege im Leben gemeinsam bestritten. Doch seit sie der Organisation beigetreten war und in den Außendienst versetzt wurde, kam ihre Freundschaft zu kurz.
Und das gerade in dieser besonderen Zeit. Indras Baby war schon etwas einen Monat auf der Welt, doch sie sah es heute zum ersten Mal. Auch die Schwangerschaft war vorübergegangen, ohne das ihr die Möglichkeit gegeben war, ihre Freundin wirklich zu unterstützen. Sie fühlte sich furchtbar, voller Scham.
„Ich meine es Ernst, Tabata. Mach dir keine Sorgen wegen uns. Uns geht es gut. Und wir sind froh, dass du für uns kämpfst. Auch wenn es bedeutet, dass wir uns kaum noch sehen. Jetzt haben wir es ja geschafft.“
Ja, aber unter welchen Umständen?, dachte Tabata. Dass sie sich nur in der Kantine trafen, untermalte diese unglückliche Situation deutlich. Viel lieber wäre es ihr gewesen, sie hätten bei Indra direkt treffen können. Der jungen Mutter wäre das sicher auch lieber gewesen als hier, an Tabatas Arbeitsplatz, zwischen all den Fremden, auch wenn es im Augenblick nicht allzu viele waren.
Die Worte ihrer Freundin entlockten Tabata nur ein müdes Lächeln. Doch nachdem Indra sich so viel Mühe gab, die Stimmung positiv zu halten, wollte sie auch versuchen, es optimistischer zu sehen.
„Wie geht es euch beiden denn? Wie fühlt es sich an?“, wollte Tabata mit einem weiteren Blick in den Kinderwagen wissen. Bis sie den kleinen gesehen hatte, war es ihr schwer gefallen, wirklich zu glauben, dass er bald hier sein würde. Obwohl sie Indra während der Schwangerschaft immer mal wieder kurz gesehen hatte, mit ihrem stetig wachsenden Bauch, war ihr schwer gefallen, das wirklich zu fassen.
Jetzt war er da, der kleine Engel und erwärmte nicht nur Indras Herz.
Mit einem Lächeln auf den Lippen beugte sich Indra über den Kinderwagen, um ihren winzigen Sohn herauszuheben. Der kleine wirkte so entspannt, begann nicht sofort zu weinen, wie Tabata befürchtet hatte. Nur ein leises Seufzen entwich seinem winzigen Mund und als seine Mutter ihn in ihre Arme gewickelt hatte, schlief er fast sofort wieder ein. „Er ist wunderschön. Und so ruhig“, hauchte Tabata völlig verzaubert. Sie meinte es sogar ernst.
„Ja, nicht wahr? Die ersten Tage, nein, bestimmt die erste Woche oder sogar zwei… oh je, ich habe so ein schlechtes Zeitgefühl, Tabata, ich weiß es nicht mehr“, begann Indra zu erzählen „es war nicht so ruhig am Anfang, meine ich. Das Schlafen war fast nicht möglich, die Geburt selbst verlief alles andere als geplant, nicht, wie wir uns das vorgestellt hatten. Es war das reinste Chaos. Wenn du jemals Kinder bekommst, brauchst du Leute, die dich unterstützen können. Alleine kann man das gar nicht schaffen“ Autsch, das tut weh. Ich wollte ja für euch da sein… Es tut mir so leid, Indra. „Allein, um Kaffee zu kochen oder die Wäsche zu waschen, das Bett zu machen und solche Dinge. Es ist verrückt, wie sehr dich so ein kleines Wesen fordern kann.“ Indra unterbrach ihre Erzählung um einmal herzhaft zu seufzen. „Zum Glück habe ich meine Familie.“ Ja, dachte Tabata, ein Glück dass sie es noch geschafft hatten, sie ebenfalls hierherzuholen. Und das sogar noch vor der Geburt des Kleinen.
Tabata bemerkte Indras irritierten Blick, als sie zu ihr aufsah, da ihre Freundin die Erzählung unterbrochen hatte. Sie folgte ihren Augen hin zu einer Gruppe Männer, die sie sehr schnell als Vampire identifizieren konnte. Ebenfalls Mitarbeiter ihrer Organisation, mit denen sie selbst bisher kaum Berührungspunkte hatte, doch sie wusste, dass von ihnen keinerlei Gefahr ausging. Indra wusste das auch, dennoch blieb ihr Blick auf ihnen haften. Tabata bemerkte ebenso, wie Indra ihren Sohn enger umfasste und sich ihre Nasenflügel bei jedem langsamem Atemzug deutlich aufblähten.
„Indra, ist alles in Ordnung?“, fragte Tabata vorsichtig.
Indra schüttelte kaum merklich den Kopf. „Müssen die hier sein? Was haben die in der Kantine verloren?“
Erneut sah Tabata zwischen Indra und den Vampiren hin und her. „Naja, es ist nicht einfach nur eine Kantine. Viele nutzen diesen Ort um sich zu treffen, zwischen Einsätzen auszutauschen und so...Dieser Ort ist offen für alle.“
„Aber… aber muss das sein…Diese Blutsauger, hier…?“, fragte Indra mit zittrigen Lippen und steifem Blick, die Hände verkrampft um ihr Kind.
„Mach dir keine Sorgen, Indra. Ignoriere sie einfach. Erzähl mir weiter“, versuchte Tabata abzulenken. Sie konnte ja schlecht aufstehen und die Gruppe aus der Kantine verweisen. Dazu hatte sie kein Recht. Vielleicht könnte sie sie aber bitte…
Doch dafür war es schon zu spät.
Wohl angelockt durch Indras starrem Blick, hatten die vier Männer sich ihnen angenähert. Allesamt mit einem schiefen Lächeln im Gesicht, traten sie zu ihr und Indra heran, die neugieren Blicke vor allem auf Indra und ihr Kind gerichtet.
„Oh, wie bezaubernd. Ein kleiner Frischling“, kommentierte der erste.
„So eine winzige Portion Mensch“, kam es vom zweiten.
„Wie süß“, seufzte der dritte.
„Geradezu zum Anbeißen“, lächelte der vierte.
Mit den Worten der Vampire wurde Indra zunehmend bleicher im Gesicht. Ihr Atem ging so zittrig wie ihre Hände. Schützend drückte sie ihr Baby näher an ihre Brust, sodass er fast vollständig von ihren Armen verdeckt blieb. Ein leises Wimmern war zu hören. Tabata wunderte sich nicht. Bei dem Aufruhr musste er ja aufwachen.
„Bitte Leute, muss das sein? Wir wollten uns hier nur unterhalten“, versuchte Tabata einzulenken. Doch die Männer ignorierten sie gekonnt.
„Manchmal vermisse ich den Geschmack von Säuglingen. Von allem was die Welt zu bieten hat, waren sie doch immer die leckerste Mahlzeit“, begann einer zu sinnieren.
Das reichte. Wütend erhob sich Tabata und stellte sich dem vordersten der Männer entgegen. „Bitte, lasst uns in Ruhe. Das hier ist eine private Unterhaltung, ihr habt hier nichts verloren“, zischte sie energisch und deutete zu den vielen leeren Tischen in dem großen Raum. Indra indessen wirkte, als würde sie in den nächsten Sekunden zusammenklappen. Tabata überlegte fieberhaft, wie sie diese Situation lösen konnte, ohne dabei noch mehr ärger zu verursachen.
„Was ist hier los?“
Alle wandten sich um zu der Person, die hinter der Vampirgruppe aufgetaucht war. Tabata erkannte Rove und atmete erleichtert aus. Was für ein Glück. Wenn sie hier war, würden sich die Vampire nicht mehr trauen, sich so groß aufzuspielen. Zumindest hoffte sie das.
„Ah Rove, schön dich hier zu sehen“, grüßte der Vampir, der schon zu Beginn das erste Wort ergriffen hatte, mit betonter Freundlichkeit in der Stimme, aber nicht in seinen Augen.
„Was ist hier los?“, wiederholte Rove ihre Frage, ohne auf seine Begrüßung einzugehen.
„Nichts Besonderes. Wir wollten uns nur den kleinen Frischling ansehen und unsere Glückwünsche aussprechen“, antwortete der Vampir und versuchte weiterhin, möglichst freundlich zu wirken.
„Warum sieht die Mutter dann so aus, als würde sie gleich von ihrem Stuhl fallen?“
„Wir haben uns vielleicht einen kleinen Scherz erlaubt…“
„Einen kleinen Scherz? Ihr könnt doch vor einer Mutter nicht erzählen, wie es ist, das Blut von Kindern zu trinken!“, mischte sich Tabata ein.
„Ach was? Wir sind doch nur Blutsauger, was sonst sollten wir tun?“, gab der Vampir nun deutlich gereizt zurück.
„Schluss damit!“, herrschte Rove ihn und seine Kameraden an.
„Wenn ihr respektiert werden wollt, solltet ihr euch nicht wie die Monster verhalten, für die ihr gehalten werdet. Also reißt euch zusammen und belehrt sie eines besseren, anstatt ihnen Angst einzujagen und damit ihre Vorstellungen zu verschärfen!“, donnerte Rove und deutete ihnen mit einem Nicken, dass sie nun schleunigst verschwinden sollten. Wortlos und mit steinerner Miene setzten sich die vier Männer in Bewegung, wobei sie Rove und den beiden anderen Frauen missbilligende Blicke zuwarfen.
„Sam, wir beide sehen uns später noch zum Training, richtig?“, rief Rove ihnen hinterher.
„Ja, klar“, brummte der Anführer des Trupps, während sie davon marschierten.
„Vielen Dank, Rove“, bedankte sich Tabata und sah von Rove hin zu Indra. Auch diese nickte knapp und murmelte ein leises „Danke“.
Rove lächelte kurz, wurde aber schnell wieder ernst. „Du solltest dich auch etwas zusammenreißen“, meinte sie an Indra gewandt. „Diese Leute gehören genauso zu uns, wie ihr. Wie Tabata und ich kämpfen sie für unser wohl, beschützen euch und euer zuhause. Sie haben es nicht verdient, provoziert zu werden. Dass nicht alle ihrer Art so gut mit den Menschen umgehen, ist nicht ihre Schuld.“
Tabata sah Indra schweigend zu Boden blicken. Sie konnte ihr Gesicht nicht recht erkennen, meinte aber, dass sie ehrlich bestürzt über das eigene Verhalten war.
Rove warf einen Blick über ihre Schulter und sah zu den vier Männern, die sich ebenfalls noch einmal kurz zu ihnen umgedreht hatten. Sie mussten gehört haben, was sie der Frau gesagt hatte, denn auch sie wirkten nun deutlich entspannter.
„Tabata, eigentlich wollte ich dich kurz sprechen“, begann Rove an die junge Frau gerichtet. Als sie jedoch deren Blick sah, den sie auf Indra und ihr Baby warf, überlegte sie es sich anders. „Tut mir leid, ich komme später wieder. Nein, besser, melde dich bei mir, sobald du kannst, okay? Es hat keine Eile.“ Mit einem kurzen Winken ging sie davon, ohne auf eine Antwort zu warten.