Seine VI meldete einen Besucher vor seinem Labor. Bis er aufgesehen hatte, um sie zu überprüfen, wurde die Tür zu seinem Labor bereits geöffnet. Als er letztendlich von seinen Unterlagen aufsah und Rove darin erblickte, wusste er sofort, was ihr Besuch zu bedeuten hatte. Blut klebte in ihrem Gesicht und auf ihren Händen, eine davon presste flach unterhalb der Brust auf ihrem Oberkörper. Es hatte kein Einsatz stattgefunden. Sie war wieder losgezogen, um sich .... abzulenken.
„Hey Jon“, grüßte sie knapp, während ihre deutlich geröteten Augen kurz den Raum absuchten. „Hast du Zeit?“, fragte sie, als sie sicher war, dass sie alleine waren.
Jonathan verbiss sich den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, nickte und deutete auf einen freien Stuhl in seiner Nähe. Rove hinkte herbei und ließ sich langsam darauf nieder.
„Wo warst du diesmal?“, fragte Jonathan, während er aufstand, um den Verbandskasten zu holen. „Nein warte, ich will es nicht wissen“, ergänzte er, bevor sie hätte antworten können. Sie hätte ohnehin nicht geantwortet, wie er sie mittlerweile kannte.
Wieder auf seinem Arbeitsstuhl sitzend rollte Jonathan zu Rove hinüber, stellte den Verbandskasten neben ihr auf den Tisch. Während er seinen Laborkittel auszog und seine Hemdsärmel hochkrempelte, schlüpfte Rove vorsichtig aus der schwarzen Pulloverjacke und dem Tanktop, sodass sie in Hose und Sport-BH vor ihm saß. Beim flüchtigen Überfliegen entdeckte Jonathan weitere Blutergüsse und eine gemein aussehende, aber wahrscheinlich nur oberflächliche Schnittwunde direkt unter dem Rippenbogen. Sofort drückte Rove wieder ihre Hand über die Wunde, die immer noch leicht blutete.
Bevor Jonathan die Behandlung begann, besah er sich die restlichen Verletzungen. Vorsichtig legte er seine Hand an Roves Kinn, um ihr Gesicht zu sich zu drehen. Strähnen ihres Haares hatten sich aus dem Knoten hinter ihrem Kopf gelöst und hingen vor ihren glasig wirkenden Augen, klebten in dem Blut auf ihrer blassen Haut. Unter dem linken Auge sammelte sich ein Bluterguss und die Wange darunter war leicht geschwollen. Das halb getrocknete Blut stammte von einer Platzwunde an ihrem Haaransatz über der Schläfe. Eine weitere über ihren vollen Lippen, durch die in unregelmäßigem, aber ruhigem Rhythmus ihr Atem floss. Darin stecke ein Hauch von Rauch und Alkohol.
Mit sichtlichem Missfallen ließ sich Jonathan in seinen Stuhl zurücksinken.
„Was hast du alles zu dir genommen?“
Rove zuckte zur Antwort nur mit den Schultern.
„Nur Alkohol?“, hakte Jonathan genauer nach und musterte sie aus seinen strengen, stahlblauen Augen.
Diesmal sah Rove auf, die blassgrünen Augen direkt auf seine gerichtet, die Pupillen deutlich geweitet.
„Großartig...“, schnaubte Jonathan leise und drehte Roves Stuhl zur Seite. Wiederstandlos ließ sie ihn gewähren. Das Haar, dass ihr lose aus dem halb aufgelösten Knoten hing, schob er zur Seite und erkannte sofort die winzigen Stichwunden unterhalb ihres Nackens. Mit Mühe verkniff er sich ein zweites Schnauben und unterdrückte einen Kommentar.
Er drehte ihren Stuhl zurück, sodass sie sich wieder gegenüber saßen und griff nach Roves linkem Unterarm. Sie sträubte sich nicht, als er ihre Vitalanzeigen abrief und einen Scan durch ihren Körper startete. Es dauerte wenige Augenblicke, bis die Ergebnisse über ihrer Haut eingeblendet wurden.
Es kostete ihn alle Mühe, nichts zu sagen. Er wusste, dass seine Worte kaum etwas ändern würden. So schüttelte er letztendlich nur den Kopf. Mit einem frisch in Desinfektionsmittel getränkten Tupfer in der einen und einem Reinigungstuch in der anderen Hand, begann er seine Arbeit.
„Das schmerzt jetzt ein bisschen“, warnte er, bevor er mit der Reinigung der Schnittwunde begann. Er wusste, dass er ihr das nicht zu sagen brauchte, wenn er ihre Verletzungen versorgte. Trotzdem tat er es jedes einzelne Mal.
Als er mit dem Nähen der größeren Wunde begann, zeigte Rove kaum eine Reaktion. Als würde sie seine Hände auf ihrer Haut nicht spüren. Die dunkel unterzogenen Augen blickten zu Seite weg, wanderten durch den Raum und überprüften das eine oder andere Mal kurz seine Arbeit, während die junge Frau sonst teilnahmslos wirkte.
„Ich verstehe dein Verständnis zu Ablenkung immer noch nicht“, meinte Jonathan, als er bei ihrem Gesicht angekommen war. Er bearbeitete die Platzwunde, oben an ihrer Schläfe.
Rove schenkte ihm zur Antwort einen Blick aus verengten Augen, blieb aber weiterhin stumm. Jonathan erwartete offensichtlich keine Antwort auf seinen Kommentar. Er konzentrierte sich weiter auf das Schließen der Wunde, achtete nicht einmal auf ihre Reaktion. Zumindest gab er das vor.
Normalerweise erachtete es keiner von beiden als nötig, sich während der Behandlung zu unterhalten. Jonathan hatte lange aufgegeben, Rove ins Gewissen zu reden. Doch diesmal...
Sie wirkte ... anders.
Nicht so wütend. Nicht so vollkommen abwesend. Einfach, irgendwie, leer.
Jonathans Kiefer presste krampfhaft aufeinander, während er mit sich rang, ob er nun etwas sagen wollte oder nicht.
„Vielleicht solltest du dich einmal mit deinen inneren Schmerzen beschäftigen, bevor du sie mit äußerlichen betäubst“, meinte er schließlich und verkniff es sich, sich danach direkt auf die Zunge zu beißen.
Sofort trat Roves Muskulatur in Anspannung deutlich unter ihrer Haut hervor und verlieh ihr etwas furchtinflößendes. Mit gestrafften Schultern und gestrecktem Rücken und rückte von ihm ab. Unwillkürlich unterbrach Jonathan seine Arbeit und rückte ebenfalls ein Stück zurück.
Roves Brustkorb hob und senkte sich deutlich, während sie Jonathan mit stechendem Blick musterte und die Lippen dabei fest aufeinanderpresste. Bis sie schließlich einmal tief die Luft ausstieß, ihren Blick und die Anspannung wieder löste. Teilweise zumindest. Ihre Hände ballten sich immer wieder zu Fäusten und lösten sich in stetigem Wechsel.
Vorsichtig rückte Jonathan wieder näher und setzte seine Arbeit fort. „Das kann so nicht weitergehen“, setzte er vorsichtiger, aber immer noch deutlich an.
Sofort rückte ihr Blick wieder in seine Augen und er unterbrach erneut, was er begonnen hatte.
„Seit wann interessiert es dich, wie es anderen Leuten geht?“
Ja, seit wann war sein Interesse groß genug, um sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen?
„Darum geht es nicht, Rove. Hältst du es für richtig, regelmäßig hier nach unten zu kommen und dich zusammenflicken zu lassen? Irgendwann-“
„Hör auf mich zu verurteilen. Du bist kein Stück besser als ich und das weißt du. Verkneif‘ dir deine Weisheiten.“
„Immerhin verstecke ich mich nur allein hier unten und vergrabe mich in Arbeit“, gab Jonathan zurück. „Wenn du so weitermachst, schaffst du es irgendwann nicht mehr zurück.“
Diesmal ignorierte er ihren Blick und die ansteigende Spannung in ihrem Körper. Das Schnauben und das Ballen ihrer Fäuste. Unbeirrt setzte er seine Arbeit fort, wechselte die Tupfer, holte die Salbe und Pflaster hervor, um die beiden größeren Wunden einzureiben und anschließend abzudecken.
„Was ist mit deinem Fuß?“, fragte er, nachdem er sich alles andere angesehen und versorgt hatte. Ein wenig überrascht war er schon, dass sie nichts weiter gesagt hatte.
„Es geht schon. Ich-“
„Zeig es mir“, unterbrach Jonathan unwirsch und half Rove, aus dem Stiefel zu schlüpfen. Dabei musterte er sie noch einmal kurz, unauffällig. Die Wut und Aggression, mit der sie ihm eben noch gegenüber gesessen hatte, war verschwunden. Stattdessen wirkten ihre Augen leer und leblos. Und obwohl Jonathan bestens geübt darin war, die Empfindungen anderer zu übersehen, tat es ihm diesmal weh, sie so zu sehen. Das hatte sie nicht verdient. Nicht nach allem, was sie täglich leistete. Nicht nach allem, was sie bereits geleistet hatte. Sie mochte zwar nicht immer die richtigen Wege gehen, doch ...
„Eine OP wird nicht nötig sein“, meinte Jonathan nach einem Blick auf ihren Fuß und den Scan, der holografisch auf ihrer Hautoberfläche angezeigt wurde. „Eine Spritze, damit sollte es bis spätestens morgen Abend gut sein.“
Rove nickte langsam und ließ sich tief in ihren Stuhl zurücksinken. Sie schloss die Augen und wirkte müder als zuvor. An ihren Armen, Schultern und Bauch war immer noch Anspannung sichtbar.
Seufzend setzte Jonathan ihren Fuß auf dem Boden ab, als er ihn fertig eingebunden hatte. Sofort richtete Rove sich auf und stützte ihre Arme auf die Lehnen, als wolle sie sich erheben.
„Warte noch einen Moment“, bat Jonathan und erhob sich vor ihr von seinem Stuhl, um noch einmal zu dem Schrank mit den Medikamenten zu gehen. Mit einer Spritze in der Hand trat er zu ihr zurück.
„Gegen die Schmerzen. ... Und für die Nerven“, meinte er knapp und wartete, bis Rove nickte.
„Ich weiß, du meinst es gut“, meinte Rove, während Jonathan die Nadel ansetzte. „Du bist ein guter Mann, Jonathan. Verschwende deine Mühe nicht für mich.“
Ein kurzes Lächeln zuckte über Jonathans Lippen und er nickte knapp, bevor er den Inhalt der Spritze in ihre Venen drückte. Eigentlich war es kein Schmerzmittel. Nicht direkt, zumindest. Es sollte Rove helfen, Ruhe zu finden.
Auf Roves Gesicht lag ebenfalls ein schmales Lächeln. Sie wartete, bis Jonathan die Nadel herauszog und erhob sich, um sich zu verabschieden. Im Stand angekommen, wirkte sie plötzlich verwirrt und sah sich irritiert nach Jonathan und der Spritze in seiner Hand um. „Wa-“
Bevor sie ihre Frage zu Ende sprechen konnte, knickte sie ein und drohte vornüber zu fallen. Jonathan fing sie auf, bevor sie zu Boden ging und hievte sie zurück in ihren Stuhl. Er prüfte kurz, ob alle ihre Werte nach der Zugabe der Spritze in Ordnung waren, dann rief er William.