Es war sehr spät geworden, aber immerhin hatte er es heute endlich beenden können. Selbst zurück im Hauptquartier war es ungewöhnlich still. Nur wenige Leute waren noch auf und gingen ihrer Arbeit nach. Auf dem Weg zu den Waschräumen begegnete Araz nur wenigen und diejenigen denen er begegnete, interessierten sich wie immer nicht für ihn. Manchmal wirkte es fast so, als machten sie immer noch lieber einen Bogen um ihn. Dabei war er nun schon seit ein paar Wochen hier. Seufzend wandte auch er den Blick von ihnen ab. Er konnte sie ja schlecht dazu zwingen, ihm zu vertrauen.
Als er die Tür zur gemeinschaftlichen Küche kreuzte, verharrte er kurz. Was war das? Durch den offenen Türspalt kam kein Licht, aber es war deutlich ein Schaben und Kratzen zu hören, gelegentlich gefolgt von einem energischen Klopfen. Stirnrunzelnd schob er die Tür vollends auf.
„Was tust du da?“
Das einzige Licht im Raum strahlte aus dem offen stehenden Kühlschrank, vor dem Rove sich aufgebaut hatte. Ohne sich zu ihm umzuwenden hackte sie weiter auf das geöffnete Gefrierfach ein. „Es ist zugefroren! Warum ist es zugefroren?“, zischte sie leise zur Antwort. Oder mehr zu sich selbst. So genau konnte er das nicht beurteilen. Er schaltete das Licht im Raum ein und trat vorsichtig ein paar Schritte näher. „Oh, verstehe“, meinte er, als er die dicke Eismasse im Gefrierfach sah. Rove bearbeitete sie mit einem der Esslöffel, hackte und kratze, schabte und schlug damit immer wieder auf die Eiswand ein, doch bis auf ein paar winzige Splitter die sich lösten, konnte sie nicht viel ausrichten.
„Warum lässt du sie nicht einfach auftauen?“
Abrupt hielt sie in ihrer Bewegung inne und wandte sich zu ihm um. Ihre Augen funkelten, während ihre beiden Hände sich zu Fäusten ballten. „Ich will Eis“, zischte sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Dort hinten ist das letzte. Ganz da hinten. Warum?“
„Ganz ruhig…“, versuchte Araz mit gehobenen Händen zu beschwichtigen. „Ich werde es dir nicht wegnehmen.“
„Das hatte ich auch nicht erwartet“, brummte Rove und sah zurück in das Gefrierfach. Als hätte sie schon wieder vergessen, dass er neben ihr stand, begann sie erneut, mit dem Löffel auf das Eis einzuhacken.
„So wird das doch ewig dauern“, meinte Araz und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sie beobachtete. Wieder schnellte sie zu ihm herum, hielt ihm den Löffel direkt unter die Augen. „Ach ja? Und was schlägst du vor?“
„Drohst du mir… mit einem Löffel?“
Rove sah auf den Löffel in ihrer Hand, direkt vor Araz’s Gesicht. „Oh. Entschuldige.“
Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie weit nach unten sie ihre Mundwinkel ziehen konnte. Zusammen mit ihrer gebeugten, angespannten Haltung und den nur halb geöffneten Augen war es schwer, sie wiederzuerkennen. Handelte es sich bei ihr wirklich um die gefürchtetste Soldatin, der er je begegnet war?
„Der Löffel eignet sich wohl nicht so gut… ich dachte, Schaufel, oder… keine Ahn-…“ Sie starrte auf das Besteckstück in ihrer Hand und ließ es langsam aus seinem Gesicht sinken. Dann entfachte sich plötzlich ein neues Feuer in ihren Augen. Bevor er ahnte, was sie vorhatte, hatte sie bereits seine Pistole aus seinem Holster gezogen, entsichert und auf das Gefrierfach gerichtet.
„Rove, bist du denn wahnsinnig?“, fauchte er aufgebracht und nahm ihr die Waffe wieder aus den Händen. „Was ist denn nur los mit dir?“
Rove wollte ihn wütend anstarren, doch selbst sie sah wohl ein, dass sie langsam zu weit ging. Anstatt ihm zu antworten, schlug sie Gefrierfach und Kühlschrank donnernd zu. Sie ging ein paar unruhige Schritte in der Küche umher, bevor sie sich schließlich gegen die Wand lehnte und sich langsam in eine sitzende Position gleiten ließ. Ihre Hände rauften ihr durch das zusammengebundene Haar, einzelne weiße Strähnen lösten sich aus dem locker gebundenen Dutt.
Für einen Moment überlegte Araz, ob er sie dort einfach sitzen lassen sollte und stattdessen lieber auf sein Quartier ging. Anscheinend ging es ihr nicht gut und er wusste nicht, ob sie lieber allein sein wollte. Schließlich redete sie auch kaum mit ihm.
Während er sie allerdings dort kauern sah, den Tränen nahe, brachte er es nicht mehr über sich, sie einfach zurückzulassen. Seufzend ließ er sich neben sie sinken. Sie war eine der wenigen Personen hier, die ihn nicht immerzu misstrauisch beäugten. Anstatt wegzusehen, wenn sich ihre Blicke trafen oder ihm mittels der Mimik Drohungen zu übermitteln, lächelte sie manchmal. Sie behandelte ihn mit Respekt und Freundlichkeit, die aufrichtig waren. Sie scherte sich um das, was er dachte oder fühlte, auch wenn sie sich nicht oft begegneten. Obwohl es ihm nicht besonders lag, er wollte wenigstens versuchen, in gleichem Maße für sie da zu sein. Er wusste nicht, was er sagen oder fragen sollte, also saßen sie eine Weile nur schweigend nebeneinander.
Ein schwerer Seufzer verließ Roves Brust und brachte ihn dazu, wieder zu ihr hinzusehen. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, es war unter einer ihrer Hände vergraben. Nur ihr Mund und das Kinn waren unter ihren Fingern noch zu erkennen. Ihre Lippen zitterten leicht, während ihr Atem in unregelmäßigen Abständen darüber floss. Araz bemerkte, wie ihre andere Hand sich über ihrem Unterbauch krümmte.
So war das also.
„Schmerzen?“, fragte er vorsichtig und deutete auf ihre Hand, als sie ihm einen fragenden Blick schenkte. Sie nickte langsam und legte daraufhin beide Hände über die schmerzende Stelle.
„Ihr Menschenfrauen habt es wirklich nicht leicht, oder?“ Einmal im Monat zu bluten, für ihn unvorstellbar. Dass Frauen das in ihrem Leben regelmäßig durchmachen mussten, vergaß er gerne. Das änderte allerdings nichts an der Realität.
Roves Lippen pressten übereinander, ihre Hände krampften ebenso, während sie den Kopf schüttelte. Als sie die aufkommenden Tränen spürte, löste sich eine Hand und legte sich schnell wieder über ihr Gesicht.
So schlimm war es also? Araz konnte sich das nicht vorstellen. Wie auch? Doch die sonst so tapfere Soldatin so zusammengekauert zu sehen… er wollte es sich auch nicht vorstellen. Oder waren es gar nicht die Schmerzen, die ihr die Tränen in die Augen trieben?
Ihre Hand lag zwar immer noch über ihrem Schoß, doch nicht schützend, wie er zuerst vermutet hatte. Ihre Finger krümmten sich um ihren Unterbauch, als wollten sie sich hineinbohren. Vielleicht kam ihr Zittern nicht von Krämpfen, sondern vor Wut.
„Rove ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Araz vorsichtig. Er wusste nicht, ob er ihr auch eine Hand auf die Schulter legen sollte oder etwas ähnliches, beschloss aber, dies erst einmal zu unterlassen. So gut kannten sie sich nun auch wieder nicht.
„Nein“, antwortete Rove leise. „Da kannst du leider nicht helfen. Da kann niemand helfen.“ Ihre Worte endeten in einem Schluchzen, dass sie schnell hinunterzuschlucken versuchte.
„Gibt es denn kein Schmerzmittel, das du nehmen kannst? Ich könnte welches holen gehen.“
„Nein, nein. Darum geht es nicht.“ Also hatte er richtig vermutet. „Es ist… Es ist einfach nicht fair. Verstehst du? Wieso passiert mir das? Ich bin Soldatin, verdammt. Ich werde niemals eine Familie haben. Warum muss ich das ertragen? Wieso ich? Ich bin Soldatin! Warum… warum…?! Ich kann nie…“
Nach den letzten Worten gab sie sich nicht länger die Mühe, ihre Wut und ihre Tränen zu verbergen. Araz konnte ihr nicht ganz folgen. Bei ihren Worten tat sich aber ein dunkler Verdacht auf. Sie konnte nie....? Kinder gebären?
Wieder fehlten ihm die Worte. Vielleicht war es auch besser, wenn er einfach gar nichts sagte, sondern sie sich ausweinen ließ. Er hatte schon einmal beobachtet, was für eine heilsame Wirkung das Lassen von Tränen haben konnte. Und falls sein Verdacht richtig lag... gab es auch keine Worte, die echten Trost spenden konnten.
Nach einer Weile wurde Rove tatsächlich ruhiger. Das Zucken ihrer Schultern wurde langsamer, ihre Atem gleichmäßiger und ihre Brust hob und senkte sich wieder in einem fast normalen Rhythmus.
„Es tut mir leid“, murmelte sie leise und wagte es nicht, ihn anzusehen.
„Macht dir keine Gedanken.“
„Danke.“
Für ein paar Minuten schwiegen beide. Sollte er jetzt besser gehen? Er warf einen Blick auf ihr Gesicht und entschied, dass er vielleicht noch einen Moment warten sollte.
„Hör zu, wenn du willst, gehe ich mit dir ein Eis essen. Es ist zwar mitten in der Nacht… aber ich weiß, wo wir etwas finden könnten“, schlug er vor.
Tatsächlich rührte sich die junge Frau neben ihm. Sie lehnte sich nach hinten, den Hinterkopf gegen die Wand gelegt. Ein schmales Lächeln verzog ihre zittrigen Lippen, während ihre grünen Augen die seinen suchten. „Das ist lieb. Aber ich wollte dieses Eis“, meinte sie und deutete auf den Kühlschrank.
Auch über Araz Gesicht legte sich ein sanftes Lächeln, als er zwischen ihren Augen und dem Kühlschrank hin und her sah.
Araz erhob sich und ging auf den Kühlschrank zu. Er öffnete das Gefrierfach und sah hinein. Die letzte Schachtel Eis war tatsächlich ganz hinten, kaum noch unter der dicken Eisschicht erkennbar. Er streckte eine Hand hinein, die sich alsbald veränderte. Mit den unmenschlichen Krallen und seiner übermenschlichen Kraft, konnte er das Eisfach wesentlich schneller freikratzen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er die Eisschachtel aus dem übrigen Eis herausbrechen konnte. Er nahm den Löffel, den Rove zuvor zur Seite gelegt hatte und hielt der jungen Frau dann beides vor die Nase.
„Danke“, murmelte sie leise und nahm es nach kurzem Zögern entgegen. „Aber eigentlich… will ich es gar nicht mehr.“