Als Jonathan den Tatort erreichte, kam er zuerst an dem Rettungswagen vorbei, in dem die Zeugin, oder besser, das Opfer saß. Schon im Vorbeigehen fiel ihm die seltsame Ruhe auf, die sie umgab, obwohl de junge Frau einen beinahe tödlichen Angriff überlebt hatte und die Sanitäter immer noch dabei waren, die Blutung zu stillen.
Doch bevor er dazu kam, mit ihr zu reden, wollte er sich die Leiche ansehen, die man gefunden hatte.
Es war mitten in der Nacht. Einzig die wenigen Straßenlaternen in der Umgebung und das wild blitzende Blaulicht der Polizeiwägen und des Krankenwagens erhellten den Tatort. Sein Kollege führte ihn hin zu der Leiche, die sie gefunden hatten. Sie lag in einer Seitengasse, nicht weit von der Hauptstraße entfernt. "Ich bin mir sicher, die wird dir gefallen", meinte Robert mit einem erzwungenen Grinsen im Gesicht. Er zeigte auf die Überreste eines Mannes, wie es schien. Der Körper sah aus, als wäre er verbrannt worden. An einigen Stellen, wo Arme und Hände sein sollten, fand sich teilweise nur noch zerfallene Asche. "Ein Brand? Ich dachte, hierbei handelt es sich um einen Überfall", meinte John knapp, doch schon beim reden viel ihm auf, dass außer an der Leiche nirgendswo sonst Spuren eines Brandes zu finden waren. Dafür aber frisches Blut, das in glänzenden Pfützen auf dem Boden verteilt war.
"Das ist doch genau dein Ding, Jonathan. Viel Spaß beim Untersuchen", wünschte ihm Robert und verzog dabei den Mund zu einem schiefen Grinsen, doch der Rest seines Gesichts verriet etwas anders. John warf ihm einen genervten Blick zu, bevor er sich hinunter zu den Überresten kniete, um einen genaueren Blick darauf zu werfen.
Das Gesicht des Mannes war von seinem größten Interesse. Vorsichtig versuchte er, es zu bewegen und einen genaueren Blick auf den Kiefer zu werfen, ohne dass dabei die Überreste auseinander fielen. Doch leider war der Zerfall schon so weit fortgeschritten, dass die Leiche bei der leisesten Berührung zu Asche zerfiel. Das sagte schon alles, was er wissen musste.
Seufzend erhob sich John wieder und ging Richtung Rettungswagen. Als nächstes wollte er das Opfer sehen und herausfinden, ob und an wie viel sie sich noch erinnerte.
Die junge Frau saß aufrecht im Rettungswagen und hielt ihre Hand über dem großen Pflaster, dass mittlerweile die Wunde an ihrem Hals überdeckte.
"Sie sollten wirklich besser in ein Krankenhaus", hörte er einen der Sanitäter sagen, doch sie schüttelte vehement den Kopf. "Ich fahre nirgendwo hin. Wenn, dann gehe ich nach Hause. Alleine."
"Verzeihung", mischte sich John dazwischen und hielt somit den Sanitäter davon ab, noch etwas zu erwidern. Ihm war es ganz recht, dass die junge Frau noch hier war. So konnte er direkt mit ihr reden und musste ihr nicht hinterher fahren.
"Mein Name ist Dr. Jonathan Saunders. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn das möglich ist."
"Dr. Saunders?" Ohne weiter auf die Sanitäter zu achten, wandte sie sich direkt zu ihm um. "Ein Kommissar, mit einem Doktortitel?"
"Nicht direkt. Ich bevorzuge die Arbeit im Labor, doch bei solchen Fällen zeiht mich die Polizei gerne zu Rate."
"Hm."
"Wie auch immer", meinte John, nachdem er sich geräuspert hatte. "Können Sie mir sagen, was genau hier passiert ist? Wie Sie zu dieser Wunde gekommen sind?"
Als er die Verletzung erwähnte, wanderten ihre Finger unwillkürlich zu dem großen Pflaster an ihrem Hals, zuckten aber bei der Berührung zurück, während ihr wachsamer Blick durch die dunkle Gasse wanderte.
„Was macht Sie so besonders, dass man Sie zu Rate zieht?“, fragte sie, anstatt ihm zu antworten. Selbst bei dem wenigen Licht stachen ihre grünen Augen deutlich hervor, die nun direkt auf ihn gerichtet waren. Wieder fiel ihm auf, wie ruhig sie angesichts ihrer Situation blieb. „Meine besonderen fachlichen Kenntnisse“, antwortete er knapp. Erneut tasteten ihre schmalen Finger über das große Pflaster, bevor sie schließlich zu erzählen begann.
„Ich wollte mich ein wenig in dieser Stadt umsehen, da ich ja erst kürzlich zugezogen bin.“ Sie unterbrach sich einen Moment und presste dabei die Kiefer aufeinander, als sie eine kurze Schmerzwelle durchfuhr. „Dieser Mann, der war mir schon seit einer ganzen Weile lang gefolgt. Erst dachte ich, es sei ein Zufall, er muss vielleicht in dieselbe Richtung, doch er kam mir immer näher, bis er mich schließlich eingeholt hatte. Dann…“
John war noch nie besonders geduldig gewesen, doch er wusste, dass bei einer Befragung nicht allzu sehr Drängen sollte. Vor allem, wenn es sich dabei um eine Zeugin handelte, die verletzt wurde und möglicherweise noch unter Schock stand. Obwohl er es zu unterdrücken versuchte, räusperte er sich kurz, um anzudeuten, dass er das Gespräch gerne fortführen würde.
„Plötzlich wurde ich von hinten gepackt. Er hat mich festgehalten. Ich habe mich gewehrt, nach ihm geschlagen, getreten...versucht zu schreien… Er hat mir eine Hand vor den Mund gehalten, mich konnte keiner hören. Er sagte, ich brauche keine Angst zu haben… dann hat er mich gebissen.“ Sie runzelte beim letzten Satz die Stirn, als könnte sie selbst nicht glauben, was sie da erzählte.
„Das heißt, es war auf jeden Fall ein Mann, der sie angegriffen hatte, keine Frau. Sind Sie sich da völlig sicher?“, hakte John nach. Die junge Frau nickte stumm. „Es war zwar schon dunkel, aber das konnte ich noch erkennen. Und seine Stimme… das war definitiv ein Mann.“
Sie schwieg für einen Moment und schien zu überlegen. „Ich glaube, ich würde jetzt lieber nach Hause gehen“, meinte sie plötzlich und zog die Decke, die man ihr umgelegt hatte, enger um ihre Schultern.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jonathan mit besorgtem Blick. „Ich weiß gar nicht, wieso ich überhaupt mit Ihnen darüber rede. Sie sind kein Polizist. Falls Sie noch Fragen haben, gehen Sie zur Polizei und lassen Sie sich von ihnen geben, was die schon von mir haben“, fuhr sie ihn plötzlich mit einem deutlich schärferen Tonfall an, der John tatsächlich kurz verstummen ließ. Er schenkte ihr einen leicht verärgerten Blick, doch als er die dunklen Ringe unter ihren müden Augen wahrnahm, verflog der Ärger langsam wieder. Erst jetzt fiel ihm wirklich auf, wie bleich sie war, wie fahl und müde ihr Gesicht aussah. „Also gut“, gab er schließlich nach. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren wandte sie den Blick von ihm ab und sah kurz zu den Sanitätern, bevor sie sich schließlich erhob. Sie legte die Decke zur Seite, griff nach ihrer Handtasche und wollte sich an Jonathan und den protestierenden Sanitätern vorbei Drängen. Er sah ihr nach, wie sie sich ein Taxi rief und unweit entfernt von ihm und seinen Kollegen wartete. „DU lässt sie gehen?“, fragte Robert, der sich unterdessen zu ihm gesellt hatte. Jonathan hob eine Braue, erwiderte aber nichts. „Ihr hattet sie ja bereits befragt, richtig?“
„Ja, wir sind hier soweit fertig“, brummte Robert und warf dabei einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich fahre direkt ins Büro und kümmere mich um den Papierkram. Du gehst wahrscheinlich direkt in dein Labor, nehme ich an?“
John straffte die Schultern und seufzte. Ja, bei einem solchen Fall war es das Beste, sich direkt an die Arbeit zu machen. Viel war ja von der Leiche nicht übrig, die gerade für den Transport vorbereitet wurde. Dem Zerfall nach zu urteilen bezweifelte er allerdings, dass er noch irgendetwas Brauchbares herausbekommen würde.