So menschlich Araz aussah, so schnell konnte man vergessen, dass er genau das nicht war: menschlich.
Wie er mit leuchtend roten Augen hinter dem zusammengesunkenen Bären stand, lächelnd, zufrieden. Auch die anderen Male, als sie schon Teile seines … anderen Ichs oder zweiten Gesichts gesehen hatte. Wie auch immer man es nennen sollte.
Doch selbst jetzt, als sie in Ruhe wieder beieinander standen und auf das Aufräumteam warteten, konnte sie noch das Raubtier in ihm erkennen. Auch ohne glühende Augen und gebleckte Fangzähne. Es steckte überall in ihm. In den feinen, edlen Zügen seines Gesichts, in den stets wachsamen Augen, in seiner Haltung und in jeder geschmeidigen Bewegung, die er tat.
Vielleicht hatte sich ihr Blick einen Moment zu lang in den vom Licht nachgezeichneten Konturen seines Gesichts verfangen.
Ein Rascheln und Schaben unweit von ihnen ließ sie aufhorchen.
„Alles gut, nur ein paar Tauben“, klärte Araz auf, der ihr Aufsehen bemerkt hatte.
„Hast du sie gesehen?“, fragte Rove.
„Nein, aber gehört“, antwortete er mit einem Rümpfen der Nase. „Und gerochen. Ratten der Lüfte….“
Rove verschränkte ihre Arme vor der Brust und hob eine Braue. „Ratten der Lüfte?“
Araz zuckte nur die Schultern. „So nennt man sie doch oder nicht?“
„Ratten… der Lüfte?“
„Genauso widerlich und krankheitsbefallen, wie diese kleinen hässlichen Nagetiere. Nur, dass diese hier fliegen können.“
Mit immer noch gehobenen Brauen spannten sich Roves Finger über den verschränkten Armen. „Du weißt schon, dass die Ansiedlung der Stadttauben aktiv von Menschen und Andrerkiin verursacht wurde? Diese Ratten der Lüfte stammen von Felsentauben aus den Mittelmeerregionen, über Jahrhunderte domestiziert und weitergezüchtet. Sie waren Nutztiere, wurden für Eier, Fleisch und zur Briefzustellung gehalten. Sie sind verwilderte Haustiere und deren Nachkommen. Sie ernähren sich hauptsächlich von Körnern, die sie sonst auf Wiesen und Feldern finden würden. Hier in den Städten irren sie täglich stundenlang umher, zwischen Bewohnern, Autos, auf der Suche nach ein paar Krümeln Abfall, um nicht zu verhungern. So danken wir ihnen ihre Dienste. In dem wir sie widerlich und krankheitsbefallen schimpfen. Als Ratten der Lüfte bezeichnen.“
Rove unterbrach sich selbst, schnappte einmal scharf nach Luft.
Während Araz weit geöffnete Augen auf Rove lagen, hob sie provokativ eine Braue und rümpfte ihm gegenüber die Nase, wie er es zuvor gegenüber der Tauben getan hatte.
„Oh. Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du so tief für diese Tiere empfindest“, entschuldige er sich langsam, als er seine Fassung wiedergefunden hatte.
Mit dicht aufeinandergepressten Lippen musterte Rove Araz aus schmalen Augen.
„Wirklich, es tut mir leid. Ich hatte nicht gewusst, dass… da so eine Geschichte dahinter steckt.“
Roves Finger trommelten über ihren Oberarmen. „Hauptsache verurteilt, richtig? Und Ratten. Auch wenn sie hier in den Städten alles andere als gepflegt und gesund aussehen, haben sie es auch nicht verdient, beschimpft zu werden. Sie gehören mit zu den intelligentesten Tieren dieser Welt. Wie die Tauben überleben sie in der Stadt nur, wenn sie sich durch den Müll wühlen und an Orten verstecken, die wir Menschen und Andrerkiin nicht betreten wollen.“
Wie Rove, kniff auch Araz die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er malmte langsam mit dem Unterkiefer und verschränkte seine Arme ebenfalls vor der Brust. „Bist du fertig?“, fragte er sichtlich genervt, bevor er den Blick abwandte. Er brummte etwas Unverständliches und vertrat sich mit ein paar Schritten die Beine.
„Du bist viel sanftmütiger, als ich dachte“, meinte er nach der nur kurzen Stille zwischen ihnen.
Wieder konnte Rove nur die Brauen heben, wenn auch aus einem anderen Grund. Die Härte war mit einem Mal aus ihrem Gesicht gewichen und machte der Überraschung platz. „Sanftmütig?“
Araz nickte, ein schmales Lächeln auf den Lippen. „Warum sonst solltest du sofort diesen armen Tieren zur Verteidigung eilen?“
„Pff…“, stieß Rove kopfschüttelnd aus. „Nenn es Sanftmut, wenn du willst. Ich nenne es respektvoll, denn das hat jedes Lebewesen verdient. Egal ob Mensch, Andrerkiin, Tier oder… Dämon.“
„Vergleichst du mich mit diesen Tauben?“
„Sei froh. Würde ich bei den Wesen, die mir begegnen, unterscheiden und mich von Vorurteilen leiten lassen, wärst du sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben.“
Araz antwortete nicht darauf. Doch sie sah, dass ihre Worte einen Nerv getroffen hatten, bevor er sein Gesicht abwandte und erneut ein paar Schritte im Kreis umher ging.
Rove trat indessen zurück zur kleinen Brüstungsmauer und ließ sich dagegen gelehnt in die Hocke sinken. Nur wenige Augenblicke später tat Araz es ihr gleich und setzte sich mit etwas Abstand neben sie.
„Deine Leute hatten auch Angst vor dir“, merkte Rove nach einer Weile des Schweigens an. Die Art, wie Michael vor Araz zurückgewichen war, als dieser ihm näher kam… das war nicht nur Respekt gewesen.
„Alle haben Angst vor mir“, antwortete und korrigierte Araz mit einem breiten Grinsen und einem kurzen Wippen einer Braue, gefolgt von einem Zwinkern.
Rove hob daraufhin nur eine Braue. „Ha-ha“, lachte sie kurz und lehnte ihren Kopf gegen das Gemäuer. „Wieso haben deine eigenen Leute Angst vor dir?“
„Warum hast du Angst vor mir?“, fragte Araz, anstatt zu antworten. Oder sollte das seine Art einer Antwort sein?
„Nicht alle haben Angst vor dir“, meinte sie und ließ ihre Brauen ebenso neckend wippen, wie er es zuvor getan hatte.
Araz lachte kurz, wurde aber schnell wieder still. „Ich meine es ernst. Wieso fürchtest du mich?“
Weil du ein Dämon bist, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Doch den Gedanken konnte, wollte, sie nicht aussprechen. Er stünde im direkten Gegensatz zu dem, was sie eben noch erzählt hatte. Sie wollte nicht in diesen Vorurteilen denken, doch… so ganz blieb es nicht aus. Zeigen musste sie es vor ihm aber nicht.
„Es… tut mir übrigens leid“, meinte Araz nach einer Weile schließlich und senkte den Blick. Er rechnete nicht damit, dass Rove ihm noch antworten würde. Und selbst wenn, sie brauchte offensichtlich Zeit, darüber nachzudenken und er würde sie nicht drängen.
Rove atmete hörbar aus, lehnte sich zurück und blieb für einen Moment lang stumm.
„Ich hatte tatsächlich kurz gezweifelt“, begann sie langsam, ohne den Blick wieder zu heben. „Aber ich bin froh, dass sich meine Befürchtung nicht bewahrheitet hat.“
Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, sie konnte es aus dem Augenwinkel sehen. Auch, dass seine Miene sofort wieder steinern wurde.
„Du hattest die Lage gut im Griff, obwohl ich dich hatte zweifeln lassen.“
„Das ist mein Job“, kommentierte Rove knapp.
Für einen Moment herrschte wieder Stille zwischen ihnen.
„Wieso hattest du so lange auf dich warten lassen?“ Auch wenn es sich nur um wenige Minuten gehandelt hatte, im Kampf war es eine lange Zeit.
„Ich hatte gehofft, dass sie sich davon überzeugen lassen, einfach zu gehen. Und danach… Wie auch immer.“ Er räusperte sich kurz. „Irgendwann finden sie so oder so heraus, dass ich nicht zurückkommen werde. Und es gibt viele Möglichkeiten, wie die beiden zu ihrem frühen Tod gekommen sind. Es wird wahrscheinlich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“
„Auf dich, meinst du?“
Araz nickte und lehnte ebenfalls seinen Kopf zurück an die Mauer, den Blick in den wolkenverhangenen Nachthimmel gerichtet.
„Du trauerst ihnen nicht nach, oder?“
„Große Güte, nein.“ Bei dem Gedanken verzog sich sein Gesicht für einen Augenblick zu einer angewiderten Grimasse.
„Und… du fürchtest dich vor Menraa?“
„Menraa fürchtet sich vor mir. Aber das macht ihn nicht weniger gefährlich. Mehr sogar. Vor allem für euch.“
Natürlich. Weil wenn sie ihn suchen, treffen sie auch auf uns. Aber das war nicht unüblich, wenn sie Überläufer aufgenommen hatten. Sie waren darauf vorbereitet. Mussten sie ja.
„Glaube mir, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Ich hätte nicht…“
„Ich glaube dir.“
Araz hob den Kopf und blickte zu ihr hinüber. Ihre großen Augen lagen direkt auf seinen und ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen.
„Aber wenn du es doch jemals vorhaben solltest…“, sie schwieg für einen Moment und auf einmal schien ihr Blick noch intensiver, als zuvor. „Wenn du uns verrätst, wirst du es nicht überleben.“