Aus der Küche duftete es herrlich nach exotischen Gewürzen. Es ließ sie die Übelkeit vergessen, die sie eben noch beim Gedanken an Essen verspürt hatte.
Rayya war also wieder am Kochen.
Mit einem kurzen Zögern betrat Rove die Küche. Rayya war dort allein und stand wieder einmal vor dem Herd und rührte gedankenverloren durch den Topf, aus dem der wunderbar würzige Duft drang.
„Hey…“, grüßte Rove langsam, vor allem, um Rayya nicht zu erschrecken. „Wie geht es dir?“
Rayya zuckte trotz Roves ruhigem Tonfall leicht zusammen und wandte sich langsam, lächelnd, um.
„Gut, danke. Und wie geht es dir? Du siehst furchtbar aus“, antwortete sie. Rove hob bei ihrem letzten Kommentar kurz die Brauen, überrascht über Rayyas Direktheit. Mittlerweile sollte sie sich daran gewöhnt haben, dass Rayya kein Blatt vor den Mund nahm. Doch unter ihrer Kapuze und den langen Roben wirkte sie so zurückhaltend und unschuldig, das man schnell vergessen konnte, wie lose ihr Mundwerk sein konnte.
„Besser…“, antwortete Rove knapp und nahm sich ein Glas, füllte es mit Wasser.
„Möchtest du auch?“, fragte Rayya und deutete auf den Topf. „Reis und Gemüse. Ich habe etwas zu viel gemacht.“
Rove nickte und presste ein kurzes „Vielen Dank“ hervor, bevor sie auch zwei Teller aus den Schränken holte, ebenso das nötige Besteck.
Rayya füllte ihre Teller und setzte sich zu Rove an den Tisch, wo beide stummt damit begannen, in ihrem Essen herumzustochern.
„Es tut mir so leid, was du durchmachen musst, Rayya“, begann Rove, nachdem sie den ersten Bissen probiert hatte. Das Essen war köstlich, wie immer. Anders als das, was sie sonst kannte, aber köstlich. „Ich bewundere deine Stärke. Nach allem, was du schon durchgemacht hast, noch hier zu sein und uns zu helfen.“
Rayya, die Finger voll mit Reis, blickte auf. „Das hat nichts mit Stärke zu tun“, antwortete sie nach kurzem Überlegen. „Aber das war nicht das, was du meintest, oder?“
Rove zuckte die Schultern und fuhr mit der Gabel durch das Essen. „Ich meinte, du bist keine Soldatin. Gewalt, Tod… das sollte nicht zu deinem Leben gehören. Und trotzdem bist du noch hier. Ich denke, es gibt mehr Leute, die an deiner Stelle schon aufgegeben hätten und … zurück zu ihren Familien gegangen wären, versuchen, alles zu vergessen, zu verarbeiten.“
Rayya schob sich die Finger voll Reis in den Mund und schien zu überlegen. Es war schwierig, wie immer, unter dem Schatten ihrer Kapuze Züge ihres dunklen Gesichts zu erkennen.
„Wie könnte ich wegsehen, wenn ich doch weiß, was hier geschieht? Ich bin schon mittendrin, der Sache jetzt meinen Rücken zu kehren, das wäre nicht richtig. Q’ulai hat mich hierher gebracht, also kann ich nicht wegsehen, selbst wenn ich wollte.“
Ein Lächeln legte sich über Roves Lippen. Q’ulai… Es hatte einen sonderbaren Klang, doch immer wenn Rayya über ihre Gottheit sprach, verbreitete sie dabei eine angenehme Ruhe und Wärme. Vielleicht war es nur Rayyas eigene Zuversicht, ihr eigenes Vertrauen, dass sich übertrug. Wie auch immer. Auch wenn Rove nicht besonders viel damit anfangen konnte, sie mochte das Gefühl von Geborgenheit, dass auch in ihr einzog, wenn Rayya so sprach.
„Rayya, darf ich dich etwas anderes fragen?“
„Nur zu“, antwortete Rayya und hob interessiert den Kopf.
„Dein Volk fürchtet Dämonen nicht so sehr, wie die restlichen Völker. Es wird auch erzählt, dass ihr eine gewisse Faszination für diese Wesen haben sollt. Ich… Stimmt das? Wie kommt es dazu?“
Rove glaubte, ein schiefes Lächeln auf Rayyas Lippen zu erkennen, nachdem sie eine weitere Ladung Reis in ihren Mund geschaufelt hatte.
„Geht es um Araz?“
Rove verschluckte sich beinahe an ihrem eigenen Essen und spülte erst einmal ihren Rachen, bevor sie reden konnte.
„In meinem Volk sind Dämonen nicht so verschrien, wie in den meisten anderen Völkern. Sicher, sie können sehr gefährlich sein und auch wir haben einen großen Respekt vor ihnen, aber…“ Rayya seufzte tief und lächelte. „Wir kennen Dämonen noch immer als Schutzgeister, als naturverbundene Wesen, die ihre Heimat erhalten und beschützen. Sicher, es gibt einige Beispiele dafür, dass es auch Dämonen mit ganz anderen Absichten gibt, aber das sollte man nicht zur Regel machen. Leider ist die Angst oft ein überzeugender Motivator.“ Erneut seufzte sie und schwieg für einen Moment.
„Wie kommst du darauf? Ist nun etwas mit Araz vorgefallen?“, hakte sie schließlich nach.
„Offensichtlich, was?“
Rayya nickte stumm. Obwohl unter der Kapuze versteckt, konnte Rove sich vorstellen, wie sie die Brauen wissend gehoben hatte.
„Er… hat Interesse an mir geäußert“, brachte Rove schließlich heraus, nachdem sie noch eine Weile auf ihrer Unterlippe gekaut hatte, während sie überlegte, wie sie am besten beginnen sollte.
Für einen Moment blieb Rayya stumm. Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und ließ die fingervoll Reis auf den Teller zurückfallen, anstatt weiter zu essen.
„Ach ja?“, fragte sie schließlich.
Rove konnte Rayyas scharfen Blick unter der Kapuze hervor fühlen, sah nur für einen kurzen Moment durch eine Spiegelung es Lichts auf Rayyas schwarze Augen. Rove bereute fast, die Sache überhaupt angesprochen zu haben. War Rayya… eifersüchtig?
„Das war ja abzusehen…“, meinte Rayya nach einem weiteren Moment der Stille und einem langen Seufzen. Dann begann sie wieder zu essen, als wenn nichts wäre. „Und du bist verunsichert, weil…?“
Auch Rove nahm ihre Gabel wieder zur Hand. „Ich habe ihn abgewiesen“, erklärte sie, anstatt zu antworten.
„Du hast ihn abgewiesen?“, wiederholte Rayya fragend und mit einem erschrockeneren Unterton, als Rove erwartet hatte.
„Q’ulai failas, dass du dich das traust“, hauchte Rayya leise und schüttelte dabei langsam den Kopf.
Noch nervöser als zuvor stocherte Rove mehr in ihrem Essen, als es zu sich zu nehmen. „Bitte was?“, hakte sie vorsichtig nach.
Rayya schüttelte wieder den Kopf, diesmal bestimmter. „Nicht so schlimm. Es ist nur… in meinem Volk, käme niemand auf die Idee, das zu tun.“
„Wirklich?“, fragte Rove und hob die Brauen. „Ich dachte, ihr lebt monogam und wartet auf den einen richtigen Partner und…“
Rayya zuckte die Schultern und nickte. „Das stimmt.“
„Warum hast du ihn abgewiesen?“
„Ich habe einen Freund.“
„Das… ja, das ist ein guter Grund, das verstehe ich selbstverständlich.“
Für einen Augenblick entstand eine Stille im Raum. Rove wagte es nicht, sie mit weiteren Fragen zu durchbrechen. Die Wendung, die das Gespräch eingenommen, war ganz anders, als sie sich vorgestellt hatte. Darauf wollte sie doch überhaupt nicht hinaus, das wollte sie doch gar nicht wissen. Aber jetzt, mit den neuen Informationen in der Hand, fühlte sie sich noch viel schwerer, als zuvor.
„Wollte er dich zu seiner Frau machen?“
Wieder verschluckte sich Rove beinahe, diesmal am Wasser. „Was? Seine… Frau? Ehefrau? Nein. Nein, ich glaube so war das nicht gemeint.“
Rayyas Blick verharrte ungebrochen auf Rove.
„Ich glaube, sein Interesse war rein spontaner und unverbindlicher Natur“, ergänzte Rove schließlich.
Rayya schwieg noch für einen weiteren Moment, bevor sie wieder seufzte und sich daran erinnerte, dass sie noch einen halb vollen Teller vor sich stehen hatte. „Auch nicht so unwahrscheinlich. Er ist noch jung und unerfahren und hat den Wert einer richtigen Beziehung sicherlich noch nicht gelernt, so, wie er wirkt“, murmelte sie leise, wippte kurz mit dem Kopf hin und her und aß weiter.
„Moment, Moment….“ Rove legte ihr Besteck zur Seite und massierte ihre Hände. „Wie kommst du auf all das? Willst du mir nur Angst machen?“
Die Nemis antwortete mit einem kurzen Lachen, doch sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will dir keine Angst machen. Aber… Dämonen sind in der Partnersuche sehr wählerisch. Ich meine, es hätte gut gepasst.“
„Ach ja?“, meinte Rove mit gehobenen Brauen.
„Ja. Du bist sehr hübsch, stark, entschlossen…“ Rayyas Blick tastete über Rove, während sie überlegte. „Und wenn er dein Siegel schon gesehen hat, würde es mich wirklich wundern, warum er die Sache nicht fest macht.“
Erschrocken wanderte Roves Hand zu ihrem Nacken, tastete über die Tätowierung. Ja, das Siegel war ihm bereits aufgefallen und er hatte ihr seine Neugier darüber nur zu offen gezeigt.
Große Güte, schoss es Rove durch den Kopf. Sie wollte mit weniger Sorgen aus dem Gespräch gehen, als mehr.
„Rayya…“
„Hm?“, fragte die Nemis und blickte wieder zu Rove auf. „Du bist ja ganz blass“, stellte sie erschrocken fest.
Ja, so fühlte sie sich auch. Blass und furchtbar schwummrig. Aber warum? Araz war nicht der erste Mann, den sie abgewiesen hatte und sicher nicht der erste Andrerkiin. Sie schüttelte den Kopf. Wieso machte sie sich so viele Gedanken?
„Wie auch immer“, meinte Rove schließlich und straffte die Schultern. Sie schob alle Gedanken, die Araz betrafen zur Seite und schaufelte wieder etwas Reis auf ihre Gabel.
„Eigentlich wollte ich mit dir über etwas ganz anderes reden. Nachdem ich ihn abgewiesen habe, haben wir uns unterhalten, über meinen Freund und… Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Wegen Araz?“
„Nein! Wegen meinem Freund“, korrigierte Rove, vielleicht ein bisschen zu scharf. „Ich weiß, dass unsere Beziehung schon lange leidet und… im Grunde weiß ich auch, dass es… aber…“, fuhr sie etwas sanfter fort. Dabei wurde ihre Stimme immer brüchiger, als sie es sollte. „Araz hat einige Dinge ausgesprochen, die ich selbst immer versucht habe zu verdrängen und…“
Es dauerte eine Weile, doch Rayya hörte Rove still zu, wartete geduldig, bis sie ihre Geschichte erzählt hatte.
„Du willst jetzt wissen, ob es noch Sinn macht, für eure Beziehung zu kämpfen?“, fragte Rayya vorsichtig, als Rove ihre Erzählung beendete.
Rove zuckte die Schultern.
„Oder traust du dich nicht, sie zu beenden?“, fragte Rayya vorsichtig weiter.
Damit traf Rayya genau den Kern in Roves Zweifel und Sorgen. „Was sagt es über mich aus, wenn ich die Beziehung beende?“, fragte sie leise. Wie die Nemis, war auch sie der Überzeugung, dass eine echte, gute, wirkliche Beziehung ein Leben lang hielt. Dass man den einen Partner fand und ihn behielt, durch alle Höhen und Tiefen, die der gemeinsame Weg bot. Doch… Wenn er dich schon ersetzt hat, donnerte es wieder durch ihren Kopf. War damit nicht alles schon beendet? Hatte sie sich so in ihrem Freund getäuscht? Was sagte es über sie aus, wenn sie aufgab? Oder wenn sie das alles so falsch eingeschätzt hatte? Würde sie nicht alles verraten, wofür sie sonst stand? Sie, die niemals aufgab, sie, die immer alles gab. Aber offenbar nicht genug für diese Beziehung.
„Willst du… eine Erlaubnis von mir, die Beziehung zu beenden?“
Irritiert sah Rove auf. Erleichterung machte sich in ihr breit, aber sie wusste nicht, woher das kam. Wollte sie denn wirklich eine Erlaubnis? Von Rayya? Von irgendwem?
„Liebst du deinen Freund denn?“, fragte Rayya weiter, nachdem Roves Antworten ausblieben.
Darauf konnte Rove nur mit den Schultern zucken. Sie hätte gerne ‚Ja‘ gesagt, doch es fühlte sich so falsch an.
„Hm…“, hörte sie Rayya überlegen. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen kann, Rove. Wenn du in einer Beziehung steckst, die weder dir, noch deinem Partner gut tut, dann wäre es wohl das Beste, sie zu beenden. Das passiert auch bei uns. Vor allem, wenn ein Partner untreu ist. In meinem Volk wird das sogar bestraft. Aber… ich kann verstehen, dass, egal wie du entscheidest, es nicht leicht ist. Das ist es nie, wenn Gefühle im Spiel sind.“
Rove nickte langsam und ließ ihre Arme auf den Tisch sinken, stütze ihren Kopf darauf ab.
„Aber… wenn du wirklich noch an deinem Freund und an eurer Beziehung interessiert bist, wieso machst du dir so viele Gedanken um Araz?“
„Oh nein, nicht das schon wieder“, stöhnte Rove und richtete sich wieder auf, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurück. „Wie auch immer es wäre, ich kann das im Augenblick absolut nicht gebrauchen. Schon gar nicht…“
Jemand trat in die Tür. Beide Frauen verstummten und wandten sich zu ihr um.
Auch das noch.
„Hey Araz“, grüßte Rayya sofort. Es war bemerkenswert, wie wenig man ihr dabei anmerkte, dass sie eben noch über ihn gesprochen hatten.
„Hey“, grüßte Araz zurück und ließ seinen Blick aus verengten Augenlidern über die beiden Frauen schweifen, bevor er schließlich auch Rayya haften blieb. „Ich rieche essen.“
„Tatsache?“, fragte Rayya. Unter der Kapuze hatte sie sicher die Brauen erhoben.
„Gibt es noch was?“
Rayya überlegte für einen Moment, es wirkte fast, als zöge sie die Antwort künstlich in die Länge. „Ja. Nimm dir“, meinte sie schließlich. „William sollte wirklich einen Koch organisieren…“, fügte sie etwas leiser und schärfer hinzu.
Zufrieden trat Araz in die Küche und schabte sich die Reste aus dem Topf.
Rove rutschte derweil auf ihrem Stuhl umher und sah immer wieder verstohlen zu Rayya, die nur die Schultern zuckte.