Leise seufzend schloss er die Glastür hinter sich, drehte den Schlüssel entschieden im Schloss und betrachtete das Schild vor sich.
Aus privaten Gründen vorübergehenden geschlossen
Wir sind Anfang Dezember wieder für Sie da
In verschlungenen Lettern neigten sich die Worte leicht nach rechts, ergaben ein eigenes kleines Kunstwerk. Natürlich, denn wie hätte Felix auch etwas Geringeres dulden können?
Sein Partner war perfektionistisch, selbst, wenn es um die Ankündigung eines vorübergehenden betrieblichen Ausfalls ging. Anton strich sich müde die dunklen Ponyfransen aus der Stirn. Manchmal machte der quirlige Jungspund ihn wahnsinnig. Doch was sollte er tun, gehörte sein Herz doch diesem zwanghaften Hauch von Nichts, der mit einem begnadeten Talent ausgestattet war, das ihm immer und immer wieder aufs Neue den Atem verschlug. Nie konnte der Bildhauer sich an den Wandgemälden sattsehen, die der Maler in den vergangenen Monaten gestaltet hatte. Jedes einzelne der Ausdruck eines anderen einschneidenden Erlebnisses in Felix' Leben. Nur eine Wand war weiterhin in einem potthässlichen Gelb gestrichen. Dort fehlte etwas. Sein Partner behielt sich diese Wand für die Zukunft, wie er es so schön nannte. Zumindest war dies der Plan gewesen.
Doch mittlerweile beschlich Anton zunehmend das Gefühl, dass Felix schlicht davonlief. Nicht mehr physisch, wie es seine Art gewesen war, sondern sich in seine Gedanken zurückzog. Mehr und mehr in sich verkroch, wie es zu Beginn ihrer Freundschaft der Fall gewesen war.
Vernehmlich ließ der Mittzwanziger die verspannten Halswirbel knacken, wandte sich vollends um und bestieg kurz darauf aufgrund eines verdrießlichen Führerscheinentzugs, die Straßenbahn.
Daheim angekommen sah er sich um, erkannte aber bereits daran, dass es weder penetrant nach Scheuermitteln roch, noch jegliche Gegenstände penibel genau auf Achsen ausgerichtet waren, die nur Mathematiker sehen konnten, dass Felix nicht anwesend zu sein schien. Ungewöhnlich war dies nicht, schlenderte sein Partner doch nur zu gern an seltenen freien Tagen durch Parks und Gässchen, immer bewaffnet mit Kohlestift und Papier, die Kopfhörer in den Ohren, um sich zum Klang der Musik ein passendes Motiv zu suchen.
Einen Blick auf die Uhr werfend, beschloss Anton, dass er nach dem heutigen Morgen, an welchem er mit zahlreichen Auftraggebenden und Galleristen telefoniert, sowie sich um die Betreuung ihrer Auszubildenden gekümmert hatte, ein Nickerchen mehr als verdient hatte.
Da ihm die Couch ohne die flauschigen Kissen und molligen Decken, die Felix so liebevoll zu einem wahren Nest herrichtete aber einfach zu unbequem erschien, kämpfte er sich die Treppe hinauf in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Ausgelaugt ließ der Bildhauer sich schlicht mit dem Gesicht voran auf seine Seite des Bettes fallen. Es dauerte kaum fünf Minuten, da drang leises Schnarchen aus seinem geöffneten Mund, die Augenlider geschlossen, bewegten sich die Augäpfel rege, als träume der Mann lebhaft.
Was genau ihn weckte?
Anton wusste es nicht sicher, doch er schreckte hoch, als die Sonne bereits ihren Zenit überschritten hatte, zeigte ihm, dass auch er dringend eine Erholungsphase nötig hatte, die letzten Monate an seinen Kräften gezehrt hatten, in denen er immer wieder von neuem abgewogen hatte, wie verstrickt Felix in seine Zwänge und Ängste gewesen war, wie schmal der Grat wurde, auf dem sein Schaffensdrang in eine Panikattacke umzuschlagen begann.
Die Therapie hatte geholfen. Eine Zeitlang, doch kam Anton nicht umhin, zu bemerken, dass mit zunehmender Nachfrage an Felix' Werken erneut der Druck über ihm zusammenzubrechen drohte und sein Problemverhalten einen rapiden Rückfall erlitten hatte. Ob er darüber mit Herrn Jakobi gesprochen hatte? Bei seinen Haaren, Anton hoffte es und wunderte sich doch, warum sich nichts änderte. Sorgte sich. So sehr!
Mühsam hievte er sich aus dem Bett, um sich nach kurzer Überlegung gegen eine Dusche zu entscheiden, da er doch länger in tiefen Schlaf gefallen war, als er es ursprünglich geplant hatte. So blieben ihm noch gerade einmal fünfzehn Minuten, bis er das Haus verlassen musste.
Vor dem Spiegelschrank stehend, zog Anton sein zerknittertes Shirt über die wuschliegen Haare und ein schwarzes Hemd über die Schultern. Kritisch fiel sein Blick über seinen veränderten Körper, schien es ihm, als höre er die Stimme seiner Mutter im Ohr, die ihn ermahnte, stramm zu sehen und ja die Luft an zu halten, damit die Speckfalten nicht so aufdringlich wirkten, die er mit sich herumzutragen begonnen hatte.
Verärgert über sich selbst entließ der Bildhauer die Luft wieder aus seinen Lungen, den Bauch wieder entspannt leicht herausgewölbt, denn was machte es schon, wenn der kleine Bauchansatz sich neckisch über den Hosenbund stahl, solange sein Partner ihm sagte, wie sehr er ihn begehrte und er selbst sich wohl in seiner Haut fühlte? Nie hatte Felix sich lustig gemacht über seine zusätzlichen Kilos, nie über seine Eigenart, stets nur schwarze Kleidung zu tragen, trotz der verwirrenden Tatsache, dass er als Künstler doch eigentlich zu einem recht schrillen Stil neigen sollte.
Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen griff er zu den Knöpfen, rutschte ab und startete einen neuen Versuch. Sich nicht eingestehend, dass dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt war, kämpfte Anton verbissen weiter mit den kleinen runden Plastikteilen, die sich vehement wehrten, seinen Fingern immer wieder entglitten, ja, geradezu schien es, als verhöhnten sie ihn.
"Kann doch nicht sein", schimpfte Anton leise vor sich hin, "nicht mal anziehen kann man sich."
Trotzig gab er es auf, sollte es eben so sein. Beherzt griff der junge Mann zu einer schmalen Krawatte - diese konnte Aufgrund des in den Augen stechenden Purpur nur Felix gehören - und pfriemelte sie nach einigem Bemühen durch die Löcher im Hemd. Die so erzeugten Schlaufen machten es nun erheblich einfacher, die Knöpfe zu schließen, ließen jedoch auch das ein oder andere Stück bloßer Haut durchblitzen. Nun gut, man musste eben Abstriche tätigen.
Die Stufen hinunter und sich einen Weg in die Küche bahnend, richtete Anton den Blick stur auf sein Smartphone, fragte er sich nun doch langsam, wo zum Geier sein Partner abgeblieben war. Die App, die er auf ihren Geräten zur Vorsorge installiert hatte, war schnell aufgerufen. Und zeigte Felix -
"Ist das ein stranger Fetisch, den du mir noch nicht verraten hast?"
Sein Kopf ruckte nach oben, um auf amüsiert blinkende dunkle Augen zu treffen. Felix deutete mit einem Kochlöffel bewaffnet vielbedeutend auf Antons Krawatte-Hemd-Konstruktion.
Selten war dem Bildhauer etwas peinlich, zählte er doch zu diesen zumeist als recht nervig beschriebenen Menschen, die immer alles aussprachen, eine lose Klappe besaßen, ja, mit denen man über so ziemlich jedes Thema bis zur Unendlichkeit quasseln konnte. Doch jetzt spürte er, wie seine Ohren sich erhitzten, wusste, dass sie herrlich rot angelaufen waren.
"Ist das meine Krawatte?", fragte der kleine Teufel ihn weiter aus, die Lippen noch immer gekräuselt vor Belustigung.
Beleidigt stapfte Anton an seinem Partner vorbei zum Kühlschrank, schnappte sich einen Milchshake zum Schütteln, um einfach im nächsten Flur zu verschwinden.
"Ach, Toni, jetzt zick doch nicht rum", rief ihm Felix hinterher.
"Ich zicke nicht", empörte sich der Bildhauer pikiert, "aber ich kann nicht ewig hier herumstehen und mir dein Gefeixe anhören. Ich bin eh schon zu spät dran für meinen Termin."
Klappernd ließ er die Haustür im Schloss landen, verfluchte sich für sein Temperament, da er im Eifer des Gefechts seine Übergangsjacke vergessen hatte und seufzte dann doch erleichtert, als hinter ihm das vertraute Auf und Zu ... und Auf und Zu ... und Auf und Zu erklang, gefolgt von einem Rütteln, das man noch bis zur Spanischen Hofreitschule hätte hören können. Kurz drauf keuchte Felix neben ihm her, zerrte an seinem Ärmel und brachte ihn so zum Stehen. Die vergessene Jacke über der Schulter, blickte der Jungkünstler ihn unter einer dunkelblonden Matte aus Haaren an, die sich nie wirklich bändigen ließ.
"Du bist ein unfassbar nervtötender Sturkopf", flüsterte Felix kopfschüttelnd, vergrub seine Finger in Antons Kragen und zog ihn zu einem Kuss heran.
Für einen kurzen Augenblick verlor er sich darin, diesen schlaksigen Körper an den Hüften zu greifen und näher an sich zu ziehen, den Kuss zu vertiefen, indem er Felix neckte und mit einem leisen Stöhnen belohnt wurde.
Sanft löste sich der Maler nach einigen Herzschlägen, blinzelte den verklärten Ausdruck in seinen Augen fort, um mit nestelnden Fingern an Antons Hemd herumzumachen. Der Bildhauer ließ überrascht die Augenbrauen spielen.
"Jeger!", lachte er schallend, "Wo ist deine Vorsicht geblieben? Hier draußen?"
Schnaubend löste Felix die Krawatte aus den Löchern, knöpfte stattdessen das Hemd auf herkömmliche Weise, strich zum Abschluss drei Mal versichernd über die Knopfleiste und nickte zufrieden.
"Jetzt bist du wenigstens ansehnlich hergerichtet. Und bitte zieh die Jacke an, Toni. Sonst mache ich mir die ganze Zeit Sorgen, dass du dir eine Lungenentzündung einfängst."
Schmunzelnd gelobte Anton Besserung, gab seinem Partner einen keuschen Kuss aus die Wange und sah zu, dass er zumindest mit nur einer dreiviertel Stunde Verspätung bei Dr. Leuter aufschlug. Immerhin mit vernünftig sitzendem Hemd und warm eingepackt gegen die beginnende Kühle.