Es wurde zugegeben eine recht holprige Fahrt bis sie ihre erste Station erreichten. Anton hatte nicht erwartet, aus einer knapp dreistündigen Fahrt entspannt über die A1, einen Hunger Games ähnlichen Kampf um die Vorherrschaft der hochmodernen Musikanlage zwischen den Blondinen im Fond entbrennen zu sehen. Genau diesem wohnte er von seinem Platz auf der gemütlichen Bank aber bei, während vorn einer sichtlich mühsam die Ruhe zu wahren gedachte, der andere allerdings immer größere Gesten gebärdete und an den Knöpfen fummelte. So scholl abwechselnd Klassik, dann Metal und wiederum die ewigen Top Fourty durch ihr schnittiges Gefährt.
Irgendwann wurde es dem gemütlichen Bildhauer zu bunt. Augenrollend stand er auf, stapfte wankend nach vorn und stellte die Anlage aus. Zwei schneidende Blicke aus stechend blaugrünen und tiefdunklen Augen straften ihn.
"Wie die Kinder!", zischte Anton entnervt, schob sich ein Stück Schokolade in den Mund, um sich gleich darauf zu verfluchen, "eure schuld!"
Konnte ja wohl nicht angehen!
Nach einem Stau, eisiger Stille, vier Stunden und zwei Tafeln Schokolade erreichten sie schließlich doch noch den Wohnmobilstellplatz im Norden Salzburgs.
Das kollektive Aufseufzen war die erste Meinung, die sie heute gemeinschaftlich zu teilen schienen. Gekonnt setzte Thore den Camper in eine der Parkbuchten zurück, während sich Anton ausgiebig streckte. Felix hatte sich irgendwann gedanklich ausgeknipst. Zumindest hatte sein Partner die kabellosen Kopfhörer schon eine Weile in den Ohren und die Augen gehschlossen, deutlich verdreht mit angezogenen Beinen auf dem Beifahrersitz gehangen.
"Ich schließe alles an", murmelte sein bester Freund schmunzelnd mit einem Blick auf den jungen Maler.
Dankbar nickte der Bildhauer, als er einen kalten Finger sanft über Felix‘ Wange fahren ließ. Wie weich die Haut des Jüngeren war, es ließ ihn oft vergessen, dass auch Felix die Zwanzig bereits geknackt hatte, sah er in ihm doch noch immer den verschüchterten Jugendlichen, den er damals in Dresden auf einem der Kunstwettbewerbe kennengelernt hatte.
Im leichten Schlummer hatte sich die steile Zornesfalter zwischen Felix' Augenbrauen geglättet und auch der sorgenvolle Zug um seine Mundwinkel wirkte vollkommen entspannt. Selten bekam Anton seinen Partner so friedlich zu Gesicht, wie in diesen kostbaren Momenten. Schließlich war es bereits eine Rarität, wenn der Jungkünstler ohne seine Medikamente wegdämmerte. Den Augenblick auskostend, beugte Anton sich hinunter, legte seine Lippen auf die Schläfe des Blondschopfes. Ein Brummeln entkam dem Mann auf dem Beifahrersitz, leise drangen Klavierakkorde aus den Kopfhörern zu dem Bildhauer hinüber.
"Schade, da bin ich jetzt enttäuscht", flachste Anton, im Begriff, Felix die weißen kleinen Stöpsel aus den Ohrmuscheln zu stibitzen, "und du bist mir eine Erklärung schuldig, Freundchen."
Wie erwartet, dauerte es keine Sekunde, da schlug der Angesprochene die Augen auf, um ihn verwirrt anzusehen.
"Wäh - hä?", entkam es seinem Partner äußerst geistreich.
Lachend wandte Anton sich um und tippte auf dem Bedienfeld über der Tür, damit die Heizung funktionierte, sowie sie fließendes Wasser und Gas zur Verfügung haben würden.
"Es ist wahre Liebe, die Dornröschen aus dem hundertjährigen Schlaf weckt", erklärte der brünette Mann vordergründig pikiert, "da frage ich mich doch, wer dich heimlich in deinen Träumen besucht, dass ich dich nicht wecken kann."
Das Schnauben seines Partners, sowie der darauffolgende Klapps auf seinen Hintern war genau die Reaktion, die er sich erhofft hatte. Das war es, was er sich von diesem Urlaub erwartete. Mehr Entspannung, mehr Lockerheit und weniger Frust auf beiden Seiten.
"Spinner", kam es mit kratziger Stimme liebevoll von Felix.
Der sogenannte 'Spinner' zeigte nun allerdings lediglich aus dem kleinen Fenster und kurz darauf konnte er beobachten, wie der Jungkünstler mit staunendem Blick auf die Skyline Salzburgs sah.
"Sehen wir uns die Stadt noch an?", fragte Felix auch direkt eifrig.
Wohlwollend zuckte Anton mit den Achseln, kannte er doch seinen Partner gut genug, um zu wissen, dass man ihn von jetzt an kam würde halten können. Da kam der junge Mann einem Welpen gleich, der dringend Gassi geführt werden wollte. Alles erkunden, alles entdecken. Auch der Bildhauer ging gern auf Erkundungstour, mochte es allerdings gesittet, in dem Wissen, hier und dort für ein Päuschen einzukehren oder sich diese oder jene Sehenswürdigkeit anzusehen. Schon komisch, wenn er bedachte, wie wenig Felix' Bedürfnis nach Planung und Ordnung in diesem Bereich Einzug hielt. Vermutlich war der Maler da zu sehr Künstler.
Breit vor sich hin grinsend, die Arme locker vor der Brust verschränkt, sah Anton also eine dreiviertel Stunde später dabei zu, wie Felix verzückt von einem Schaufenster zum nächsten bummelte, dabei in einigen Fällen abenteuerliche "Nein!"s oder "Wie retro!"s ausstieß, um ihm dann zuzuwinken und seine Nase fest an die Scheibe zu pressen. Beinahe hätte der Bildhauer glauben können, der Mann dort vor ihm wäre noch nie in seinem Leben aus seiner eigenen kleinen Welt herausgekommen. Aus sicherer Quelle wusste Anton aber, dass Felix bereits ganz Europa bereist hatte, um an den zahlreichen Kunstwettbewerben teilzunehmen und die meisten auch zu gewinnen.
Sein Staunen lag folglich mitnichten an zu wenig Kultur, die der Blondschopf über die Jahre erfahren hatte.
"Kannst du das fassen, Toni?", freute sich sein Partner über die nächste Besonderheit, die er entdeckt zu haben glaubte, "was ein Flair hier alles hat. Wien ist schon einfach sehr schön, aber hier hat man noch einmal ein ganz anderes Gefühl. Findest du nicht?"
Wie sein Partner dort in der Getreidegasse stand, die Gebäude der Altstadt ihn umsäumten, das langsam schwindende Spätsommerlicht seinen dunkelblonden Haaren einen rötlichen Schimmer verlieh und die Augen mit diesem Glanz um die Wette strahlten, wirkte Felix, wie aus Mozarts Zeiten entsprungen. Es wunderte Anton nicht einmal, wie gut der Jungkünstler in diese Stadt passte, wie aufgeweckt und begeistert er bereits nach dieser kurzen Zeit hier war. Wie von selbst wanderten seine Hände zu seiner alten Nikon, die er wohlweißlich mitgenommen hatte, hoben sie vor ein Gesicht. Vorsichtig stellte er die Linse scharf, fing das Glück für sie beide - aber vor allem für Felix - ein und betätigte den Auslöser. Das satte Klicken verschaffte Anton eine ungemeine Befriedigung, wie er sie nur erlebte, wenn er eine seiner Skulpturen anfertigte. Er wusste, wenn er das Foto entwickelte, würde ein sanftes Rieseln seinen Körper entlang jagen.
"Ach Toni", maulte Felix, sprang aber bereits über die Pflastersteine, achtete penibel darauf, keine Fugen zu betreten - ein Tick, den er sich noch immer nicht abgewöhnt hatte und den Anton seit ihrer ersten Begegnung äußerst charmant fand, "du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn du mich ablichtest."
Lachend zuckte der Bildhauer mit den Achseln, sich bewusst, dass sein Partner bereits einen Gedanken weiter war.
Sie kamen erst spät am Abend wieder zum Wohnmobilstellplatz zurück. Auf Antons Drängen hin, waren sie doch noch in einem Kaffeehaus eingekehrt, weil er sich wiederholt beschwert hatte, wie sehr seine Füße ihn quälten. Damit hatte er seine Kalorienzahl für heute allerdings nicht nur ausgereizt, sondern bereits überschritten, denn natürlich wäre es unhöflich gewesen, nicht nur eine Melange zu bestellen, sondern es hatte eben auch eine Marzipantorte sein müssen. Da war sein wienerischer Lifestyle zu tief in ihm verankert. Nur leider war Felix dabei gewesen, daher hatte er nicht einfach nur einen Alibi-Happen essen und dann alles stehen lassen können.
Mit einem rabenschwarzen Gewissen und sich übervoll fühlend war Anton folglich zurückgeschlichen und hatte gehofft, einfach mit seinem Partner im Arm in die Koje kriechen zu können. Schade, dass er vergessen hatte, einen besten Freund zu haben, der ein unglaublich netter und fürsorglicher Kerl war.
Denn sie erwartete nichts anderes, als eine ausgefahrene Markise, unter der ein Tisch für drei Personen gedeckt worden war. Aber nicht einfach so - oh nein - mit Tischdecke, Kerzenlicht und Wein in entsprechenden Gläsern. Es dudelte leise klassische Musik und in einem gusseisernen Gestell brannte ein Feuerchen.
"Was soll der Schoaßdreick?", rutschte es Anton perplex heraus, erntete er dafür verdient direkt einen bitterbösen Blick von Thore und einen Rippenstoß durch Felix.
"Ich dachte, ich revanchiere mich", antwortete der Unternehmer leicht verschnupft und zog für den Maler einen Stuhl zurecht, der sich zögerlich näherte, "als Friedensangebot und Dankeschön. Außerdem musst du dann mal nicht kochen, Felix - war so - na ja - mein Gedanke."
Ein fragiles Lächeln huschte über das Gesicht seines Partners. Ach verdammt, da konnte er jetzt schlecht einen Keil treiben, wenn die beiden sich anzunähern begannen.
"Wir hatten eigentlich schon gegessen", gab Anton dennoch zu bedenken, "nur, damit du nicht enttäuscht bist, wenn die Teller nicht abgeleckt werden."
Das schallende Lachen war so typisch für seinen besten Freund, da konnte er nicht anders, als sich ebenfalls dazuzugesellen.
Es roch auch wirklich lecker. Und die Gespräche blieben unverfänglich. Eben auf sicherem Terrain. Thore fragte, wie Felix es heute in Salzburg gefallen hatte. Der Jungkünstler lobte die vorzügliche Sämigkeit der Schwammerlsoße zu den Serviettenknödeln, die Thore zubereitet hatte.
Wann zum Geier war es eigentlich passiert, dass man Antons Teller wieder aufgefüllt hatte?! Oder knabberte er tatsächlich noch immer an seiner ersten Portion, die ihm so mächtig erschien?
Unauffällig linste er zu seiner Gesellschaft hinüber, doch zum Glück bemerkte niemand der beiden in ihrem Tanz um versteckte Tretmienen der Konversation herum, wie er einfach nur lustlos in seinem Essen herumstocherte. Abwartete, bis sie beide das Essen für beendet erklärt hatten, um dann eilig aufzustehen und die Teller abzuräumen.
"Das war eigentlich mein Part für heute", warf Thore ein, doch Anton schüttelte mit einem angespannten Lächeln den Kopf.
"Ach was, ich mache das gern."
"Ha, seit wann?", spöttelte Felix und piekte ihm spielerisch in den Bauch, "Faulpelz."
Trotz des Augenzwinkerns und des liebevollen Tonfalls, zuckte der dunkelhaarige Mann leicht zusammen. Natürlich blieb diese Reaktion seinem Partner nicht unverborgen, aber Anton sputete sich, das Geschirr ins Wohnmobil zu bringen. Er wollte nicht reden. Nicht denken, einfach nur die Zähne zusammenbeißen und diese Stimme in seinem Kopf ignorieren, die ihn dafür lobte, es geschafft zu haben. Keiner hatte gemerkt, dass sein Teller beinahe unangetastet geblieben war.