Herzlich wurde er an die altersschwache Brust gezogen. Tief atmete er ein, widerstand dem Drang, sich aus der Umklammerung zu lösen, verbat sich jeglichen negativen Gedanken im Zusammenhang mit pergamentener Haut, die die seine viel zu lange berührte. Rissig und schuppig - faltig und mit Cremes behandelt, die irgendwelche Agingprozesse aufzuhalten versuchten. Er spürte es regelrecht, wie sich seine Lippen zu einer dünnen Linie pressten, seine Augen starr ins Leere zu blicken begannen. Nein ... nein, nein, nein. Nicht so, er wollte sich nicht so von diesen lieben Menschen verabschieden, die ihn hier ohne zu zögern in ihrer Mitte aufgenommen hatten, obwohl sie selbst eine Krise ausstanden. Kein Wort des Dankes war ihm über die Lippen gekommen. Hatte es als selbstverständlich hingenommen, ihm und Anton ein Gästezimmer zu bereiten, sie zu versorgen und zu bespaßen, weil ... er nun einmal einerseits der Partner des Bildhauers war, der den Ruf des besten Freundes des Sohnes innehatte. Zum anderen hatte es Auri nur zu deutlich werden lassen, wie sehr sie Felix' Arbeiten - seine vorzügliche und außergewöhnliche Kunst - schätzte, ja geradezu vergötterte. Im oberen Flur hatte der Künstler gar eines seiner neusten Gemälde entdeckt. Wie sehr es ihm schmeichelte, diese offene Wertschätzung seiner Arbeit und seines bahnbrechenden Talents. Die Worte der Hausherrin, nicht die seinen.
"Kommt ihr mal wieder vorbei?", erkundigte sie sich auch prompt, nachdem sie endlich ihre Arme von Felix nahm, um Anton mit ihrer Nähe zu überschütten, der die alte Frau mit einem milden Lächeln an sich zog.
"Bestimmt irgendwann", wich sein Partner geschickt einem genauen Zeitpunkt aus, schüttelte dann Bo die Hand, um schließlich Thore einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Unter kritischen Blicken des jungen Künstlers wohlgemerkt, der penibel auf die Signale achtete, die da zwischen den Ex-Partnern und nun besten Freunden hin- und herflogen. Er selbst wuschelte dem kleinen Anders durch die wilden Locken und schenkte ihm ein hoffentlich zuversichtliches Lächeln. Dann fiel die Haustür des großen Anwesens ins Schloss.
Zum ersten Mal begab Felix sich hinter das Steuer des Wohnmobils. Aufgeregt versuchte er sich pedantisch auf jeden noch so kleinen Zwischenschritt zu konzentrieren, den Thore ihm erklärt hatte. Bloß nichts falsch machen und sich vor Anton blamieren, der den Beifahrersitz erobert hatte, sein Notebook auf dem Schoß, auf das er geschäftig einhämmerte. Wenigstens war der Bildhauer so abgelenkt. Schwitzend, sich nach allen Richtungen absichernd, fädelte sich Felix aber schließlich in den fließenden Verkehr ein.
"Ging doch gut", brummelte Anton nebenher.
Zu konzentriert, um eine schnippische Antwort zu geben, stieß der Jungkünstler lediglich ein "Püh" aus und behielt die Straße im Blick.
Sie redeten in den folgenden Stunden nicht viel miteinander. Doch das Schweigen war nicht unangenehm oder bedrückend. Vielmehr war es eine erholsame Ruhe, die ihnen beiden die Möglichkeit schenkte, Gedanken nachzuhängen, die sie beide vielleicht schon lange beschäftigten. Oder in Antons Fall - offenkundig - sich mit seinem ollen High Tech-Equipment zu befassen. Doch Felix ließ ihn herumspielen, genoss es hingegen langsam, so der Herr am Steuer zu sein, die Landschaft dahinfließen zu lassen, während er auf der rechten Spur der Autobahn dahinzuckelte und die letzten Tage Revue passieren zu lassen.
Als sein Magen zu grummeln begann, spähte er nach entsprechenden Schildern, bis er an einer geeigneten Raststätte die Ausfahrt nahm.
"Was tust du da, Jeger?", kam es verwirrt von Anton.
"Wir fahren seit drei Stunden und bevor wir die Grenze passieren, wollte ich gern noch was essen. Gibt meist beim Übergang immer Stau", erklärte Felix sein Vorhaben.
Das Bauchgefühl, das sich bei ihm einstellte, ließ ihn kurz zu dem Bildhauer herüberlinsen. Anton saß mit grade Rücken auf dem Sitz, starrte aus dem Fenster, die Brauen tief herabgesunken und die Stirn gerunzelt, allgemein so angespannt, als wolle er jeden Moment aufspringen. Ob die Gedanken, die Felix in den letzten Stunden gewälzt hatte einen wahren Kern besaßen? Nicht nur wieder seine typisch überfordernden Grübeleien waren, die Fahrt aufnahmen und in dramatische Richtungen abdrifteten, die ihn in eine Falle lockten?
"Willst du nichts essen?", fragte Felix behutsam nach. "Du hattest ja auch nichts zum Frühstück, weil dir immer noch so flau war."
"Tut mir leid, dass ich eine Magenverstimmung habe, Jeger!", giftete Anton ihn an, schnallte sich ab und stapfte davon. Überrumpelte drehte sich Felix auf seinem Sitz herum, konnte so beobachten, wie der andere auf die Sitzbank und anschließend in den Alkoven kletterte. Seufzend lehnte sich der Jungkünstler zurück. Das war nun wirklich eine überzogene Reaktion gewesen, oder nicht? Anton hatte ja geradezu so getan, als hätte Felix ihn angegriffen! Sauer, fuhr der Maler wieder an, parkte den Camper und schnallte sich seinerseits ab. Geladen baute er sich vor dem Alkoven auf, funkelte den Hügel unter der Bettdecke an.
"Ich gebe hier echt alles, damit dieser Urlaub nicht in einem Streit nach dem nächstes ausartet, Toni", presste Felix mühsam beherrscht hervor, "aber du machst es mir nicht leicht, wenn du erst ausgerechnet den Freund einlädst, der deine Badehosenzone kennt, mich ständig auf meine Mankos hinweist und jetzt auch noch wegen jeder Kleinigkeit anmaulst." Die einzige Reaktion, die er erntete, war, dass der Bildhauer die Decke über den dunklen Haarschopf zog. "Sehr erwachsen. Dann mach halt. Ist mir egal. Ich gehe jetzt. Aber erwarte nicht, dass ich hier vor dir zu Kreuze krieche!"
Bis aufs Blut gereizt, marschierte Felix davon, schlug mit Gewalt die Tür des Wohnmobils hinter sich zu und begab sich zu dem kleinen Imbissladen an der Raststätte. Nicht, ohne sich das Notebook mitzunehmen, um ein wenig Zerstreuung suchen zu können.
Den dritten pappigen Hamburger später und an einer verwässerten Cola schlürfend, war sein Blutzuckerspiegel wieder soweit gestiegen, um die Situation rationaler betrachten zu können. Da Felix jedoch wusste, wie schnell er sich in einer Spirale aus Sorgen, Ängsten und Zweifeln erging, hatte er sich Hilfe besorgt.
"Es ist spät, Herr Jeger."
"Ich weiß, tut mir leid", nuschelte Felix um den letzten Bissen Pommes frites herum. Das Bild seines Psychotherapeuten blieb unbewegt. Hektisch tippte der Maler auf einigen Tasten herum, fluchte dann, wurde zunehmend unruhiger.
"Ich bin nicht eingefroren", informierte Herr Jakobi trocken, "ich warte."
"Auf was?", fragte Felix unverständig.
"Auf die Erklärung. Zumindest erwarte ich eine dafür, dass Sie die reguläre Sitzung vorgestern abgesagt haben und jetzt um dieses Krisengespräch bitten. Nur, um dann essend vor mir zu sitzen."
Hastig packte der Jungkünstler die Spuren seines Abendessens fort und fuhr sich über den Mund. So heiß, wie seine Wangen brannten, war seine Verlegenheit sicherlich auch über den Bildschirm offensichtlich. Entschuldigend zuckte er die Schultern.
"Ich wusste nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten soll", gab er schließlich leise zu.
"Und das stelle ich auch nicht in Frage", versicherte der ältere Mann, "genauso wenig, wie die Dringlichkeit Ihrer Anfrage oder Ihre Not, in der Sie sich Ihrem Gefühl nach befinden. Gab es einen Rückfall?"
Verhalten schüttelte Felix den Kopf, wanderte mit den Augen umher, stellte fest, wie dunkel es inzwischen schon geworden war. Im Nachhinein plagte ihn das schlechte Gewissen, weil er den Therapeuten so spät aufgeschreckt hatte. Sicherlich war dieser bereits im Feierabend gewesen.
"Haben Sie Nebenwirkungen von den Medikamenten oder ist sonst etwas vorgefallen, das Sie aus der Bahn geworfen hat?", bohrte Jakobi sanft nach.
"Verdammt nein!", entfuhr es Felix ungewollt heftig. "Es geht nicht immer nur um mich! Ich mache mir Sorgen um Anton. Und das kotzt mich an!"
Tränen schossen ihm in die Augen. Doch er verbat sich, diese zu weinen. Es war nicht fair, es war Anton gegenüber nicht fair.
"Okay. Das ist gut."
Entrüstet hob der junge Blonde den Blick wieder zum Bildschirm und traf dort auf das freundliche Gesicht des Therapeuten.
"Was soll an diesem grauenvollen Gefühl denn bitte 'gut' sein?", ätzte Felix Jakobi entgegen. "Es ist doch nicht normal, wenn die Sorge um meinen Partner mich nervt."
"Nervt sie Sie denn?", brachte Jakobi seinen Patienten aus dem Konzept.
"Wie würden Sie es denn sonst nennen?", trotzte dieser direkt.
"Es klingt für mich - und korrigieren Sie mich gern - nach einem richtig unwohlen Gefühl, das die Sorge in Ihnen hervorruft und Sie geben alles, um dieses Gefühl weg zu bekommen."
Schnaufend lehnte Felix sich auf dem unbequemen Plastikstuhl im Außenbereich des Imbisses zurück. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu seinem Bauch, der leicht schmerzte. Anders als sonst hatte er zwar keine Angst, dieses Ziehen zum Vorboten eines Herzinfarktes zu nehmen, doch lästig war es definitiv.
"Schon", gab er zu. "Das ist doch aber nur ein Zeichen für meine Launen. Wer vermeidet denn bitte die Sorge, die er sich um den Menschen macht, der ihm am wichtigsten ist?"
Hm", machte Herr Jakobi und zwinkerte ihm zu, "ein Mensch, der in seinem Leben die Erfahrung gemacht hat, immer auf der Hut zu sein, wenn geliebte Menschen sich merkwürdig verhalten?"
"Toll", muffelte Felix, "dann bin ich also wirklich paranoid."
"Warum denken Sie, Ihre paranoide Persönlichkeitsakzentuierung könnte ausschließlich eine Schwäche sein, Herr Jeger? Wir haben schon einmal darüber gesprochen nachdem wir die Persönlichkeitsdiagnostik abgeschlossen hatten. Es gibt immer zwei Seiten der Medaille", erinnerte ihn der Psychotherapeut noch immer mit seinen so verschmitzt blinkenden Augen.
"Vor dem Hintergrund Ihrer Lebensgeschichte ist es nachvollziehbar, dass sie ein hohes Bedürfnis nach Kontrolle und Verteidigung Ihrer Grenzen haben. Sie haben hier Ihr Leben lang Unsicherheiten und Frustration erfahren. Daher ist es verständlich und nachvollziehbar, dass Sie in entsprechenden Interaktionskonflikten schnell in diesen Bereichen über das Ziel hinausschießen." Jakobi sah ihn einen Augenblick einfach nur an, bis der Maler leicht nickte, um sein weiteres Zuhören zu signalisieren. "Dieser Anteil macht Sie aber auch aufmerksam dafür, wenn andere Menschen in Ihrer Umgebung unter Unsicherheiten leiden. Weil Ihr Gehirn darauf trainiert ist, diese als Schwachpunkte wahrzunehmen und auf kleinste Anzeichen für einen Beziehungsabbruch zu scannen. Sie nehmen also schnell wahr, wenn es zum Beispiel Ihrem Partner nicht gut geht. Sie müssen nur lernen, diese Informationen mit der Perspektivübernahme zusammenzubringen, die Ihnen so schwerfällt."
"Ich versetze mich doch aber in Toni hinein!", protestierte der junge Künstler vehement.
"Das glaube ich Ihnen und es ist so gut, dass Sie es versuchen. Ich sehe auch jetzt Ihre Fortschritte. Dennoch ist Ihr erster Schritt gewesen, mir zu berichten, wie schlecht es Ihnen gerade geht, weil Sie sich um Ihren Partner sorgen. Die Ursache kenne ich allerdings noch immer nicht."
Nur ungern gab der Künstler seinem Behandler recht. Erkannte dennoch die dysfunktionalen, eingefahrenen Strukturen seines Denkens, die er so gern leugnete und doch erkannte. Felix war nicht dumm, nur stur. Gab ungern zu, wie schwer es ihm fiel, sich in die Gefühlswelt der anderen hinein zu versetzen, da es zunächst so viel wichtiger für ihn war, seine eigenen Belange zu klären, um nicht wieder verletzt zu werden. Langsam begann er seine Vermutungen mit Jakobi zu teilen. Dieser half ihm, sich in Anton hinein zu fühlen, wenn er wieder dazu überging seinem Partner zu unterstellen, etwas mutwillig und bösartig vor ihm verbergen zu wollen. Schließlich vergrub er das Gesicht in seinen Händen.
"Und was mache ich jetzt?", verzweifelte Felix erschöpft.
"Das müssen Sie ganz allein entscheiden, Herr Jeger", verwehrte Herr Jakobi ihm einen einfachen Weg der Entscheidungsfindung, auf dem er sich hätte ausruhen können. "Sie haben Strategien an der Hand, haben sich jetzt Informationen eingeholt und sich in Ihren Partner hineingefühlt. Sehr gut! Nun ist es an der Zeit, für sich eine Entscheidung zu treffen, wann Sie Ihn konfrontieren möchten. Denn sie möchten, das haben Sie bereits beschlossen."
"Aber habe ich recht?", drängte der junge Mann weiter und brachte den Therapeuten kurz zum Seufzen.
"Ich kann hier keine Ferndiagnose stellen", meinte dieser Kopfschüttelnd, "schon gar nicht über den Kopf Ihres Partners hinweg und ohne mit ihm gesprochen zu haben. Ich schlage vor, Sie nehmen mit, was wir besprochen haben und wenden sich ansonsten gemeinsam noch einmal an Dr. Leuter. Gut?"
Brummelnd nickte Felix und verabschiedete sich schlussendlich von seinem Psychotherapeuten. Schwerfällig erhob er sich dann von dem Stuhl und drückte den schmerzenden Rücken durch. War er erleichtert? Ja, ein wenig. Das Gefühl hatte sich eingestellt, Antons Verhalten nun ein wenig besser einordnen zu können, ohne sich direkt auf persönlicher Ebene zurückgesetzt zu fühlen. Im Mondschein wanderte Felix gemächlich zurück zum Wohnmobil.
Überrascht stellte er fest, dass das Außenlicht brannte. Zwei der Gartenstühle waren aufgebaut. Dabei war es jetzt im Altweibersommer um diese Uhrzeit bereits empfindlich kühl draußen. Eine dunkle Gestalt erhob sich von einem der Klappstühle, trat auf den Jungkünstler zu. Das fahle Mondlicht kämpfte sich durch die vorüberziehenden Wolken und beschien den bedauernden Ausdruck auf Antons Gesicht.
"Ich hab überreagiert, Hascherl", murmelte dieser leise, als er vor Felix zum Stehen kam. Sanft strich er mit seinen rauen Fingerkuppen die bloßen Arme des Malers hinauf, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. "I war a Arschbrunzer."
Ein Schnaufen entkam Felix bei diesen Worten.
"Was ist das denn bitte für ein Wort, Toni?", meinte er kopfschüttelnd. "Aber ja, du warst ein ziemlicher Idiot. Ich wollte bloß nett sein."
Nickend zog Anton ihn am Handgelenk näher an sich heran, bis kein Blatt mehr zwischen ihre Körper gepasst hätte. Ein vorsichtiger Kuss landete auf Felix' Stirn.
"Padonerlst mir?", flüsterte Anton und Felix spürte den warmen Atem über sein Gesicht streifen.
"Mhm", summte er, während er sich an den Bildhauer lehnte. Doch ihm war bewusst, dass die Sache noch nicht ausgestanden war. Für den Moment aber, ließ er Anton und ihm ein wenig Ruhe.