"Sei bloß vorsichtig ... sei bloß vorsichtig ... sei bloß - oh mein - Toni ... Toni!" Schmunzelnd kurbelte Anton am Lenkrad und holperte die nächste Serpentine hinunter. Felix krallte seine Fingernägel noch etwas fester in den Anschnallgurt und zog die Beine auf die Sitzfläche als könnte diese Verrenkung ihm im Falle eines Unfalls das Leben retten. Sein Partner schien der Ansicht zu sein, er führe wie der reinste Bruchpilot und außerdem reinste Kamikaze. Zumindest seinem Gezeter nach zu urteilen. Dabei schlich er mit geschmeidigen Dreißig eine Straße entlang, auf der das Doppelte erlaubt war. Das Letze, das Anton anstrebte war immerhin, sie beide in den Tod zu fahren. Ohne gültigen Führerschein.
Nach ihrem aufwühlenden Gespräch befanden sie sich nicht auf direktem Weg nach Vincenza. Natürlich nicht. Kurzerhand hatte der Bildhauer die nächstbeste Abzweigung nach Saló eingeschlagen. Als Friedensangebot. Den Joghurt konnte er schließlich auch gefroren essen, während Felix glücklich ein angeblich so köstliches Eis schleckte. Seufzend nahm Anton erneut eine enge Kurve. Was gäbe er nicht alles für eine Kugel Schokolade. So richtig cremig und kühl mit Schlagobers. Hart schluckte er und griff nach der Flasche Wasser im Getränkehalter.
Vor ihnen eröffnete sich das malerische Städtchen. Langezogen an einen steinigen Strand mit anschließender moderner Promenade schmiegten sich die gepflegten Häuser der Reichen und Schönen Venetiens in die Bucht. Das strahlende Blau des Gardasees ließ Anton für einen Moment den Atem stocken.
"Es heißt, die intensive Farbe des Wassers verdankt der See einer Göttin, die so verzaubert von dem Anblick der Reinheit ebenjenem war, dass sie ihre Haare im See wusch und sie ausbleichten. Der See aber nahm die Farbe ihrer Haare an und erstrahlt seither in Indigo und Türkis", erzählte Felix neben ihm mit einem Funkeln in den Augen. Versonnen zog sein unverbesserlicher Künstler einen Block und die fürsorglich eingepackten Kreiden auf seinen Schoß, um mit lässigem Schwung des Handgelenks die Szene vor ihnen zu skizzieren. "Aus Ehrerbietung vor der Göttin, benannten die Einheimischen den See nach ihr - Garda." Die Geschichte gefiel dem Bildhauer. Sie passte zu der Umgebung. Trotz des leichten Hauchs von Reichtum und Prunk, der überall zu kleben schien. Anders, als es bei den anderen kleinen Städtchen der Fall gewesen war, schien Saló nicht aus Gebäuden zu bestehen, die bereits historischen Wert erreicht hatten. Hier war alles renoviert, ausgebaut und geradezu penibel trendy. Leicht rümpfte Anton die Nase, parkte allerdings dennoch auf einem etwas abseits gelegenen Parkplatz nahe des Strands. Die Wasserflasche im Anschlag, schnappte der Bildhauer sich noch geistesgegenwärtig zwei Basecaps und die Nikon, bevor er Felix hinterhersprang, der bereits mit unverhohlener Begeisterung vorausgelaufen war. Krempelte der sonst so scheue junge Mann gerade tatsächlich die Aufschläge seiner Chino auf?
"Oha", flachste Anton und zog Felix eine der Kopfbedeckungen über den blonden Wuschelkopf, "so ungewohnt freizügig, Jeger? Nicht, dass ich einen Haufen rolliger Italiener abwehren muss." Sein Partner schielte über die Schulter zu ihm herüber und streckte frech die Zunge heraus. Es fühlte sich gut an. Die Leichtigkeit. Dennoch rumorte es in Antons Magen, hatte er die Worte des jungen Malers noch immer schmerzhaft präsent im Ohr. Er hatte Angst, Anton zu verlieren. An eine beschissene Angewohnheit, die er nie wieder die Oberhand hatte übernehmen lassen wollen. Seufzend fuhr er sich über das stoppelige Kinn und trank einige kleine Schlucke aus der Wasserflasche.
Gemächlich schlenderten sie die Promenade entlang. Dank der frühen Uhrzeit hielt sich der Trubel in Grenzen. Es war erstaunlich wie warm es auch im Jahreszeitenwechsel noch war. Genießerisch sog Anton die Sonnenstrahlen in sich auf. Das sanfte Pricken auf den bloßen Armen vertrieb die Gänsehaut, die in den letzten Tagen und Wochen ein ständiger Begleiter geworden war. Der Bildhauer war schon immer ein Fan des Sommers gewesen, weil man dann draußen in der Natur arbeiten und sie erkunden konnte. In Österreich war es im September dann doch schon reichlich kühl geworden.
"Siehst du den Turm dort drüben?", fragte Felix. "Sie haben vor einigen Jahren neue Glocken eingesetzt. Das Spiel klingt wirklich schön." So, wie sein Partner ständig hin und her huschte, erinnerte er Anton an einen Hosenscheißer, der zum ersten Mal neue Eindrücke auf sich wirken ließ. Vielleicht war das aber auch der falsche Vergleich, korrigierte er sich, als Felix stehen blieb und sich mit einem älteren Ehepaar angeregt in einem Kauderwelsch unterhielt, das definitiv doch nicht Italienisch sein konnte. Denn mehr als "Salve" verstand der Bildhauer beim besten Willen nicht. Und das verdankte er lediglich seinem lange zurückliegenden Lateinunterricht.
So oder so mochte Felix äußerlich nicht recht ins Bild passen ... die überschäumende Art und das niemals stillstehende Plappermaul hingegen zeichneten ihn als 'hierhergehörig' aus. Anton erstaunte es auf eine positive Weise. Die Wandlung, die sich in der Liebe seines Lebens vollzogen hatte seit sie den Sorgen des Alltags entflohen. Es bestätigte ihn darin, besser auf Felix aufzupassen, dem es einfach deutlich zu schwer fiel, auf die eigenen Grenzen zu achten sobald es um eine gesunde Work-Life-Balance ging.
"Mein zerstreuter Workaholic", nuschelte Anton mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Die Falte zwischen den Augenbrauen nicht ganz so tief wie gewohnt und trotzdem deutlich sichtbar, blickte der Jungkünstler zu ihm auf. Auffordernd winkte er Anton zu sich heran.
"Sie sagen, es gibt sie noch", begeisterte Felix sich und zog Anton am Handgelenk hinter sich her. Verdattert ließ der es über sich geschehen.
"Wen?", stieß der Bildhauer reichlich verspätet aus. Ein Glucksen zeugte vom Amüsement seines Partners.
"Die Eisdiele von der ich geschwärmte habe. Ich verspreche dir, die ist jede Sünde wert." Prompt kehrte das unliebsame Rumoren in Antons Eingeweide zurück. Ob er bereit war, diesen Preis zu zahlen? Immerhin hatte er Felix ein Versprechen gegeben. Noch herumgeprotzt, sein aus den Fugen geratenes Gleichgewicht wieder in gesittete Bahnen lenken zu können. Alles kein Problem. Nicht wirklich zumindest. Es war ja nur ein Frozen Joghurt. Mehr stolpernd als vernünftig einen Fuß vor den anderen setzend folgte er dem Maler bis zu einem kleinen Café direkt am Wasser. Kleine Bistrotische versammelten sich scheinbar zufällig auf einer kleinen Holzveranda. Umgeben von einer niedrigen Hecke und überspannt von einem Leinentuch, bot sich hier ein Plätzchen im Schatten und geschützt vor unliebsamen Blicken, die einem beim Genuss der angebotenen Leckereien stören könnte. Eigentlich ganz gemütlich, wie Anton nicht umhinkam festzustellen. Ein Ort, der ihm gut gefallen hätte, wenn er nicht gewusst hätte, was hier auf ihn zukäme.
"Es wird dir gefallen. Versprochen", hauchte Felix ihm ins Ohr und drückte seine Lippen kurz aufmunternd auf seinen Nacken. Beruhigend. Bestärkend. Da war sie wieder ... diese Gänsehaut, die sich in der letzten Zeit nicht hatte abschütteln lassen. Das Rumoren in Antons Bauch war zu einem ausgewachsenen Stechen geworden. Gequält verzog er das Gesicht und rieb sich verstohlen darüber. Unweit der abgelegenen Veranda hatte man sich offenkundig anzustellen, um die Eis- und Jogurtsorten mit gebührendem Interesse zu bestaunen und sich seine Kreationen in einem Becher zusammenzustellen. Bei dem Gedanken daran wurde Anton direkt speiübel. Um den schalen Geschmack in seinem Mund loszuwerden nahm er lieber direkt wieder einen Schluck aus der inzwischen fast zu zwei Dritteln geleerten Wasserflasche. Sich selbst verteufelnd, weil es ihm egal sein sollte, rieb er sich über die Körpermitte. Er sollte vorsichtig sein mit dem Trinken. Auch ein Wasserbauch war alles andere als ansehnlich. Ihm brach der Schweiß aus allen Poren je näher sie der Auslage rückten.
"Cosa vorresti?" Erschrocken zuckte der Bildhauer zusammen. Vollkommene Leere füllte seinen Kopf aus. So kannte er sich nicht. Nicht mehr. Hilflos starrte er auf die Eissorten, die sich in der Auslage präsentierten. So viel Zucker. So viele Kalorien. Sein Hals schnürte sich zu, das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Farben dort erschienen Anton plötzlich so aufdringlich, künstlich und grell. Falsch, nicht gesund. So etwas sollte er essen?!
"Possiamo provare?", schälte sich eine heisere Stimme aus den Alarmglocken, die in seinem Hirn schrillten. Sein Kopf flog zur Seite. Interessiert nach vorn gebeugt stand Felix neben ihm und deutete auf einige der Sorten, lächelte den Verkäufer an und plauderte vergnügt. Eine warme Hand umschlang dabei seine eigenen klammen Finger. Nicht zu fest, würden sie nie, aber doch so, dass er den Zuspruch dahinter deutlich spürte.
Über die Theke wurden kleine Löffel gereicht. Auf jedem davon türmte sich ein winziger Berg aus cremiger süßer Verführung. Misstrauisch beäugte Anton das Geschehen. Felix nahm die Löffel entgegen und hielt sie seinerseits ihm hin. Wie ein bunter Blumenstrauß strahlten die Plastiklöffel in dem Styroporbehälter ihn an.
"Das sind die Joghurtvarianten", verriet der Jungkünstler mit einem Augenzwinkern. "Wir machen das ganz langsam, Toni. Ein Löffel für jede Sorte. Ich suche mir mal eben meinen Zusammen, ja? Hier." Damit drückte er ihm die Palette mit sieben kleinen Probierportionen in die Hand. Keine zwei Minuten später hielt Felix triumphierend einen Eisbecher in einer Größe in den Händen, bei dem sich Anton der Magen umdrehte. Aber das Strahlen im Gesicht seines Partners ließ ihn die Lippen fest zusammenpressen. Nichts sagen ... einfach genießen, dass Felix abschalten konnte. Er hatte es sich verdient.
Auf der Veranda eroberten sie sich einen der Eckplätze. Schatten, hier und dort ein kleiner Streifen Sonne und ein hervorragender Blick auf den See. Während Felix seinen Löffel mit Hochgenuss in der cremigen Masse versenkte, leckte Anton vorsichtig mit der Zungenspitze am ersten Löffel. Flatternd schlossen sich seine Augenlider. Das wohlige Seufzen konnte er gerade noch unterdrücken. Wäre auch sonst reichlich peinlich gewesen. Zitronig. Vielleicht auch Limette. Zumindest himmlisch erfrischend, nicht zu schwer, um ihm direkt den Magen zuzukleistern.
"Gut?", hakte Felix prompt nach. Das wissende Lächeln brauchte Anton gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass es die Mundwinkel des Jungkünstlers in die Höhe zog. Daher beschränkte er sich auf ein Kopfnicken. Die Augen nur einen schmalen Spalt geöffnet, tastete er nach dem nächsten Löffel. Sahniger, diesmal. Eine leichte Zimtnote. Anton presste die Zunge gegen den Gaumen, um ja jedes Bisschen Aroma auszukosten. Das leise Brummen des Genusses ließ sich diesmal nicht aufhalten.
So fuhr er fort, bis er alle sieben Löffel verkostet hatte. Waldmeister. Das war der letzte gewesen. Ungewöhnlich, wie Anton fand. Lecker, aber nicht zwingend die Sorte, die er sich ausgesucht hätte.
"Es ist doch schön hier, nicht?", murmelte Felix neben ihm und ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. Von der erstaunlich positiven Erfahrung beflügelt bettete Anton sein Kinn auf dem wuschliegen Haarschopf. Die wild abstehenden Strähnen kitzelten in seiner Nase.
"Mhm", murmelte er, zu träge vom vielen Joghurteis, um mehr zu artikulieren. Es durchzuckte Anton wie ein tödlicher Blitzeinschlag. Sollte er sich nach dieser geringen Menge so schläfrig und matt fühlen? War das nicht doch eher ein Zeichen, dass es zu viel des 'Guten' gewesen war? Oder eben des Schlechten ... wie hatte er sich nur so gehen lassen können! Angeekelt verzog sich Antons Mund. Seine Finger verkrallten sich in seine Jeans. Es kostete ihn alle Beherrschung, Felix nicht von sich zu schubsen und die nächste Toilette zu suchen, um -
Ja, was denn eigentlich? Der Gedanke, den er sich nicht getraut hatte zu beenden, erschreckte Anton. So weit war er nie gegangen. Das war selbst für ihn zu krass. Stattdessen presste er die Augen fest zusammen und vergrub sein Gesicht im Nacken seines Partners. Er konnte das hier. Manchmal war es okay einer Versuchung nachzugeben ... wenn sie klein genug war, dann machte es fast keinen Unterschied, richtig? Er konnte das immer noch wieder ausgleichen.