"Kribbeln, Ameisenlaufen oder das Gefühl, als seien die Hände eingeschlafen?"
Den Kopf weit in den Nacken gelegt betete Anton darum, dass die fünfzig Minuten der zweiwöchentlichen Sitzungen möglichst schnell vorbeigehen mochten.
"Herr Fuchs, hören sie noch zu, oder sind sie in Gedanken bereits wieder zur Tür hinaus?"
Ertappt setzte er sich gerade hin und sah Dr. Leuter entschuldigend an. Die Psychiaterin und Neurologin mit den immer bunten Blusen und den Bleistiftröcken hatte es wahrlich auch nicht verdient, dass er sich so gegen die heutige Sitzung sperrte, aber er war gedanklich bereits im geplanten Urlaub verhaftet, wollte sich auch gar nicht mit dem beschäftigen, was sie hier immer wieder anführte. Halfen tat es dennoch, daher gab Anton sich innerlich einen Tritt in den Hintern.
"Kribbeln", gab er zu und knetete seine Hände wie zur Bestätigung ineinander, "nicht permanent, aber oft. Außerdem sind meine Finger ständig kalt, aber die Gelenke heiß und geschwollen."
Verstehend nickte die Ärztin, machte sich einige Notizen, um dann zu ihm herumzukommen und sich neben ihn zu setzen.
"Helfen die Wechselbäder, die ihr Partner Ihnen macht? Sie hatten in einer unserer Sitzungen davon erzählt."
Zustimmend brummelte Anton, während Dr. Leuter abwechselnd seine Hände in die ihren nahm, hier und dort drückte, massierte oder spreizte. Zischend zuckte Anton an einigen Stellen.
"Von einer Skala von Null bis Zehn, wie stark sind die Druckdolenz-Schmerzen?"
"Sieben", wägte Anton mit verzogenen Mundwinkeln ab.
"Und bei einem akuten Schub? In Ruhehaltung?"
Stur zuckte der Bildhauer die Schultern, denn sowohl seine Ärztin als auch er wussten die Antwort. Sie auszusprechen, hieße allerdings, sich eingestehen zu müssen, dass er in diesen Phasen hilflos war, wie ein Baby, was absolut nicht in frage käme. Wieder nickte Dr. Leuter schlicht.
"Seien Sie so gut und nehmen sie den Stift hier in die rechte Hand und schreiben Ihren vollständigen Namen auf dieses Blatt."
Ach herrje, das kannte er schon zur Genüge, ja, diese Aufgabe kam ihm geradezu schon zu den Ohren wieder heraus, doch natürlich war dem dunkelhaarigen Mann bewusst, dass es hierbei um einen nicht unwichtigen Test ging.
Um eine lockere Handhaltung bemüht, übernahm der Bildhauer den Stift von der Neurologin, musste jedoch feststellen, dass wie zuvor die Knöpfe an diesem Morgen, dieses kleine Scheißerchen gegen ihn arbeitete. Zu seinem Verdruss entschlüpfte der Stift seinen Fingern, um klappernd auf die Tischplatte zu dömeln, einige Zentimeter weit zu Rollen, bevor er ihn mit einem lauten Klatschen mit der flachen Hand auf das Holz einfangen konnte. Triumphierend starrte Anton das Mistding an, es wäre doch gelacht, diesem kleinen unscheinbaren Stift den Sieg zu überlassen.
"Heben sie ihn auch wieder richtig auf?"
Was wollte Dr. Leuter von ihm? Er hatte hier doch gerade so schön beweisen, dass er imstande war, einen entlaufenen Feind wieder einzufangen. Konnte sie ihm dieses Glück nicht lassen? Für einen winzigen Hauch eines Momentes?
Mit bitterbösem Blick starrte Anton vor sich hin, spielte den bockigen Arbeitsverweigerer, sich durchaus bewusst, dass er damit überhaupt nichts erreichte, außer der Dame neben sich zu bestätigen, was diese vermutete - auch ganz ohne den sichtbaren Beweis. Nämlich, dass seine Fingerkuppen taub waren. Jawohl, taub, er sie nicht spürte, gar nichts spürte, um genau zu sein, er bereits froh war, wenn der Schmerz kam, um sich sicher sein zu können, dass da noch irgendetwas war, das er wahrnehmen konnte.
"Wie bewältigen Sie Ihren Alltag?", fragte Dr. Leuter sanft, so sanft, dass Anton beinahe auflachte, war diese Art für die eher ruppige Ärztin doch reichlich ungewöhnlich, "Waschen, Kochen, Anziehen?"
"Ich bin kein Pflegefall", murmelte Anton unwillig und verschränkte seine Arme abwehrend bei dieser Vorstellung.
Sie tat ja geradezu so, als bräuchte er Rundumversorgung, am Ende dachte sie noch daran, Felix helfe ihm auf die Toilette. Bei diesem Gedanken schauderte Anton unwillkürlich.
"Das ist mir bewusst, Herr Fuchs. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass Sie mit Problemen zu kämpfen haben. Also?"
Ein Augenrollen konnte sich der sture Mann nicht verkneifen, doch er wollte die Frau, die sich alle zwei Wochen Zeit für ihn nahm, ihm seit Monaten zur Seite stand und die Kollegin des Mannes war, der dem Mann half, den er liebte, nicht vor den Kopf stoßen.
"Felix kocht", antwortete er daher wahrheitsgemäß, "und Felix ... hilft beim Knöpfeschließen, wenn es nicht anders geht oder Fleischkleinschneiden. Ach, und ich kann sehr gut alleine duschen, vielen Dank."
Zufrieden lächelte Dr. Leuter ihn an und nickte wieder. Diese Frau trieb ihn noch auf die Palme.
Sie besprachen dann noch einige Übungen, bis es Zeit für die Verabschiedung wurde.
"Felix und ich wollen gern in Urlaub fahren. So um die acht Wochen. Was halten Sie davon?", brachte Anton seinen Punkt an, der ihm bereits seit Beginn der Sitzung unter den Nägeln brannte.
Abwiegend ließ die Neurologin den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite fallen.
"Grundsätzlich spricht nichts dagegen. Eine Auszeit kann sehr erholsam sein und inzwischen müssten die Medikamente gut anschlagen. Da ich nichts mehr gehört habe, gehe ich davon aus, dass Ihr Partner auch zuhause von keinen Nebenwirkungen berichtet hat."
Anton sah sein Gegenüber verständnislos an.
Medikamente?
Nebenwirkungen?
Eine Gänsehaut bildete sich auf Antons Armen, kroch ihm den Nacken hinauf, ließ ihn unwillkürlich schauern, konnte er es doch nicht begreifen, dass Felix nicht ein Wort über diese Entwicklung verloren hatte. Schwer schluckte er, darum bemüht, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, setzte stattdessen ein möglichst interessiert-neutrales Gesicht auf.
"Richtig, keine Nebenwirkungen. Zumindest hat er keine erwähnt", bekundete er dann gegenüber der Ärztin und versicherte sich, dass er genau genommen damit auch nicht gelogen hatte, "aber sollte er nicht inzwischen deutlich - na - hier -"
"Weniger Zwangshandlungen zeigen?", sprang ihm Dr. Leuter helfend bei und Anton nickte dankend, "die Medikamente pendeln sich nur langsam ein. Sie müssen erst einen Spiegel aufbauen. Allerdings müssten die Tabletten gegen die Erregungszustände und zur Schlafförderung bereits helfen?"
Dieser kleine Fuchs! Daher war Felix in letzter Zeit häufig morgens so ungewöhnlich müde gewesen und fühlte sich schlapp? Anton hatte es lediglich auf die Überarbeitung geschoben, doch was, wenn es doch Nebenwirkungen waren?
"Ja", krächzte er gerade so heraus, "die helfen."
"Gut, gut. Dann steht von meiner Seite nichts im Wege, eine längere Ausfahrt zu machen. Allerdings sollte Herr Jeger natürlich noch mit Herrn Jakobi sprechen, ich bin ja nicht seine Hauptbehandlerin."
Versichernd versprach Anton, dass dies eine Selbstverständlichkeit war, erhob sich geschmeidig aus dem Stuhl, um sich mit einem freundlich aufgesetzten Lächeln zu verabschieden.
In der Straßenbahn hielten die Leute Abstand. Genau genommen, drängten sie sich dicht an dicht, doch sie schlugen einen Bogen um den düster dreinblickenden Mann in schwarzer Trauermontur mit dem funkelnden Augenbrauenpiercing, der mit den hellen Augen jeden zu erdolchen drohte, der es wagte, ihm ein sonniges "Griaß Sie, ists genehm?" entgegen zu werfen.
So erreichte Anton von anderen weitestgehend unbehelligt sein Heim, schlug zur Demonstration seiner Anwesenheit die Tür lautstark hinter sich zu, nur, um feststellen zu dürfen, dass der werte Herr Jeger nicht anwesend schien.
"Auch gut", grummelte der Bildhauer vor sich hin, während er die Schuhe von den Füßen klickte, sie aus purer Bösartigkeit unordentlich im Flur liegen ließ, im Bewusstsein, Felix mit dieser Tat in den schieren Wahnsinn zu treiben - oder auch nicht, denn er nahm ja jetzt diese verfluchten Medikamente - und polterte die alte Treppe hinauf ins obere Stockwerk.
Ungebremst führte ihn sein Weg ins Badezimmer und damit vor das zweigeteilte Waschbecken, dem darüber hängenden Spiegelschrank galt seine besondere Aufmerksamkeit. Unbeachtet blieb seine Seite, was Anton interessierte, war das hinter dem Spiegel verborgene Apothekenschränkchen des jungen Malers. Als ihm eine Dose Säureblocker aus den tauben Fingern glitt und klappernd im Porzellanbecken landete, ermahnte Anton sich zur Ruhe. Es brachte nichts, jetzt wie ein wildgewordener Stier durchs Haus zu wüten, weil Felix beschlossen hatte, ihm seine Krisenbehandlung zu verheimlichen. Hätten sie keine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung unterzeichnet, hätte er jemals von den Tabletten erfahren? Wer wusste das schon.
Langsamer, bedächtiger, kramte Anton nun durch die Packungen und kleinen Döschen. Spektakuläres war nicht zu entdecken, fand sich doch das Übliche in Felix' Schrank. Leichte Kopfschmerzmittel, ätherisches japanisches Heilöl und Hustensirup. Doch dann fand der Bildhauer ganz hinten, beinahe, als habe Felix versucht sie zu verstecken, zwei schmale Verpackungen. Neugierig drehte er sie herum, besah sich die Medikamente.
Fluoxetin - ein Stimmungsaufheller? Er hatte gedacht, Felix bekäme etwas gegen seine Zwänge? Außerdem war die Packung unangetastet.
Atosil - bei Spannungs- und Erregungszuständen. Ja, das hatte Dr. Leuter angedeutet. Auch, dass diese Tabletten beim Schlafen behilflich wären, was Anton befürworten würde, denn Felix' Schlafrhythmus war von jeher eine einzige Katastrophe gewesen. Nicht selten konnte Anton Felix dabei beobachten, wie er entweder unruhig im Schlaf zuckte, sich hin und her wälzte oder mit offenen Augen dalag, an die Decke vor sich hin starrend. Bis ihm selbst die Augen zufielen.
Diese Packung war auch angebrochen, es schienen bislang drei Tabletten zu fehlen. Aber ob es der erste angebrochene Blister war, vermochte der Bildhauer nicht zu sagen.
"Was tust du da?!", drang es schrill an Antons Ohren.
Ergeben schloss dieser die Augen, denn ihm war nur zu bewusst, dass sie heute nicht friedlich aus einer Diskussion herausgehen würden.