Es war schon einige Jahre her seit er das Anwesen der Wolgemuth-Bleibtreus zuletzt betreten hatte. An der überraschend heimeligen Atmosphäre hatte sich nichts geändert. Noch immer dominierten Pflanzen über Pflanzen die Eingangshalle, man hätte meinen mögen, sich in einem Gewächshaus zu befinden. Orientalische Musik erfüllte die hohen Hallen und es roch verräterisch nach fremdländischen Gewürzen. Früher hatte Anton diesen Duft stets tief in sich aufgenommen, damit fast liebevoll eine Art Ersatzheimat verbunden.
Heute unterdrückte er mit Mühe und Not den Drang, die nächste Toilette aufzusuchen. Waren die Dünste schon immer so penetrant gewesen? Ihm schwindelte regelrecht bei jedem Atemzug, schien es doch, als bestünde die Luft kaum mehr aus Sauerstoff, als vielmehr aus diesen grauenvollen Essensgerüchen.
"Ich dachte immer, Thore wäre von hier", plapperte Felix neben ihm unbedacht drauflos.
Immerhin lenkte es Anton ab, denn so konnte er sich auf seinen Partner konzentrieren, der mit großen Augen die bunten Teppiche musterte, über die sie liefen.
"Stimmt", gab der Bildhauer bereitwillig Auskunft, "aber seine Eltern haben sich damals in einem Achtsamkeitsseminar in Tibet kennengelernt und den Lebensstil beibehalten."
Der junge Künstler nickte lediglich verstehend und so lotste er ihn in einen geräumigen Salon zu ihrer Linken.
Thore wartete dort bereits, bis auf die Knochen durchnässt, hatte er sich schließlich keinen Regenschirm mitgenommen, nachdem er aus dem Wohnmobil geflüchtet war. Die Meergrünen Augen seines besten Freundes sahen ihn an, schienen ihn stumm um Hilfe anzuflehen. Beinahe konnte er das Tosen der peitschenden Wellen im Sturm hören. Seenot, Thore ging unter in seinen Gefühlen, der Überforderung und der Verzweiflung. Auf der Brokatcouch saß ein zerbrechlich wirkender Mann und rauchte Pfeife, starrte nur stupide in die Flammen eines großzügigen Kamins. Eine Frau mit hennaroten Haaren strickte in einem Schaukelstuhl den vermutlich längsten Schal, den die Welt je gesehen hatte und zu ihren Füßen kuschelte ein etwa sechsjähriger Junge mit Engelslocken und Seenotaugen mit einem Deutschen Schäferhund.
Beinahe idyllisch, wenn Anton nicht der Mann aufgefallen wäre, der mit viel zu geradem Rücken, die Hände steif vor der Brust verschränkt am Fenster Stand. Das Gesicht hielt er der Szenerie abgewandt, starrte stattdessen hinaus in den tosenden Sturm, sah dem Gewitter dabei zu, wie es vor dem Anwesen wütete. Dabei braute sich hier drinnen eine ganz andere Art Katastrophe zusammen.
"Wie geht es Ihnen, Bo?", wandte Anton sich an den Hausherren, reichte dem alten Mann höflich die Hand und küsste dann die alte Dame auf die Wange, "Auri. Darf ich Ihnen meinen Partner vorstellen? Felix Jeger."
Zögerlich trat der Blondschopf heran, doch lachend schnappte Anton einfach das Handgelenk seines Partners und schloss ihn in eine halbseitige Umarmung, indem er einen Arm um dessen schlanke Taille schlang. Da konnte man wirklich neidisch werden.
"Der berühmte Maler, der Musik auf Leinwände bannt?", wollte Thores Mutter interessiert wissen, hob die wässrigen Augen zwar von den Stricknadeln, die Hände stellten die Arbeit jedoch keine Minute lang ein.
"Oh ja", prahlte der Bildhauer stolz, nachdem Felix kein Wort über die Lippen zu bringen schien, "er ist ein Virtuose."
"Ist schon Zeit zum Essen, Auri?", machte sich Bo bemerkbar.
"Nein, Schätzchen. Sie nur, Thore und Andi sind hier. Und der Gute hat sogar seinen Liebsten dabei."
"Da ist gar nicht genug Platz für alle am Tisch", schlussfolgerte Thores Vater, zog an seiner Pfeife und wirkte darüber sehr nachdenklich, "ob wir dann im Stehen essen?"
Besorgt flogen Antons Blicke hinüber zu Thore, der verkrampft die Finger in die Lehne des Sessels vor sich schlug, hinter dem er sich halb zu verstecken versuchte. Auri und Bo waren spät Eltern geworden, so viel wusste Anton von den unzähligen Malen, die er die Ferien und verlängerten Wochenenden hier verbracht hatte, als er und Thore noch gemeinsam das Internat besucht hatten. Daher sollte ihn ein gewisser körperlicher Abbau der älteren Herrschaften nicht verwundern. Aber dem Bildhauer war nicht bewusst gewesen, wie es um Bos geistige Gesundheit bestellt war. Sein bester Freund hatte nie auch nur ein Wort darüber verloren. Waren sie vor allem im vergangen Jahr wirklich so sehr auseinandergedriftet?
"Ach halt die Backen, dementer Tattergreis!"
Bestürzt wirbelte der Bildhauer herum, war damit nicht der Einzige, denn auch Felix blickte den Mann am Fenster schockiert nach Luft schnappend an und Thore schien kurz davor, einen ausgewachsenen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
"Ich verbitte mir diesen Ton im Hause meiner Eltern, Sven", spie sein bester Freund mühsam beherrscht, "denk daran, was sie für deinen Sohn getan haben, während du im Knast gesessen hast."
"Ich glaube nicht, dass wir das vor Anders Ohren besprechen sollten", ging Anton dazwischen, bevor die Situation weiter zu eskalieren drohte, wusste jedoch auch nicht weiter, wie eine Auflösung gelingen könnte.
"Wie heißt denn dein Hund?", erklang überraschend die stets leicht heisere Stimme eines ganz besonderen Pedanten im Leben des Künstlers.
Seinen Augen kaum trauend, sah Anton dabei zu, wie Felix sich neben Anders niederkniete und mit den Fingern, die jegliches Putzmittel besser kannten, als gut für sie war, in das lange Fell des Schäferhundes fuhren.
"Chopin", murmelte der Knirps und schenkte dem blonden Wuschelkopf einen scheuen Blick, sichtlich belastet durch die angespannte Stimmung zwischen seinen Familienmitgliedern.
"Ha", lachte Felix auf, "ein cooler Name für einen Hund."
Da zeigte sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht des Kindes.
"Meine Mama mag so Lieder, wo keiner singt und Geigen und so spielen. Das ist ihr liebster Komposist. Außerdem heißt das nice, Felix!"
Schmunzelnd betrachtete Anton seinen Partner, wie er bedauernd seine Hand an seine Brust führte, um sich vielmals für diesen Fauxpas zu entschuldigen.
"Zeigst du mir auch, ob Chopin einen Ball wiederbringt, wenn du ihn wirfst?", wollte sein unglaubliches Genie von einem gar nicht mal so verschreckt wirkenden Hascherl wissen.
Eifrig nickte Anders, um kurz darauf aufzuspringen und Felix bei der Hand zu packen. Da war es, das kurze Zusammenzucken, das der Jungkünstler nicht unterdrücken konnte. Doch der Bildhauer rechnete es ihm hoch an, sich der Berührung zu ergeben, ihm ein Zwinkern zu schenken und somit den Jungen samt Hund hinaus in den Garten zu folgen.
Der Vater des Jungen ließ sich leider nicht so einfach auf ein Gespräch ein. Anton hielt sich die meiste Zeit zurück, ging es hier schließlich um Familienangelegenheiten. Es wurde jedoch schnell offensichtlich, wie die Lage stand - konnten sich die Großeltern aufgrund der fortschreiten dementiellen Erkrankung Bos nicht weiter um den Jungen kümmern und Thores Schwester war schlicht nicht mehr in der Lage. War es nie wirklich gewesen. Ein Verbleib bei Sven Oster - dem leiblichen Vater des Jungen - schien auch keine nennenswerte Option, wenn es nach Familie Wolgemuth-Bleibtreu ging. Ein Gefängnisaufenthalt, eine konfliktbelastete Partnerschaft sowie wenig Interesse an Anders bis zur Debatte des Sorgerechts vor einigen Monaten, schienen Anton auch nicht unbedingt Punkte, um Sven für den Preis zum 'Vater des Jahres' zu nominieren. Noch dazu wirkte es, als habe Thore aufgrund der Verfügung der Mutter so oder so ein Vorrecht auf das Sorgerecht. Wie lange die Beteiligten diskutierten, vermochte Anton nicht zu sagen, doch irgendwann stürmte Sven wütend davon und schwor, schon irgendwie an seinen Sohn zu kommen - Thore würde schon von ihm hören.
Erschöpft rieb sich der Bildhauer das Gesicht, tätschelte seinem besten Freund beruhigend die Schulter.
"Der blufft nur", murrte er mit finsterer Miene, "mach dir keine Sorgen. Und wenn er einen Anwalt einschaltet, dann hetzen wir ihm unsere geballte Ladung an Anzugträgerbluthunden auf den Hals."
Ein schmales Lächeln erschien in Thores blassen, abgespannten Zügen.
"Hatten wir schon Abendessen, Kätzchen?", wollte Bo nachdrücklich wissen, "Thore ist mit seinem Freund da, siehst du? Der Felix ist das."
Nun gut, fast richtig immerhin.
Beim Abendessen fanden sich dann aber auch Felix und Anders wieder an. Naserümpfend nahm Anton es hin, einen vollkommen durchnässten Maler neben sich sitzen zu haben. Oh, es störte ihn ganz und gar nicht, wie sich das malvenfarbene Shirt an den wohlgeformten Körper seines Partners schmiegte - wenn er sich auch immer wieder fragte, wie Felix es schaffte bei der Menge an Nahrung, die er zu sich nahm so unverschämt schlank zu bleiben - nein, es war viel mehr diese sehr besondere Note, die er verströmte.
"Du muffelst", nuschelte er dem Jungkünstler entgegen, während die Teller gefüllt wurden.
"Was?!", pikierte sich dieser und schoss einen giftigen Blick auf ihn ab.
"Du riechst nach nassem Hund", beharrte Anton weiterhin, "tut mir leid, Jeger, aber so bekomme ich echt keinen Bissen runter. Da wird mir vor Übelkeit ganz schwindlig."
Schulterzuckend erhob Anton sich und wünschte allen Anwesenden eine frühe gute Nacht.