Geahnt! Er hatte es ja geahnt. Nie und nimmer konnte jemand diese Schande von einem Gestell als bequem oder komfortable bezeichnen. Griesgrämig drehte sich Felix auf die andere Seite, presste sich sein Kissen aufs Gesicht und stöhnt leidvoll. Irgendjemand meinte, sich mehr, als nötig zu bewegen, was dazu führte, dass die gesamte Kiste, die sich für die nächsten drei Wochen sein Zuhause schimpfte, nachschwang. Sein Magen hob sich unangenehm bei diesem Seegang auf dem Trockenen. Dann hörte er die verheißungsvolle Klospülung. Der Maler unterdrückte ein Würgen.
"Nein!", presste er hervor, rollte sich aus dem Alkoven und kam mit den nackten Füßen auf irgendwelchen Chipskrümeln auf, die vermutlich Thore noch überall verteilt hatte, nachdem er und Anton bereits zu Bett gegangen waren.
"Raus", keuchte Felix heiser, schubste dabei einen reichlich verdattert dreinblickenden Bildhauer zur Seite, der in Schlappen und mit Kulturbeutel bewaffnet gerade die Tür des Campers geöffnet hatte.
"Jeger?", kam es perplex von seinem Partner, doch der Blondschopf quetschte sich nur hektisch vorbei, um dann unter der Markise zu verweilen und sich wie ein Hund zu schütteln.
"Was ist denn los?", startete Anton kurz darauf einen erneuten Versuch.
Felix stand mit düsterer Miene und verschränkten Armen, nur in Boxershorts und T-Shirt bekleidet, in der doch sehr frischen Morgenluft und beäugte das Wohnmobil, als habe es vor, ihn demnächst zu fressen.
"Ich verzichte auf das volle Campingerlebnis, Toni. Danke, aber nein, danke", prustete Felix außer Atem, "das ist doch nicht normal! Welcher Mensch verspürt denn bitte keine Sehnsucht nach ein bisschen Luxus in seinem verdammten Leben?!"
In diesem Moment trat Thore zu ihnen hinaus, ein so erholten Eindruck machend, der Jungkünstler musste den Drang, diesem selbstgefälligen Idioten an die Kehle zu springen mühevoll unterdrücken.
"Leute, ihr seid echt laut", beschwor der Kerl sie auch noch dreist, "wir sind hier nicht alleine auf dem Stellplatz."
Zum Haareraufen, dieser ganz und gar nicht liebeswerte Typ war zum Haareraufen. Nein, nein, nein, ganz sicher nicht. Das konnten die beiden sich sowas von abschminken. Er würde das keine drei Wochen durchhalten, hatte schon nach einer Nacht die Nase voll, kein Auge hatte er zubekommen. Nicht einmal mit den Tabletten. Wie gerädert fühlte er sich, erschlagen und einfach nur überreizt.
"Was ist denn das Problem?", bohrte Anton nach.
"Ich gehe nicht auf dieses Chemieklo, verdammte Hacke!"
Sein Abgang war zugegeben nicht sonderlich erwachsen gewesen, auch nicht unbedingt fair, schon gar nicht förderlich hinsichtlich des Abkommens, das er und Anton geschlossen hatten. Herr Jakobi würde ihm ebenfalls den Kopf waschen, wüsste sein Therapeut, wie er mit der Situation umgegangen war. Dies fiel sicherlich nicht unter die Kategorie 'Bedürfnisse sachlich äußern - Konstruktive Diskussionen führen und den Partner miteinbeziehen'.
Tief seufzte Felix, schob den Zeichenblock auf seinen Knien zurecht. Ein Blick auf seine digitale Armbanduhr bestätigte ihm, dass er breites seit stolzen zweieinhalb Stunden hier saß, nachdem er sich in einen Bus geflüchtet und mit diesem bis in den Süden Salzburgs gefahren war. Hier hatte er sich in einen großen, wirklich hübsch anzusehenden Park begeben, der ihn irgendwie angezogen hatte. Die Beschilderung hatte ihn auf das Schloss Hellbrunn hingewiesen, zu dem diese Anlage gehörte.
Unwillkürlich schoss Felix durch den Kopf, wie gut es Anton gefallen hätte, das architektonische Kunstwerk zu besichtigen. Oder sich die Wasserspiele zu besehen, die angepriesen wurden.
Der junge Maler hatte für diese Dinge im Moment keinen Blick übrig, er war sauer. Auf seinen Partner, der nicht erkannt hatte, wie schwer es ihm fiel, sich an ein einfaches Leben anzupassen, obwohl es doch Anton war, der dem Hochadel angehörte. Auf seinen Therapeuten, da dieser ihm immer wieder versicherte, er würde Fortschritte sehen, wenn er nur weiter an sich arbeite. Und auf sich selbst. Vor allem auf sich selbst.
Die Musik, die über die Kopfhörer in seine Ohren dröhnte verbannte die Außenwelt, ließ keinen Raum, nur Platz für ihn und die Kohlezeichnung, die langsam auf dem Papier Gestalt annahm. Es war eine Szene, die aus seinem Herzen entsprang. Eine Portraitierung seiner Selbst, wie er Anton den Rücken zuwandte, Trauer im Blick, Verzweiflung in den Augen seines Partners, zwischen ihnen eine Trennwand. Durchsichtig, zwar, aber unüberwindbar.
»Kommst du zurück, oder soll ich dich abholen?«
Die Push-Nachricht ploppte so unverhofft auf seiner Smartwhatch auf, es blieb Felix die Spucke weg. Insgeheim hatte er erwartet, Anton demnächst hier aufschlagen zu sehen, wie es sonst immer der Fall gewesen war. Sollte er beleidigt sein, da es nun nicht so war? Zum ersten Mal? Gar verletzt? Oder war es vielmehr ein Zeichen für Fortschritt, weil es zeigte, dass sein Partner es schaffte, sich besser abzugrenzen?
Aufatmend tippte der Jungkünstler auf seinem Smartphone seinerseits eine Nachricht.
»Lass uns in der Mitte treffen? Ich habe noch nichts gegessen. Gaststätte und reden?«
Nervös biss sich Felix auf die Unterlippe, hoffte, das Richtige getan zu haben. Es vergingen zähe Momente, in denen er sich bereits sicher war, wieder etwas falsch verstanden oder gar erneut irgendwelche von Antons Bedürfnissen niedergetrampelt zu haben.
»OK. Muss noch was abholen. Treffen in 40 im Jägerstübchen«
Das gab dem Jungkünstler Hoffnung. Wenn Anton die dummen Witze nicht sein ließ, war noch nichts verloren.
Exakte sechsunddreißig Minuten später kehrte Felix in das rustikal gehaltene Restaurant ein. Zwar war er damit etwas zu früh, doch die Alternative wäre zu spät gewesen und das hätte er Anton gegenüber unhöflich gefunden. Tatsächlich war sein Partner auch noch nicht da, daher ließ er sich von einer Bedienung an einen schönen Fensterplatz leiten und orderte schon einmal einen Wein für sich und ein kleines Blondes für den Bildhauer.
Nach zehn Minuten wurde der Maler zunehmend unruhig. Es war nicht Antons Art, sich zu verspäten. Schon zweimal nicht, wenn diesem die Unterhaltung wirklich wichtig war. Wiederholt schielte Felix auf seine Uhr, nahm einen Schluck von seinem inzwischen zweiten Glas Wein, das ebenfalls aus Nervosität wieder halb geleert war. Seine Hand wanderte gerade Richtung Smartphone, um eine GPS-Suche zu starten, als Anton sichtlich abgehetzt zur Tür hereinschneite. Suchend wanderten die Sturmaugen seines Partners umher. Mit einem leichten Winken machte er auf sich aufmerksam, leerte dann sein Glas Wein in einem Zug, um sich bei der Bedienung ein drittes und - wie er sich versprach - letztes zu bestellen.
"Die Verspätung tut mir leid", begann Anton sichtlich aus der Puste, "hast du schon bestellt?"
"Nein", beruhigte Felix rasch, um den Bildhauer etwas zu entlasten.
"Schade", brummte dieser in seinen Drei-Tage-Bart.
"Was?"
Das Abwinken ließ den jungen Blonden die Stirn runzeln, doch sein Partner verkroch sich bereits hinter der Speisekarte und der Alkohol machte ihn etwas unkonzentriert. So richtig beisammen hatte er seine fünf Sinne erst wieder, nachdem eine Haxe vor ihm dampfte und die Knöpfle in der Soße einen ziemlich guten Eindruck auf ihn machten. Dagegen sah Antons Flädlesuppe recht mager aus, doch er wollte keinen erneuten Streit vom Zaun brechen. Nein, Felix würde das Unterfangen seines Partners, sich bewusster zu ernähren, unterstützen.
"Schmeckt es?", tastete er sich daher vorsichtig an die bevorstehende ernstere Unterhaltung heran.
Beinahe demonstrativ schob sich der Bildhauer einen Löffel ziwschen die Backen.
"Mhmmm ... Mhm", brummelte dieser anschließend augenrollend.
Na schön, gar nicht theatralisch. Aber so war Anton nun einmal ab und an. Sie verfielen erneut ins Schweigen, während lediglich das Kratzen des Bestecks zu hören war.
"Wirst du mir erzählen, was dich plötzlich so narrisch gemacht hat heute Morgen?", setzte Anton dann an, lehnte sich zurück und schob seine Suppe von sich.
Anscheinend hatte Felix' Verhalten vor einigen Stunden diesem auf den Magen geschlagen. Verzagt fuhr der Jungkünstler sich durch die widerspenstigen Haare.
"Ich - ähm", begann er zögernd, "mir ist einfach alles plötzlich - und - dann- war da Thore, der - ach. Es war einfach, als wäre da zu wenig Luft zum Atmen."
Resigniert schloss Felix kurz die Augen, über sich selbst enttäuscht. Haperte mit allem und jedem, bis er kalte Finger spürte, die die seinen umfassten. Als er die Lider wieder hob, sah er Antons' Hand mit der seinen verschränkt.
"Ich weiß doch, dass du nicht ganz der Typ fürs Rustikale bist, Hascherl", beruhigte ihn Anton mit ruhigem Tonfall und mildem Blick, "genau wie ich weiß, dass ich nicht ganz der Typ für Spa und Schnickschnack bin, den du gern hast. Du magst keine Führungen durch Museen, siehst dir aber gern stundenlang die Bilder in den Galerien an. Ich hasse endloses Bummeln durch winzige Gässchen, könnte aber ewig über die Architektur einer Stadt schwadronieren."
Es war für Felix geradezu spürbar wie sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte, als er so über ihre Unstimmigkeiten aufgeklärt wurde.
"Toll", tat er seinen Unmut kund, "wir passen also nicht zusammen. Das versuche ich dir ja aber schon seit über einem halben Jahr zu verklickern."
Zum Haareraufen, dieser ihn hier auslachende Mann war nervtötend gutmütig, geradezu zum Haareraufen!
"Jeger, du musst es anders sehen", meinte Anton kopfschüttelnd, rutschte leicht auf seinem Stuhl hin und her, um eine kleine samtene, kobaltblaue Schatulle hervorzuziehen, "wir sind zwei Seiten eines Ganzen. Wenn wir zusammen sind, dann ergeben wir ein ziemlich dynamisches Duo."
Im Kopf zählte der junge Maler bis achtzehn, dann griff er mit Fingern nach dem kleinen Gegenstand, die wie Fähnchen im Wind flatterten. So heiß seine Wangen waren, war sein Gesicht sicherlich herrlich rot angelaufen. Nicht neu, war es doch eine altbekannte Reaktion auf Anton, die sein Körper in den unmöglichsten Momenten vollzog.
"Warum schenkst du mir was?", murmelte der Blondschopf verlegen, "du hast doch bald Geburtstag. Ich sollte dir demnächst was schenken. Ich - ich - ich -"
"Mach schon auf, Jeger!", unterbrach Anton ihn lachend.
Das tat er. Ihm stockte der Atem, als er das Amulett erblickte. Es war nicht der Anhänger, den sein Partner damals zu Beginn ihrer Beziehung für ihn gefertigt hatte und doch war er wunderschön. Sanft geschwungene Dornenranken strebten um einen ovalen, silbernen Anhänger, oben thronte eine erblühende Rose. Fein gearbeitet, so viel stand fest.
"Schau rein", forderte diese dunkle Stimme, die ihm immer wieder sein Fels in der alles fortreißenden Brandung war.
Bedächtig, um nichts kaputt zu machen, öffnete Felix den kleinen Verschluss des Amuletts. Zwei Fotos kamen zum Vorschein, trieben ihm beinahe die Tränen in die Augen, ließen ihn hart schlucken. Links das Bild von ihm, als er sein erstes Wandgemälde produzierte, damals noch getrieben von Schuld, Wut und Trauer, gefangen im Strudel um sein Familiendrama. Auf der anderen Seite er und Anton. Sein Partner stand hinter ihm, den Kopf auf seinen Haarschopf gebettet, sie beide blickten in die Kamera. Es war ein Schnappschuss, man sah es daran, dass Felix nicht direkt ins Objektiv sah, sondern knapp daneben, entspannt lächelnd.
"Zwei Seiten eines Ganzen, hm?", flüsterte er ergriffen, schaute zu Anton auf, der die Schultern zuckte, aber ein Schmunzeln nicht verbergen konnte.
"Es ist kein wirklicher Ersatz für die alte Kette und ich habe sie nicht selbstgemacht, aber die Fotos sind von mir", entschuldigte sich der Bildhauer.
Wild schüttelte der jüngere der beiden mit dem Kopf, stand auf und umarmte seinen Partner stürmisch.
"Sie ist wunderschön, Toni", versicherte er ihm inbrünstig, "ich danke dir und ich liebe dich. Es tut mir leid, dass ich dir das viel zu selten sage."
Einige Herzschläge verweilten sie einfach so, mitten im Restaurant. Es war ihnen egal. Dann löste sich Felix von Anton. Er bat den anderen nicht, ihm die Kette umzulegen, das erledigte er selbst. Dann umschloss er seinen neuen Anhänger fest, wie dieser knapp neben seinem Herzen ruhte. Genau dort gehörte er hin.