Tatsächlich wahrte der Frieden die restliche Woche. Trotz heimlicher Zweifel an seinem Partner, schaffte es Felix, Anton zu zeigen, wie sehr er sich um Stabilität bemühte. Nicht nur im Sinne seiner Medikamenteneinnahmen, er zeigte sich auch in seinen Launen deutlich zugänglicher, verschloss sich nicht mehr ausschließlich, wenn Ängste ihn auffraßen, sondern zeigte sich bemüht, den Bildhauer an seinen kreisenden Sorgen und Katastrophenketten teilhaben zu lassen.
So fragil der neue Beziehungsaufbau sich gestaltete, so innig entflammte die Freundschaft zwischen Anton und Thore aufs Neue. Es war für den Künstler im Rückblick kaum noch nachvollziehbar, wie sie sich für so lange Zeit aus den Augen verlieren konnten. Dem blonden Maler fiel es weiterhin schwer, dem Unternehmer gegenüber seine herzliche Seite zu zeigen, aber Anton sah es als Fortschritt, dass sein Partner sich nicht mehr mit einem Weltuntergangsblick die Kopfhörer in die Ohren schob, um sich auf einen verdächtig langen Spaziergang durch die Gässchen Wiens zu begeben.
Felix hatte glatt einen weiteren Schritt gemacht, indem er mit Packen begonnen hatte, wann immer, ihr gemeinsamer Freund - und ja, Anton würde Thore von nun an eisern als solchen bezeichnen, denn nach allem, was dieser für sie getan hatte, war er ihr beider Kumpel, da möge sich sein Liebster noch so auf den Kopf stellen - ihr Heim betrat. Immerhin wanderten nun ab und an die wildesten Klamottenzusammenstellungen in die Reisetaschen, um dann doch wieder aussortiert zu werden, weil dem Herrn Modefanatiker die absurdesten Befürchtungen in den Kopf schossen. Es leuchtete dem Bildhauer nicht ein, wieso man in Venetien plötzlich Schneeschuhe gebrauchen sollte, aber gut, er hatte dort auch keine Wurzeln. Die Thermounterwäsche für Norddeutschland im September fand er dann aber doch etwas übertrieben.
Anton kam nicht umhin, den Verdacht zu hegen, dass Felix ihn mit seinem Übereifer beeindrucken wollte. Beweisen wollte, dass er es tatsächlich schaffte, ein guter und engagierter Partner zu sein, der sich an Absprachen hielt und sich auf den gemeinsam geplanten Urlaub freute. Wie aber sollte der Bildhauer seinem bezaubernden Neurotiker endlich verklickern, wie egal es ihm war, wenn dieser zeterte und mufflig vor sich hin maulte, seine Rituale durchführte, solange es ihm dabei nur gut ging? Er ihn mit in seine Ängste einbezog, anstatt ihn auszuschließen und ihm erlaubte, ihm eine Auszeit zu verordnen, wenn Anton bemerkte, dass Felix sich zu sehr in sich selbst verstrickte? Es blieb dem jungen Aristokraten lediglich, zu hoffen, die neue Medikation in Kombination mit der Therapie, möge seinem Partner Erleichterung verschaffen.
"Du guckst wie sieben Tage Regenwetter. Ich dachte, bei dir und Felix läuft es wieder besser?"
Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, blickte Anton von seiner zweiten Melange auf direkt in Thores besorgtes Gesicht, nachdem sich sein bester Freund die Auslagen an der Kuchentheke besehen hatte. Nachdem Dr. Leuter ihn hatte sprechen wollen, um mit ihm seine Befunde bezüglich der letzten Untersuchungsergebnisse durchzugehen, hatte er sich kurzerhand mit dem Unternehmer in einem der zahlreichen Kaffeehäuser verabredet.
"Ja", gab der Bildhauer zu, "so ist es ja auch."
Die freundlich lächelnde Kellnerin nahm ihre Bestellung auf, die seinen Freund die Stirn runzeln ließ.
"Aber?", ließ Thore ihn nicht einfach davon kommen.
"Nichts 'aber'. Jeger gibt sich wirklich ... Mühe."
Kopfschüttelnd trank der Blondschopf von seinem Cappuccino, während Anton demonstrativ das Treiben auf der Einkaufsstraße verfolgte. Erst, als die Kellnerin beim Abstellen des Macarons kurz seinen Handrücken mit eindeutiger Absicht streifte, wandte der dunkelhaarige Sturkopf seine Aufmerksamkeit zurück auf sein Gegenüber, der von seinem Teller zurück auf das riesige Stück Sachertorte schaute. In sich hineinmurmelnd.
"Ist seine Mühe denn etwas Schlechtes?", nahm Thore schließlich den Fanden wieder auf und stecke sich die Kuchengabel genüsslich in den Mund.
Seufzend knabberte Anton an der Kruste des kunstvoll gefertigten Gebäcks, legte es dann wieder beiseite, nahm stattdessen die Servierte zur Hand, zerrupfte sie langsam in kleine Schnipsel.
"Nein", gab er schließlich zu, "nicht per sé. Aber seine Mühe sollte nicht so - keine Ahnung - so mühevoll sein. Oder? Ich müsste es ihm leichter machen."
"Du gibst ihm doch schon alles, was du hast, Andy. Du musst Felix aber auch endlich mal die Chance lassen, sich dir zu beweisen. Genieß es auch mal, wenn er versucht, dich zu beeindrucken."
Doch genau das fiel ihm so unsagbar schwer, ließ ihn des Nachts nicht schlafen, schürte in Anton die Angst, versagt zu haben, nicht genug gegeben zu haben, zu fordernd oder zu harsch gewesen zu sein.
"Habt ihr schon eine Route geplant?", wechselte Thore wenig elegant das Thema.
Natürlich wusste der Künstler genau, was sein bester Freund bezweckte, denn wie früher, übte dieser sich darin, ihm Zerstreuung in leichten, angenehmen Themen zu schenken, wenn er drohte, trübselig zu versinken.
"Mhm", brummte Anton, "von hier nach Salzburg und Kitzbühel runter nach Italien. Natürlich nach Vicenza, weil Jegers Ahnl dort herkemmt und Verona. Über einen kurzen Weg durch Frankreich nach Deutschland. Dann über Trier, Rothenburg ob der Tauber und Rieden hin in die Heide bis nach Hamburg und Nordfriesland. Zurück über Lübeck, Berlin und Dresden nach Stuttgart zurück nach Wien."
Sein bester Freund schnaufte beeindruckt, als wäre es ein immenses Programm, welches er gerade mit angehört hatte. Sicherlich war das eine straffe Route, nicht zu vergessen, hatten sie aber auch drei Wochen Zeit, um die Stationen zu befahren. Am wichtigsten waren Anton persönlich Felix' Heimat in Norddeutschland, da er wissen wollte, wie sein Partner aufgewachsen war und selbstredend Venetien. Diese Region Italiens verband Felix mit den schönsten Erinnerungen seiner Kindheit, somit war auch für den Bildhauer klar, diese besuchen zu wollen.
"Morgen brecht ihr auf?", hakte Thore nach, bekam ein bestätigendes Nicken, "nehmts mich mit bis Kitzbühel?"
Erstaunt zog Anton die Augenbrauen Richtung Haaransatz. Was zum Henker könnte der junge Unternehmer denn bitte ausgerechnet dort wollen? Sicherlich nicht seine Schwester besuchen, die hasste er nämlich wie die Pest.
"Hat's bei di geschnacklt?", spöttelte der Bildhauer halb ernst, halb belustigt, gönnte er Thore jegliches Glück aus vollem Herzen.
"Ah geh!", echauffierte sich dieser mit feuerroten Wangen, "du bist a oasch."
Breit grinste Anton den andern Mann an, bevor er für sie beide Bezahlte und sich erhob. Thore mochte recht haben, er war ein Mistkerl, doch ein liebenswerter.
Gerade im Begriff, sich seine Übergangsjacke überzustreifen und bereits Richtung Ausgang strebend, packte eine große Hand ihn um die Schulter. Erschrocken fuhr der Bildhauer zusammen, als er in harte wasserblaue Augen blickte, zuckte er beinahe überwältigt vor Thore zurück.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", zischte sein Freund ihm ins Gesicht, nur, um ihn schon fast zum Tisch zurück zu schleifen, "willst mi höscherln, Andy?!"
Anklagend deutete der Zeigefinger auf den einsamen fliederfarbenen Macaron, von dem Anton nicht mehr gekostet hatte, als eine Zungenspitze.
"Ich dachte, Felix hätte dir den Schund ausgetrieben."
Beschämt schlug der Bildhauer die Augen nieder, wollte sich nicht zu den Vorwürfen äußern. Lediglich die Hand wanderte unsicher über seinen über die Monate ausgeprägter gewordenen Bauch.
"Moch kene tanz, Thore", brummelte Anton verschnupft, "ich bin nur auf Diät, ist doch nichts dabei, wenn ich mal wieder etwas auf meine Linie achte."
Schnaufend stütze sein Kumpel die Hände in die Hüften. Die Augen genervt in den Höhlen rollend griff der Bildhauer nach der kleinen Süßspeise und schluckte sie im Ganzen, zwang sie seine Kehle hinunter, bis er zu spüren glaubte, wie sie seinen Magen verklebte.
"Zufrieden?"
Freundlich lächelnd wuschelte der Größere ihm durch die dunklen Haare.
"Du bist gut so, wie du bist. Frag deinen Felix, der wird dir das auch sagen."
Mochte sein, vielleicht sollte er auf die beiden Männer hören, anstatt auf die Stimme in seinem Kopf, die verdächtig nach seiner Mutter klang.