Noch lange lag Anton wach und starrte grübelnd an die mit Stuck verzierte Decke. Tat, als schliefe er selig, nachdem Felix sich schließlich zu später Stunde in die weichen Lacken gesellte, sicherlich froh darum, das Gästezimmer nutzen zu dürfen und eine Nacht der Beengtheit des Wohnmobils zu entfliehen.
Ihm war schlecht. Bei jeder noch so kleinen Bewegung hob sich sein Magen unliebsam, stand kurz davor, ihn aus dem Bett, hin ins angrenzende Luxusbadezimmer zu treiben. Gleichzeitig verriet ihn sein Bauch, der grummelnde Geräusche von sich gab. Wann hatte er zuletzt gegessen? Einige Happen am Abend ihrer Ankunft in Salzburg. Seither hatte Anton sich geschickt um jede Mahlzeit gedrückt, das Hungergefühl mit Literweise Wasser fortgetrunken. Ein Trick, den er schon früh von seiner Mutter gelernt hatte, die ihm immer dann, wenn seine Hand bei zu feierlichen Anlässen ausgestellten Buffets in die Nähe der Leckereien gewandert war, ein Glas in die Finger gedrückt und zu einigen kontrollierten Schlucken aufgefordert hatte.
Wieder dieses in der Stille viel zu laute Knurren. Unwillig strich sich der Bildhauer mit seinen schmerzenden Händen fest über den unerzogenen Körperteil. Wie wabbelig sich sein Bauch anfühlte. Ein Zeichen seiner Schwäche und der fehlenden Disziplin. Zu lange hatte er sich gehen lassen, während er noch versucht hatte, Felix die Stütze zu bieten, die dieser brauchte. Dabei war seine sonst so strikte Kontrolle gebröckelt, hatte er sich erlaubt, einige wundervolle Monate die Fassade niederzureißen, ohne es zu merken, zu jemanden zu werden, der sich anlehnte, indem er dem Jungkünstler gestatte, für ihn zu sorgen.
Ein Fuchs behält immer die Kontrolle! Ein Fuchs gibt niemals die Zügel aus der Hand!
Doch genau das war geschehen. Jetzt musste Anton die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hatte. Oder in seinem Falle, eben genau dies nicht tun. Die Tratschtanten zerrissen sich bereits ihre Schandmäuler über ihn und Felix, weil er es gewagt hatte, entgegen jeden Respekts einen Mann als Partner zu wählen. Entgegen der Don't Ask, Don't Tell-Politik des Wiener Hochadels. Klar, ein Techtelmechtel unter den gleichen Geschlechtern tangierte niemanden großartig, solange man sich eine Dame von gutem Ruf zur Ehefrau nahm. Dazu sein fragwürdiger Beruf als Bildhauer. Nun auch noch erneut sein wiederaufflammendes Gewichtsproblem.
Seufzend quälte Anton sich aus dem Bett und tappste auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer und die lange Wendeltreppe hinunter. Auf halben Wege sank er erschöpft mit dem Hintern auf eine der Stufen hinunter. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Langsam atmete der Bildhauer ein und aus, versuchte das Rauschen in seinen Ohren wieder abzustellen.
"Komm schon, Anton", sprach er sich selbst Mut zu und zog sich am Geländer hinauf, "sehr gut!"
Beinahe schleichend schleppte er sich bis in die Küche, um sich ein Glas Cola einzugießen. Ein wenig Koffein würde ihm sicherlich guttun. Die Kohlensäure ließ ihn sauer aufstoßen und verursachte ihm ein unangenehmes Sodbrennen. Von nun an also doch nur noch stilles Wasser.
"Hey, alles klar bei dir?"
Erschrocken wirbelte Anton herum. Wie ein Geist war Felix hinter ihm aufgetaucht, die dunklen Augen noch vollkommen verschlafen, das sowieso stets unordentliche Haar durch das Herumwälzen hoffnungslos zerzaust. Der Bildhauer fand seinen Partner hinreißend.
"Sicher", antwortete Anton etwas verspätet auf die Frage, "warum?"
"Weil du sonst zuverlässig Wälder niedermähst, anstatt durch die Flure zu schleichen."
"Ich hatte Durst."
"Mhm", machte der Blondschopf mit zusammengezogenen Brauen und verschränkte die Arme vor seinem beneidenswert schmalen Brustkorb. "Dir geht es wirklich gut?"
Irgendetwas in der Tonlage des Malers ließ Anton den Blick senken. Nervös knetete er die Hände ineinander, biss sich auf die Unterlippe.
"Hast du wieder so starke Schmerzen?", wollte Felix wissen.
Da war sie. Die perfekte Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten. Kritisch betrachtete der Bildhauer seine steifen Finger.
"Ja, du hast recht", bestätigte er leise, gab sich Mühe, dabei so viel von der Wahrheit in seine Worte zu verpacken, wie es ihm möglich war, ohne sich dabei zu verraten, "es ist ziemlich schlimm."
Ehe er sich versah fand Anton sich in einer innigen Umarmung wieder. Wie ... ungewöhnlich. Schön und willkommen. Aber doch ungewöhnlich, war es im Regelfall doch der Bildhauer, der den trostspendenden Part übernahm, nicht der Jungkünstler, der hier nun die schlaksigen Arme fest um ihn schlang, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Fast, nur fast, wäre Anton die Wahrheit von den Lippen geperlt. Gerade noch rechtzeitig biss er sich fest auf die Zunge, bis er den metallischen Geschmack von Blut kostete.
"Es ist schön hier oben, nicht?"
Brummelnd stimmte er seinem Partner zu, ließ die Augen dabei aber weiterhin geschlossen, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Während Felix seit geraumer Zeit ans Geländer der Dachterrasse des hiesigen Museums lehnte und den Panoramablick auf sich wirken ließ, hatte Anton es sich nicht nehmen lassen, einen der Liegestühle zu erobern.
Der Tag war anstrengend gewesen. Zunächst waren sie nach einem Familienfrühstück mit den Wolgemuth-Bleibtreus durch die Altstadt gebummelt. Dabei war der junge Maler einem Kaufrausch verfallen, es grenzte an ein Wunder, dass die Boutiquen noch Waren zur Verfügung hatten, nachdem sie jede von ihnen zweimal abgeklappert hatten. Im Anschluss hatte Anton es sich nicht nehmen lassen, Felix in eine Seilbahn zu verfrachten, dessen Gondeln einen gläsernen Boden besaßen. Die glänzenden Augen und begeisterten Ausrufe seines Partners waren die lange Schlange wert gewesen, in der sie hatten ausharren müssen. Schlussendlich hatte sie ihr Weg in das Stadtmuseum geführt, um nicht nur die Geschichte des Wintersports zu bestaunen, sondern vor allem die Gemälde des einheimischen Künstlers Alfons Walde aufs Genaueste zu studieren.
Ein verräterisches Klicken veranlasste Anton, die Lider zu heben. Grinsend stand Felix im schwindenden Licht, der untergehenden Sonne, die Linse der Nikon wanderte gerade wieder vor die schlanke Gestalt des Malers.
"Ach, Hascherl, gib a rua!", beschwert sich der Bildhauer, während seine Ohren ganz heiß wurden.
"Warum denn?", lachte Felix ihn aus, kam zu ihm herüber, um sich dreist auf seinen Schoß zu setzen, "du darfst mich fotografieren, aber ich dich nicht? Dabei sahst du gerade so fesch aus."
Belustigt zog Anton seine gepiercte Augenbraue in die Höhe.
"Fesch, hm?", hakte er spöttelnd nach.
"Ja, ganz genau. So mit der Sonnenbrille auf der Nase, dem rötlichen Glanz in den braunen Haaren, den man nur im Sonnenuntergangslicht wahrnimmt und der knackig engen Jeans."
Das vorab noch anzügliche Grinsen auf Antons Gesicht verblasste etwas bei den letzten Worten seines Partners. Ja, ihm war auch aufgefallen, wie eng seine Hosen noch immer saßen.
Zärtliche Finger wanderten unter den Stoff seines Hemdes, spielten erst mit dem Leder seines Gürtels, um dann warme Haut hinauf zu streichen. Viel zu weiche, untrainierte Haut.
"Ich mache mir Sorgen wegen Sven", presste Anton heraus und erreichte, wie erhofft, ein Innehalten der liebkosenden Streicheleinheiten, "wir müssen gewappnet sein, sollte er wieder auf der Matte stehen. Er wühlt Anders unnötig auf."
Die Finger verschwanden. Der Bildhauer wagte es, seinen Atem auszustoßen und den angestrengt eingezogenen Bauch wieder locker zu lassen.
"Warum kann Thores Schwester sich eigentlich nicht mehr selbst um Anders kümmern?", wollte Felix interessiert wissen, als er sich ein wenig aufsetzte, um Anton besser ins Gesicht sehen zu können.
"Sie leidet an einer psychotischen Störung. Schon seit ihrer späten Jugend hat es immer wieder Phasen gegeben, in denen sie Monate in Kliniken verbracht hat", erklärte der Bildhauer betrübt, zeichnete langsam Kreise auf den bloßen Armen des Jungkünstlers, genoss den Anblick der Gänsehaut, die er herbeizaubern konnte. "Ella hat auch klare Momente. Sie war nicht immer nur eine schlechte Mutter - eigentlich - also - möchte ich ihr das gar nicht unterstellen. Immerhin hat sie verfügt, dass Thore Anders Vormund wird, wenn sie sich nicht mehr um ihn kümmern kann. Aber sie hat es schon so lange laufen lassen, verstehst du?"
Seufzend richtete Anton sich ein wenig auf, sodass Felix notgedrungen von seinem Schoß auf den Liegestuhl verbannt wurde.
"Sie ist mit Anders abgehauen, hat ihre Tabletten nicht mehr genommen. Shit, ich schätze, es ist einfach insgesamt zu viel passiert. Und Auri ist mit Bo schon genug belastet. Es kommt zwar ein ambulanter Pflegedienst, soweit Thore erzählt hat, aber auch das ist nur eine Übergangslösung."
Unruhig geworden, hielt ihn nun nichts mehr auf dem Stuhl. Es brauchte einen zweiten Anlauf, um auf die Beine zu kommen, da ihm kurzzeitig schwarz vor Augen wurde, doch ein unauffälliger Griff nach der Rückenlehne gab ihm genug Stabilisation. Mit geschlossenen Augen ließ sich Anton das erhitzte Gesicht kühlen.
"Können wir Thore irgendwie helfen?", vernahm er Felix Stimme, spürte seine Präsenz nah hinter sich. Dann wanden sich dessen Arme um seine Körpermitte. Erschöpft ließ der Bildhauer es zu, erlaubte sich, einfach die Nähe zu genießen, brauchte die Körperwärme seines Partners gerade dringender, als er bereit war zuzugeben.
"Nur für ihn da sein, wenn er um Hilfe bittet", sagte Anton, "und Sven eine zimmern, wenn er noch einmal auftauchen sollte."
Schnaufend wurde das Amüsement des Jungkünstlers in Antons Nacken gepustet.
"Willst du einige Tage länger zur Unterstützung bleiben?"
Der Bildhauer überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. Thore würde nächste Woche mit Anders nach Wien fahren, wenn der Papierkram geklärt war. Drei Tage Aufenthalt waren in ihrem Plan sowieso vorgesehen. Sollte sich bis dahin nichts ergeben haben, würden sie ihre Reise fortsetzen.