Richtigen Streit hatten Alicia, Tom und ich nur ganz selten. Das lag vielleicht auch daran, dass wir keine echten Geschwister waren. Alicia und Tom hatten ja ihre Eltern und ich meine Mutter. Konkurrenzkämpfe um die Sympathie unserer Eltern waren uns fremd. Damit fehlte bei uns auch ein Konfliktthema, das bei Geschwistern zuweilen eine überragende Rolle annehmen kann. Wir mochten uns und verstanden uns im Großen und Ganzen richtig gut.
Ein Thema gab es aber, da sendeten wir drei als Teenager auf völlig verschiedenen Frequenzen: Und das Thema hieß die große Liebe. Offen redete eigentlich nur Tom über seine Haltung zu Liebe, Sex und Frauen. Tom war in der bevorzugten Lage, alles bekommen zu können, was er wollte. Er sah, das musste ich immer wieder neidisch anerkennen, einfach megagut aus. Tiefblaue Augen, ein blondgelockter Wuschelkopf, groß gewachsen, durchtrainiert, gerne mit einem sympathischen Grinsen im Gesicht, humorvoll, und dazu noch ein kluger Kopf. Er hatte die Gabe, leicht auf Menschen zuzugehen und auch schnell auf sie einzugehen. Kontakte zu knüpfen, war sein Problem nicht.
Im Laufe der letzten Jahre ließ er sich von unzähligen Mädchen anhimmeln. Er verstand es, diesen Startvorteil gnadenlos auszunutzen. Es verging kaum ein Wochenende, an dem er keine neue Beute gemacht hatte. Regelmäßig blieb es beim One-Night-Stand. Die Tage danach rief er einfach nie mehr auf dem Handy zurück. Nach dem Motto: „Abgehakt, weiter geht’s!“
Alicia und ich fragten ihn oft, warum er so ist und ob er sich nicht schämt, so gefühllos mit seinen Bettgenossinnen umzugehen. In der Regel blockte er ab und ließ Sprüche ab wie „Probieren geht über Studieren“, „ich will mich immer noch steigern können“ oder „das Leben ist zu kurz, um nur eine Frau gehabt zu haben.“ Einfach blöde Sprüche, fand ich. Aber darüber mit Tom zu diskutieren, brachte nichts.
Tom hatte ein klares Beuteschema. Mädchen mit Brille waren für ihn tabu. Sie waren für ihn von vorneherein aus dem Rennen. Er bemühte den abgenutzten Spruch von „Mein letzter Wille, eine Frau mit Brille.“ Und Kontaktlinsenträgerinnen schieden für ihn auch aus: „Irgendwann stehen die alle mit einer dicken Brille da, weil sie ihre Linsen nicht mehr in den Augen haben können. Das nervt.“ Argumente wie „coole Mädchen mit Brille können doch auch hübsch und verführerisch sein“, ließ Tom nicht gelten. Seine Haltung mündete stets darin, dass er sagte: „Meine Kinder sollen mal keine Brillen brauchen. Ich brauche nämlich keine. Und ich will nicht, dass die Mutter meiner Kinder ihre Fehlsichtigkeit an meine Kinder vererbt.“
Tom respektierte Alicia gewiss als Quasi-Schwester und als Kumpelin. Als Mädchen schien er sie aber geradezu zu verachten. Seine abfälligen Bemerkungen von wegen „Blindschleiche“, „Brillenmonster“ und „Brillenschlange“ wirkten vordergründig als Neckereien, kamen aber in Wirklichkeit aus den Untiefen von Toms Persönlichkeit: Alicia war für ihn ein geschlechtliches Neutrum, keine eins, sondern eine Null. Zero!
Alicia ließ nie erkennen, ob sie sich von Toms Aussprüchen berührt oder verletzt fühlte. Sie ging einfach nicht darauf ein, höchstens knuffte sie ihn mal zwischen die Rippen. Mehr war da nicht, es schien ihr egal zu sein.
Was sexuelle Beziehungen anging, war die Teenagerin Alicia das krasse Gegenteil zu Tom. Sie war keine Partymaus, die auf Kontakte aus war. Sie zog sich Freitag- und Samstagabend lieber hinter ihre Bildschirme zurück und zockte. Alicia setzte andere Prioritäten. Sexuelle Kontakte gehörten nicht dazu.
Und ich? Ich war, was „die erste Liebe“ anging, ein schüchterner Spätstarter. So hatte ich genug Zeit, um eine ganz besondere Vorliebe zu entwickeln: meine Brillenliebe!