Wir waren froh, nach der langweiligen Einführungsveranstaltung ein paar Schritte an die frische Luft machen zu können. Das Gebäude, in dem sich unsere Tutorengruppe treffen sollte, war in einer Seitenstraße gelegen, wenige hundert Meter vom Aulagebäude entfernt. Wir setzten uns auf die abgewetzten Stühle und an einen noch abgenutzteren Tisch. Die Studentengenerationen, die da schon saßen, waren bestimmt so viele, dass man einen Taschenrechner zum Zählen brauchte.
Acht Studentinnen und Studenten bildeten die Tutorengruppe. Als wir alle Platz genommen hatten, schritt unsere Tutorin in den Raum. „Ich bin die Annette Holzschuh. Sagt bitte Annie zu mir! Ich bin Eure Tutorin, liebe Kommiliton*innen.“ Mitten im Wort hatte sie eine kurze Pause gemacht. Tom stieß mir den Ellbogen in die Seite und flüsterte: „Iiih, die Tusse gendert ja, wie widerlich.“ Tom konnte das Thema Gendern ganz und gar nicht ausstehen. Alicia dagegen war für das Gendern, ich selbst, mir war es egal. Jeder und jede sollten es halten, wie sie wollten, fand ich.
„Ich studiere hier im 7. Semester Jura und habe einen Tutor*innenvertrag mit der Juristischen Fakultät. Ich bin jetzt ab kommenden Freitag jede Woche 90 Minuten für Euch da. Wir können alle Fragen aus den einzelnen Fächern besprechen, die Euch bewegen. Keine Frage ist so blöd, dass sie nicht gestellt werden darf.“
Annie war groß gewachsen, aber furchtbar dünn. Ihre Ärmchen waren dürr und die einzelnen Knochen konnte man hervortreten sehen. Dort wo andere Frauen Rundungen hatten, schien alles platt. Ihre Wangenknochen traten im hohlwangigen Gesicht hervor. Im linken Nasenflügel war sie gepierct und trug einen silbernen Nasenring. Auf der gebogenen Adlernase thronte eine kleine runde Nickelbrille mit starken Gläsern. „Hübsch sieht anders aus“, dachte ich bei mir.
„Nun wollen wir uns einander vorstellen. Ich bitte alle Kommiliton*innen ein paar wenige Sätze zu sich, Namen und so, zu sagen. Fangen wir mit Dir an“, sagte Annie und deutete auf mich. „Dann geht es reihum im Uhrzeigersinn weiter.“
Ich stellte mich kurz vor, erzählte, wo ich herkam, und dass ich gerne Tennis spiele und gut essen gehe. Nach mir war Alicia dran, die bis auf das Tennisspiel das gleiche zu sich sagte wie ich. Der nächste in der Reihe war Tom. Er wiederholte meine Worte, fügte aber hinzu, dass er sich freue, viele Student-innen kennenzulernen. Dabei betonte er die Gender-Pause so extrem, dass nicht verborgen blieb, dass er sich gerade über Annie lustig machte. Typisch Tom halt!
Das nächste Wesen stellte sich als Freifrau Annegret von Buchenhain aus Hamburg vor. „Mein Vati ist ein gefragter Strafverteidiger in Norddeutschland. Ich studiere Jura, weil ich die Kanzlei von ihm übernehmen soll“, fügte sie hinzu. Annegret war höchstens 1,60 m groß und wog schätzungsweise mindestens 80 kg. Sie war mit einem viel zu engen blauen Kostüm und weißer Bluse gekleidet. Es war mir ein Rätsel, wie man sich mit dieser Figur in solche Klamotten zwängen konnte. Sie hatte ein kugelrundes Gesicht, das durch den Mittelscheitel und die in einem Dutt zurückgebundenen Haare noch betont wurde. Und sie trug auf ihrer fleischigen Knollennase eine große runde Hornbrille mit stark vergrößernden Gläsern darin. Dadurch traten ihre Augäpfel in einer Weise hervor, dass man jedes Äderchen erkennen konnte. „Der Traum meiner schlaflosen Nächte sieht mit Gewissheit anders aus“, dachte ich bei mir.
Und schon war die nächste Studienanfängerin an der Reihe. Ich bekam ganz große Augen. „Und ich bin die Yasemin Denizli und komme ursprünglich aus der Türkei. Seit 15 Jahren lebe ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern in Deutschland. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir als einzigem Kind das Abitur und das Studium ermöglicht haben.“ An Yasemin konnte ich mich nicht satt sehen. Sie war einfach nur schön. Wunderschön! Heidi Klum hätte „das Meeedchen“ Yasemin bestimmt ohne weiteres zu Germany‘s Next Topmodel gemacht. Ihre pechschwarzen Haare und Augenbrauen machten einen absolut gepflegten Eindruck. Ihre Haut hatte einen makellosen braunen Teint. Und sie war topchic mit einem grünen Kleid bekleidet, das ihre Modelfigur betonte. Aber das Sahnehäubchen war: Sie trug eine Brille. Das eher rechteckige rötlich schimmernde Metallgestell mit Doppelsteg verlieh Yasemin einen dynamisch-frechen Gesichtsausdruck. Die großen Gläser machten keinen starken Eindruck. Doch klar war mir sofort: „Diese junge Frau musst Du näher kennenlernen!“
Ich war in Gedanken und mit meinen Augen noch immer bei Yasemin, als die nächste in der Reihe sich vorstellte; „Und ich hei-tss-e Paula Burghofer und komme au-tss Me-tss kirch im Landkrei-tss Tss-igmaringen. Mein Hobby i-tss-t die Natur. Ich bin schwerhörig und habe Diabete-tss.“ „Aua“, war mein erster Gedanke, „das ist ja ziemlich heftig für eine 18-jährige!“ Dann schaute ich zu ihr hinüber. Ich sah rot! Paula war rothaarig. Die rostroten Haare waren kurz auf Streichholzlänge geschnitten und nach hinten gebürstet. Sie hatte einen hellen Teint, rotblonde Augenbrauen und fast weiße Wimpern. Ihr Gesicht war übersät von lustigen Sommersprossen. Paula schaute mit ganz leicht zugekniffenen stahlblauen Augen zu mir und hatte ein Lächeln im Gesicht. Dabei blitzten ihre durch zwei Zahnspangen oben und unten verdeckten Zähne kurz auf. Das war wahrscheinlich auch die Ursache für ihr ausgeprägtes Lispeln, wenn sie sprach. An ihren Ohrmuscheln erkannte ich zwei eher zierliche pinkfarbene Hörgeräte. Tom flüsterte mir zu: „So jung und schon ein ziemliches Wrack!“ Dann sah ich ihre Brüste, die auf der Tischkante auflagen. Paula schien nicht dick zu sein, aber ihre Oberweite war definitiv zu groß für den Rest des Mädchens. Meine Mutter hatte Körbchengröße 90E. „Könnte hinkommen“, dachte ich bei mir.
Zum Schluss gab es noch zwei Jungs, die sich als Jan und Simon vorstellten. Doch da war ich in Gedanken schon längst wieder zu Yasemin zurückgekehrt.