Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal die Tränen in die Augen geschossen waren. Doch jetzt musste ich weinen. Meine Gefühle übermannten mich.
Die elf eng beschriebenen Seiten des Briefes bewegten mich tief. Die detaillierten Schilderungen des jahrelangen Mobbings gegen Paula gingen mir nahe. Sie lösten ein tief empfundenes Mitgefühl bei mir aus. Ich hasste alle diese Menschen, die der so liebenswerten Paula so viel Leid zugefügt hatten. Sie hatten ihr das Leben, das ohnehin durch ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen gezeichnet war, unerträglich gemacht.
Ich begann zu begreifen, was es für Paula bedeutet hatte, mich zu Beginn ihres Studiums kennenzulernen und zu mir Vertrauen und Freundschaft aufbauen zu können. Ich kam mir plötzlich gemein vor, dass ich vor der geplanten Augen-OP unsere Beziehung so jäh abgebrochen hatte und mich in Alicias offene Arme warf. Hätte ich den Inhalt dieses Briefes in seinen Einzelheiten schon damals gekannt, hätte ich Paula viel besser verstanden. Ich hätte mich, mit dem Wissen von heute, von Alicia und Tom wahrscheinlich nicht davon abbringen lassen, mein Opfer für Paulas Glück zu bringen.
Ich nahm den Briefumschlag zur Hand und entdeckte das von Paula angesprochene Foto darin. Ich zog das Foto heraus und betrachtete es eingehend. Es war eine Porträtaufnahme von Paula.
Als erstes fiel mein Blick auf ihre blauen Augen hinter ihrer Brille. Das Brillengestell bildete einen Rahmen um ihre Augen mit den blassroten Wimpern. Und die Brillengläser vor den Augen kamen mir vor wie ein vorhangloses Fenster zu Paulas Seele.
Paula hatte am Ende des Briefes nicht zu viel versprochen. Ihr Blick auf dem Foto sagte alles: Sehnsucht, Liebe, Neugier, Zuversicht und Lust. Paulas Bild löste beim Betrachten einen prickelnden Zauber auf mich aus. Ich war fasziniert. Alle Gefühle, die ich in unserer glücklichen gemeinsamen Zeit in Tübingen empfunden hatte, waren auf einmal wieder völlig präsent.
Paulas Antlitz zog mich magisch an. Ihre kurz geschnittene rote Mähne strahlte Feuer aus. Ihr Gesicht mit den unzähligen lustigen Sommersprossen fand ich einzigartig hübsch. Ihr Zahnspangenlächeln überwältigte mich. Ihre geschwungenen Lippen luden zum Küssen ein. Ihre pinkfarbenen Hörgeräte störten nicht, denn sie schmückten ihre Ohren. Ihre Brüste strotzten nur so vor Weiblichkeit. Und zu guter letzt: Auf ihrer Nase thronte die Brille, das "Sahnehäubchen", das ich mir ihr gemeinsam beim Optiker ausgesucht hatte.
Ja, ich liebte so sehr, was ich auf dem Foto sah: Mein für mich vollkommenes Brillenmädchen Paula!
Paula hatte in ihrer Jugend tiefe Wunden in ihrer Seele zugefügt bekommen. Ich hatte nur noch einen Wunsch: Ich möchte Paulas Wunden heilen, ich möchte sie beschützen und ich möchte sie endlich zu einer glücklichen jungen Frau machen.
So schnell wie möglich müsste ich Alicia sagen, dass es um mich geschehen ist und ich Paula so sehr liebe. Ich hoffte, Alicia würde mich verstehen. Ich würde die bebrillte Alicia weiter lieben wollen, aber als meine beste Kumpelschwester, nicht als meine Partnerin und Lebensgefährtin. Und ich war sehr sicher, dass Alicia loslassen könnte und meinem Glück mit Paula nicht im Wege stehen würde.
Nun musste ich aber erst einmal die wichtigste WhatsApp meines Lebens schreiben:
Paula, Du bist mein Glück! Ich liebe Dich unsterblich! Ich will immer für Dich da sein! Vergiss alles, was gewesen ist! Lass uns zu zweit die Welt erobern!
Kurze Zeit später antwortete Paula:
Marcus, Du bist unbeschreiblich lieb! Du wirst es nicht bereuen. Und mache Dir keinen Kopf wegen Alicia! Mit ihr habe ich längst gesprochen. Sie ist einverstanden, dass wir wieder zusammenkommen. Und sie will unser gemeinsames Glück vollendet sehen. Sie wird auch Deine treue Freundin bleiben.