Alicia holte mich nach wenigen Sekunden ins reale Leben zurück. Sie hatte beide Hände um meinen Kopf gelegt. Dann spürte ich ihre Lippen auf meinem Mund. Sie berührten mich nur ganz sanft und zart, wie ein Hauch.
Doch die Wirkung des nur angedeuteten Kusses war extrem. Denn er traf mich im Moment meiner größten und explosivsten emotionalen Erregung. Ich begann zu zittern, am ganzen Körper. Mich durchströmte eine Welle von Glücksgefühl. Meine ganze Anspannung begann sich zu lösen. Ich ließ mich fallen. Ich wusste, Alicia ist da und fängt mich auf, was auch immer gerade mit mir geschehen möge.
„Ich weiß sehr genau, wie Du Dich gerade fühlst“, flüsterte Alicia. Dann berührte sie meine Lippen wieder ganz sanft mit ihrem Mund. Mein Zittern wurde wieder stärker.
„Dein Herz und Dein Verstand fahren gerade Achterbahn.“ Alicia küsste mich erneut sachte auf den Mund. „Aber Du brauchst keine Angst haben. Lasse Dich einfach und ohne jede Hemmung auf Deine Dich noch verwirrenden Gefühle ein! Vertraue mir! Ich bin bei Dir! Und ich sorge dafür, dass alles gut wird.“
Ich öffnete meine Augen wieder und sah Alicia an. Ihre dunklen Äuglein hinter den dicken Brillengläsern funkelten noch immer so warm und fröhlich wie zuvor an der Haustüre. Ich liebte diese Augen, so wie ich das ganze Mädchen Alicia von ganzem Herzen liebte.
Alicia löste ihre Hände wieder von meinem Kopf und setzte sich aufrecht vor mich.
„Heute ist der richtige Tag, dass ich Dir etwas erzähle, was ich bisher aus bestimmten Gründen vor Dir verbergen musste. In meiner Erzählung wirst Du sicherlich auch viele Antworten auf Deine Fragen finden, die gerade durch Deinen Kopf schwirren.“ Alicia machte eine kurze Pause, um ihre dunkelrandige Brille auf der Nase zurechtzurücken.
„Du wirst Dich wundern, warum ich über Paulas Brief und Euren liebevollen Austausch darüber so genau Bescheid weiß“, setzte Alicia fort. „Paula und ich sind seit mehreren Monaten eng miteinander verbunden. Ich weiß daher alles über Paula und auch alles über Euch beide, lieber Marcus.“
„Davon hast Du mir nie erzählt“, entgegnete ich sichtlich verärgert. „Wie kam denn Dein offenbar enger Kontakt zu Paula überhaupt zustande? Ich verstehe das nicht. Seitdem ich mit ihr Schluss gemacht hatte und wir zwei, Du und ich, so eng zusammen waren, da war Paula wie vom Erdboden verschluckt. Seit ihrem Brief weiß ich nun, dass sie damals unmittelbar Tübingen verlassen hatte und nach Konstanz zum Studieren gegangen ist.“
Mir kamen plötzlich Zweifel, ob ich Alicia wirklich noch vertrauen konnte. Was steckte dahinter, dass sie ganz offensichtlich hinter meinem Rücken, ganz ohne mein Wissen, mit meiner über Monate verschwundenen Ex- und Wieder-Freundin Paula herumgekungelt hatte? Ich musste Alicia zur Rede stellen.
„Alicia, ich finde das nicht okay,“ sagte ich mit erhobener Stimme. „Ich habe Dir immer vertraut und würde es auch gerne künftig tun. Aber über Dinge, die vor allem mich betreffen, hinter meinem Rücken Gespräche zu führen und irgendwelche Verabredungen zu treffen, das kann ich nicht gut finden.“
„Reg Dich nicht auf“, erwiderte Alicia. „Es hat sich nun mal so ergeben, dass Paula und ich eine ganz besondere Beziehung zueinander aufgebaut haben. Und ich will es so formulieren: Seit drei Monaten sind Paula und ich jetzt ein Duo, das sich richtig doll liebhat. Paula und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Und wir haben einen gemeinsamen Plan, was Dich angeht.“
„Und ob ich mich aufrege!“ Ich fühlte mich, als ob eine Achterbahn mit mir im Looping hängengeblieben wäre. Was war bloß los? Nichts passte für mich mehr zusammen. Paula und Alicia machten mich glücklich und wahnsinnig zugleich. Was hatten die beiden Frauen mit mir vor? Was war der Plan?
„Alicia, Du erklärst mir jetzt sofort, was das alles soll. Vor zehn Minuten kommst Du hier herein, schmust mit mir herum und flüsterst mir etwas von Liebe ins Ohr, als ob nichts geschehen wäre. Du weißt aber gleichzeitig, dass Paula und ich uns wieder liebhaben. Und jetzt behauptest Du auch noch, Du seist mit Paula so was wie ein Duo. Sind denn alle völlig irre geworden?“
„Ich sage noch einmal: Rege Dich nicht auf!“ Alicia redete jetzt sehr energisch. „Wenn Du mir einfach mal zuhören würdest, dann wüsstest Du innerhalb der nächsten halben Stunde, was wirklich los ist. Bis dahin bleib jetzt mal ganz ruhig und gelassen!“
Ich resignierte für den Moment und sagte: „Also los! Ich höre!“