In meinen Vorstellungen hatte ich immer gewünscht, einmal mit einem Mädchen zusammen zu sein, das eine Brille trägt. Ich hatte mir ausgemalt, wie es sein würde, mit ihr zu kuscheln, sie zu küssen, in ihren Armen zu liegen und mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben.
Und nun hatte ich Paula. Sie hatte einfach die Initiative ergriffen. Sie war es, die mich angesprochen hatte. Unser erstes Date ging auf sie zurück. Als erste hatte sie mich an die Hand genommen und damit ihre Zuneigung signalisiert. Sie hatte beim Küssen schnell die Führung übernommen.
Jetzt fehlte nur noch der Höhepunkt, unser erstes Mal gemeinsam im Bett. Es wäre mein erstes Mal überhaupt. Ich hatte Respekt, auch etwas Angst davor. Aber ich wollte es - unbedingt. Ich freute mich darauf. Und jetzt war ich so nah dran. Aber Paula spannte mich noch auf die Folter. Es schien mir, sie wollte mich noch weiter prüfen, bevor sie sich mir hingeben sollte.
Ich war entschlossen, Paulas Prüfung zu bestehen. Paula hatte mich in ihren Bann gezogen. Sie vermittelte mir das Verständnis für das Jurastudium, denn sie war intelligent und begriff schnell. Sie entführte mich in die Schönheit der Natur mit allen Facetten der Pflanzen- und Tierwelt, weil sie sich dafür so sehr begeistern konnte. Sie war so zartfühlend, wenn es darum ging, meine Launen zu ertragen. Sie war so besonders, was ihr Äußeres anging, denn für mich war das vermeintliche Montagsauto einfach schön. Als Sahnehäubchen trug sie zu all meinem Glück jetzt auch noch ihre neue Brille.
Mit diesen Gedanken im Kopf machte ich mich am folgenden Samstagmorgen auf den Weg nach Tübingen. Paula hatte mich eingeladen, an diesem Tag zu ihr in ihr Studentenappartement zu kommen. Sie sagte, sie wolle mit mir ihren Deal einlösen. Ich konnte es nicht erwarten, an Paulas Wohnungstür zu klingeln und sie zu treffen.
Mein Rotfuchs öffnete mir die Tür. Sie war mit einem weißen Poloshirt und einer weißen kurzen Sporthose bekleidet. In dem engen Shirt wirkten Paulas Brüste noch üppiger als sonst. Paula strahlte mich mit ihren bebrillten Augen an.
„Paulchen ist der Hammer! Sie sieht einfach toll aus, mit ihren roten Haaren, den Sommersprossen, den blauen Augen und ihren pinkfarbenen Schmuckstücken auf der Nase und hinter den Ohren. Und erst ihr Zahnspangenlächeln!“, dachte ich bei mir, als ich in das Appartement eintrat.
Ich küsste Paula auf ihre weichen Lippen und sagte: „Du siehst wunderbar aus! Mein Rotfuchs trägt ihre Brille. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass Du das für mich tust. Ich habe Dich lieb!“
Ein wunderbares Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Diesem außergewöhnlichen Rotschopf wollte ich folgen, bis an das Ende der Welt.
Ich trat in Paulas Zimmer ein und sah mich um. Ich war ja so neugierig, was Paula mit mir vorhatte und worin der Deal bestehen würde.
Ich sah ein kleines Päckchen auf Paulas Schreibtisch liegen. Paula bemerkte meinen Blick und sagte: „La-tss un-tss nun tss-ur Tss-ache kommen. In dem Päckchen i-tss-t ein Geschenk für Dich. Der Gegenstand, von dem ich gesprochen habe, und den Du für mich tragen soll-tss-t.“
Paula gab mir das Päckchen in die Hand. Ich war gespannt, was ich gleich auspacken würde. Der Karton war leicht zu öffnen und es kam zum Vorschein: ein rotes Brillenetui!
Ich öffnete das Etui. Darin lag eine große viereckig geformte bräunlich gemusterte Hornbrille. Ich nahm sie aus dem Etui und stellte fest, dass sie sehr schwer war. Sie kam mir weit schwerer vor als die erste Brille von Alicia, die ich vor Jahren in den Händen gehalten hatte. Das Gewicht war offensichtlich auf die dicken, stark geschliffenen Gläser zurückzuführen.
„Ist die für mich?“, fragte ich Paula etwas ungläubig. „Na klar“, erwiderte Paula, „die tss-oll-tss-t Du künftig immer tragen.“
„Ich brauche aber keine Brille“, protestierte ich. „Der Sehtest hat mir bescheinigt, dass ich gut sehe.“ Ich verstand nicht, wie Paula auf die Idee gekommen sein sollte, dass ich eine Brille bräuchte. Ich war glücklich, ohne Brille gut sehen zu können. So sehr ich Mädchen mit Brillen schätzte, so sehr lehnte ich es stets für mich selbst ab. Ich wollte keinen Gegenstand im Gesicht spüren müssen.
„Ich werde Dir gleich erklären, warum Du die Brille brauchen wir-tss-t. Aber je-tss-t tss-et-tss-e tss-ie er-tss-t einmal auf. Ich möchte wi-tss-en, wie gut Du damit au-tss-tss-ieh-tss-t“, forderte mich Paula auf.
Ich setzte mir die Brille auf. Das Gefühl hatte ich ja überhaupt erst einmal mit Alicias Brille gehabt. Sie drückte schwer auf die Nase und an den Schläfen. Auf Dauer wollte ich das nicht spüren müssen.
„Wow, genau-tss-o habe ich mir da-tss vorgestellt“, stellte Paula fest. „Du schau-tss-st umwerfend au-tss.“
Ich wollte Paula verärgert anschauen, doch ich sah – nichts! Alles war völlig verschwommen, wie ein undurchsichtiger breiiger Nebel. „Ich sehe nichts“, rief ich zornig.
„Da-tss kann ich mir denken. Die Glä-tss-er tss-ind tss-iemlich stark. Aber bald werden tss-ie Dir pa-tss-en“, stellte Paula mir in Aussicht. „Ich mach ein Bild, dann kann-tss-t Du Dich mit Brille tss-ehen.“
Paula machte ein Foto mit ihrem Handy. Ich nahm die Brille wieder ab. Schon von den wenigen Momenten hatte ich Kopfschmerzen bekommen. Paula zeigte mir das Foto. Ich erkannte mich kaum wieder. Mein Gesicht war durch die dicke Hornbrille völlig verändert. Ich sah mindestens zehn Jahre älter aus. Denn solche Brillen trugen vor allem Businessmänner in ihren besten Jahren. Aber so schlecht wie immer befürchtet sah die Brille an mir auch nicht aus. Ich wirkte irgendwie seriös.
„Und warum willst Du, dass ich die Brille trage?“, fragte ich Paula. Ich konnte mir noch immer keinen Reim darauf machen, was sie mit mir vorhatte.
„Da-tss i-tss- tss-o“, holte Paula aus. „Wenn Du mein Freund tss-ein will-tss-t, dann mu-tss-t Du mit mir tss-olidarisch tss-ein. Zwischen un-tss tss-ind die La-tss-ten völlig ungleich verteilt. Ich habe lauter Macken, und Du bi-tss-t völlig makello-tss. Da-tss i-tss-t ungerecht. Wenig-tss-en-tss eine tss-ichtbare Macke mu-tss-t Du auch haben, wenn Du mit mir tss-u-tss-ammen tss-ein will-tss-t. Mit der dicken Brille auf der Na-tss-e wir-tss-t Du Dich immer in mich hineinver-tss-et-tss-en können. Dann pa-tss-en wir er-tss-t richtig tss-ueinander. Geteilte-tss Leid i-tss-t halbe-tss Leid!“
„Ich versuche Dich zu verstehen“, sagte ich. „Aber wie soll das funktionieren, wenn ich durch die Brille nichts sehen kann?“ „Die Frage habe ich erwartet“, antwortete Paula. „Mein Cou-tss-in ist Ar-tss-t in einem Augen-tss-entrum in Tuttlingen. Ich habe bei ihm einen Termin für kommenden Tss-am-tss-tag gemacht. Er wird Dir erklären, wie da-tss funktioniert.“
Hand in Hand schlenderten wir noch eine Weile durch die Tübinger Innenstadt. Ich war schweigsam. Ich musste alles erst verstehen und die Erfahrungen dieses Tages verarbeiten. Bald verabschiedete ich mich von Paula und fuhr nach Hause nach Reutlingen.