„Es war gegen Abend, als ich am nächsten Tag bei Paula in ihrer Studentenbude auftauchte“, fuhr Alicia fort. „Paula saß buchstäblich auf gepackten Koffern. Überall standen Kisten herum. Das gemachte Bett wies aber darauf hin, dass Paula das Zimmer noch bewohnte. Ich war gespannt, was Paula mir zu erzählen hatte und wie ich ihr helfen könnte.“
Alicia machte eine Pause beim Sprechen. Sie schaute mich mit ihren dunklen Augen durch ihre Brillengläser durchdringend an. Gleichzeitig schien sie nach Worten zu suchen. Die Spannung war für mich schwer auszuhalten. „Los, erzähl weiter! Ich will alles wissen. Du hast mir lange genug verheimlicht, dass Du mit Paula rumgemacht hast“, sagte ich ungeduldig.
Alicia antwortete: „Was heißt hier rumgemacht? Ich habe Dir ja noch gar nicht erzählt, was passiert ist. Aber Du hast schon Recht. Rumgemacht ist kein schlechter Ausdruck für das, was an diesem Abend noch geschah.“
Nach einer kurzen Unterbrechung redete Alicia weiter: „Doch eins nach dem anderen: Paula bedankte sich für mein Kommen und sagte, es sei lebenswichtig für sie, heute Abend mit mir reden zu können. Sie wisse nicht mehr weiter. Und es sei eine lange Geschichte, in die sie mich jetzt einweihen wolle. Und dann legte sie los und erzählte mir ihre ganze Lebensgeschichte, die von gesundheitlichen Rückschlägen und fortgesetztem Mobbing gegen sie geprägt war. Die Einzelheiten brauche ich hier nicht wiederholen, die kennst Du ja aus Paulas langem Brief an Dich.“
Ja, wirklich, die Geschichte Paulas kannte ich seit kurzem auch in allen ihren traurigen Einzelheiten, und sie hatte mich tief berührt. Paulas erlittene Leiden hatten meine Liebe zu ihr wieder angefacht. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ich Paula mit meiner Flucht in Alicias offene Arme eine weitere tiefe Wunde zugefügt hatte. Verdammt noch mal, dieses Mädchen Paula war es wert, Liebe zu erfahren, so wie es ist. Und zwar Liebe durch mich!
„Bitte erzähle weiter! Ich will alle die bedrückenden Details nicht noch einmal hören. Die Ausführungen in Paulas Brief waren schockierend genug“, forderte ich Alicia auf, ihren Bericht fortzusetzen.
„Paula schloss damit, wie enttäuschend es für sie war, dass Du den Deal mit ihr aufgekündigt und sie abserviert hattest. Sie hatte immer gehofft, Dir voll und ganz trauen zu können. Doch durch Deine plötzliche Weigerung, den Eingriff an den Augen vornehmen zu lassen, wärest Du ihr Deinen Vertrauensbeweis schuldig geblieben. Und dazu noch seist Du ohne Vorwarnung einfach so zu mir übergelaufen, was sie maßlos verletzt habe. Dann brach Paula erneut in bitterliche Tränen aus.“
Ich sah Alicia an, dass sie diese Situation mit Paula berührt haben musste. Alicia biss sich auf ihre Unterlippe, bevor sie weitersprach.
„Ja, und dann hatte ich das plötzliche Bedürfnis, die weinende Paula in den Arm zu nehmen und fest an mich zu drücken. Ich legte meine Arme um sie. Paula wiederum begann, sich an mich zu klammern. Sie schluchzte weiter. Wir sprachen Minuten lang kein Wort. Wir spürten beide nur die Wärme unserer Körper, die sich gegenseitig festhielten. Ich versuchte, durch die Umarmung meine positive Energie auf die völlig verstörte Paula zu übertragen. Paula schien meine körperliche und auch psychische Nähe zu schätzen. Denn sie presste ihren Körper nach und nach noch intensiver an mich.“
Alicia seufzte tief. „Und, lieber Marcus, ich begann das Gefühl mit Paula in den Armen zu genießen. Ich spürte ihre großen weichen Brüste, ihr Becken und ihre Hände an meinen Schulterblättern. Ich mochte ihre Weiblichkeit, die sie ausstrahlte. Und ich hatte das unbändige Verlangen, diesem so liebenswerten Mädchen Paula in ihrer verzweifelten Lage zu helfen und sie zu einem wieder glücklicheren Menschen zu machen.“
Alicia zog hörbar den Atem durch ihre Nase. „Nachdem Paula sich etwas beruhigt hatte, lösten wir unsere Umarmung wieder. Ich hielt aber weiter Paulas rechte Hand. Paula erklärte mir dann, dass sie inzwischen begriffen habe, dass sie Dir zu viel zugemutet habe und sich daher die Schuld am Scheitern Eurer Beziehung gebe. Und von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde vermisse sie Dich mehr. Sie wolle und könne ohne Dich nicht leben. Du seist derjenige Mann, der ihr zum ersten Mal im Leben das Gefühl gegeben habe, mit all dem, was sie an sich und in sich hat, akzeptiert und wertgeschätzt zu werden. Einen solchen Menschen könne sie nicht einfach so hergeben. Sie müsse Dich unter allen Umständen zurückgewinnen. Und der Schlüssel dazu sei ich, Alicia. Ich müsse Dich, Marcus, für sie wieder frei geben. Dann werde es schon wieder klappen mit Euch zwei. Davon sei sie fest überzeugt.“
Ich kann nicht leugnen, dass mir diese Erzählung über Paulas Einstellung zu mir runter ging wie Öl. Ich fühlte mich als Paulas kleiner Held. Doch was mich jetzt noch mehr beschäftigte und worauf ich unbändig neugierig war: Wie hatte Alicia auf Paulas Ansinnen reagiert?