„Es begann alles etwa vor einem halben Jahr, nur wenige Tage, nachdem Du mit Paula Schluss gemacht hattest und wir beide das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Ich traf Paula zufällig samstags auf dem Marktplatz beim Wochenmarkt. Sie kam auf mich zu und sagte, das sei ja ein glücklicher Zufall, mich zu treffen, denn sie müsse dringend mit mir reden.“ Alicia hielt kurz inne und schob ihre Brille die Nasenwurzel hoch.
„Wir gingen zusammen einen Kaffee trinken. Paula fragte mich, ob ich jetzt mit Dir zusammen sei. Sie habe uns Hand in Hand über das Unigelände schlendern sehen. Daraufhin erzählte ich ihr, dass ich schon länger in Dich verliebt sei und Du seit klein auf der wichtigste Mensch in meinem Leben seist. Ich sei sehr glücklich, dass Du Dich jetzt offenbar für mich entschieden und mit ihr Schluss gemacht hättest. Ich hätte deswegen auch kein schlechtes Gewissen, denn ihr Verlangen, dass Du ihr zuliebe Deine Sehkraft drastisch verschlechtern solltest, sei völlig daneben gewesen. So sei sie selbst schuld, dass es jetzt so gekommen sei und ich meine Chance genutzt hätte.“
Alicia zögerte kurz. Dann sprach sie weiter: „Auf meine für sie harten Worte hin brach Paula in Tränen aus und fing an laut zu weinen. Die Menschen im Café drehten sich zu uns um. Paula bebte am ganzen Leib. Sie presste hervor, sie hasse sich selbst. Sie habe alles falsch gemacht. Sie liebe Dich so sehr wie noch nie einen Menschen in ihrem Leben. Du habest ihrem traurigen Dasein einen neuen Sinn gegeben und sie zum ersten Mal im Leben richtig glücklich gemacht. Dich womöglich für immer verloren zu haben, sei eine Tragödie für sie. Mit der geplanten Augen-OP habe sie doch nur die Verbindung zwischen Euch vertiefen wollen. Aber das hättest Du wohl nicht wirklich verstanden."
„Ich habe das schon verstanden“, unterbrach ich Alicias Erzählung. „Paula wollte, dass ich mich in sie hineinversetzen kann. Dass ich so fühle, wie sie es mit ihren verschiedenen körperlichen Beeinträchtigungen jeden Tag auch tut. Sie wollte nicht ertragen, dass ich neben ihr völlig makellos erscheinen könnte. Ich sollte mit ihr solidarisch sein. Aber ehrlich – ich bin so froh, dass Du mich damals rechtzeitig aus dieser psychischen Umklammerung durch Paula befreit hast.“
„Paula sagte auch, dass das mit der künstlich erzeugten starken Kurzsichtigkeit für Dich doch gar nicht schlimm gewesen wäre“, fuhr Alicia fort. „Denn mit Brille hättest Du nach der OP genauso gut sehen können wie vorher. Und gar nicht verstehen wollte Paula, dass Du das Tragen einer Brille ablehnen würdest, wo Du doch bei Mädchen einen so ausgeprägten Brillenfetisch hättest. Deine Brillenliebe sei irgendwie in sich widersprüchlich.“
Ich fühlte mich ertappt. Da war tatsächlich ein Widerspruch in meinem Denken und Fühlen. Ich gefiel mir ohne Brille am besten – und Mädchen gefielen mir mit Brille am besten. So war das einfach. Hätte ich aber eine Brille gebraucht, hätte ich sie wohl oder übel auch getragen, da war ich mir sicher.
Alicia bemerkte, dass diese Gedanken in mir arbeiteten. „Ich glaube schon, dass Paula da nicht ganz Unrecht hat, lieber Marcus. Stimmt’s? Paula jedenfalls fühlte sich von Dir verraten, dass sie Dir zuliebe zur Brillenträgerin wurde, Du aber Deinen Teil des Deals verweigert hattest. Allerdings gab Paula zu, dass Du mit Deinem Drängen Recht gehabt hättest, denn mit Brille sehe sie tatsächlich so viel besser als ohne. Und inzwischen finde sie selbst ihr Gesicht auch mit Brille ganz ansehnlich.“
„Ganz ansehnlich ist aber ziemlich untertrieben. Ich finde, dass Paula mit Brille noch attraktiver und richtig sexy aussieht“, machte ich aus meiner Sicht der Dinge keinen Hehl.
Alicia lachte: „Schon klar, Marcus. Ich weiß, dass Du auf das Brillenmädchen Paula stehst. Und stell Dir vor: Ich kann das voll und ganz verstehen. Auch aus meiner Sicht ist Paula, so wie sie ist, völlig unwiderstehlich.“
Ich grinste zufrieden. Ich fand es schön, mit Alicia einer Meinung zu sein. Aber was Alicias Worte tatsächlich bedeuten sollten, darüber wollte ich erst noch einmal nachdenken.
„Dann trank Paula ihren Kaffee aus“, erzählte Alicia, „und sagte, dass sie in einigen Tagen nach Konstanz zum Studieren umziehe. Vorher wolle sie sich aber gerne noch mit mir bei sich zuhause treffen, denn sie habe das dringende Bedürfnis, mit mir noch ausführlicher zu reden. Sie brauche meine Hilfe. Sie fragte mich, ob ich am nächsten Abend zu ihr in ihre Studentenbude kommen könne, was ich gerne zusagte. Ich ahnte in diesem Moment noch nicht, welche Wende mein Leben an diesem Abend nehmen sollte.“
In mir stieg leichter Ärger auf. Von diesen Begegnungen mit Paula hatte mir Alicia nie etwas erzählt. Hatte sie etwas vor mir zu verheimlichen? Welches beeindruckende Ereignis war Alicia widerfahren, über das sie Monate lang nicht mit mir geredet hatte? Ich war ratlos und neugierig zugleich.