Paulas Forderung, künftig eine Brille zu tragen, bereitete mir heftiges Unbehagen. Zum einen war mir nicht klar, was der Arzt für eine Idee haben könnte, damit ich durch die starken Brillengläser etwas erkennen würde. Zum anderen haderte ich mit der Vorstellung, ständig ein störendes Gestell auf der Nase sitzen zu haben.
Mir wurde erneut klar, dass ich eine ambivalente, ja eine widersprüchliche Haltung zu Brillen hatte. Bei Mädchen unbedingt, bei mir keinesfalls. Das passte eigentlich nicht zusammen. Ich wollte für mich persönlich mein passables Aussehen nicht durch einen Gegenstand wie eine Brille definieren müssen. Ich wollte gefallen, wie mich die Natur geschaffen hatte. Aber bei den Mädchen war es anders: Bei ihnen wünschte ich mir, dass sie sich für ihr gutes Aussehen eines Hilfsmittels, nämlich einer chicen Brille, bedienen mussten.
Vielleicht hatte Paula doch Recht, wenn sie mir vorhielt, dass ich unsolidarisch sei, wenn ich meine Makellosigkeit zur Schau stellen wollte und die Fehler bei der Partnerin damit umso mehr zur Geltung kämen.
Gerne wäre ich Paula ein fairer Partner auf Augenhöhe. Das wäre eine Basis für gegenseitiges Vertrauen und eine stabile Partnerschaft. Ich müsste nur meine widersprüchliche Abneigung gegen eine Brille bei mir ablegen.
Hinzu kam: Ich hatte mit Paula einen Deal vereinbart. Der Deal schien die letzte Hürde für die Vollendung unserer Partnerschaft zu sein. Endlich wollte ich mit Paula auch richtigen Sex haben.
Ich schrieb eine WhatsApp an Paula: Ich hole Dich Samstagfrüh in Tübingen ab und wir fahren zu Deinem Cousin. Der Deal gilt!
Paula antwortete: Gut so! Du wirst es nicht bereuen!
Am folgenden Samstag erreichten wir nach gut einstündiger Fahrt Tuttlingen und betraten das Augenzentrum, in dem Paulas Cousin arbeitete.
Der junge Arzt öffnete uns selbst die Türe. „Mein Name ist Gaston Kubik. Wie Sie wissen, bin ich Paulas Cousin. Eigentlich ist heute geschlossen. Aber so können wir ungestört reden“, sagte er und ging voran in die Praxisräume.
In einem Sprechzimmer nahmen wir Platz. Der junge Arzt räusperte sich und fuhr sich mit der rechten Hand durch die buschigen Haare.
„Herr Jendrisch, Paula hat mir von Ihrem ungewöhnlichen Anliegen berichtet“, leitete der Arzt seine Worte ein. „Als Augenärzte sehen wir unsere Aufgabe darin, Augenkrankheiten zu heilen und dafür zu sorgen, dass unsere Patientinnen und Patienten möglichst gut sehen. Dafür sind wir ausgebildet und das ist unser ethischer und moralischer Anspruch. Wie mir Paula berichtet hat, haben Sie die Vorstellung, dass ich Ihre Augen schlechter machen soll, damit Sie auf eine Brille angewiesen sind. Ich respektiere Ihren Wunsch. Ich habe vor allen Patienten und ihren Anliegen großen Respekt. Aber Sie verstehen, dass mich Ihr Wunsch schon sehr überrascht.“
Ich schaute verwirrt zu Paula hinüber. Was hatte sie ihrem Cousin für einen Bären aufgebunden? Paula zuckte mit den Schultern und grinste mich an.
„Üblicherweise wollen Patienten, dass sie entweder eine passende Sehhilfe für ihre Fehlsichtigkeit bekommen oder durch einen operativen Eingriff ihr Sehfehler soweit möglich beseitigt wird“, führte der Arzt weiter aus. „Sie, Herr Jendrisch, wollen, dass ich Ihre Sehkraft so verschlechtere, dass Sie eine Brille mit -9 Dioptrien brauchen. Das ist schon heftig, müssen Sie wissen. Aber Paula sagte, Sie wüssten, worauf Sie sich einlassen, und wollten es unbedingt.“
Der Arzt schaute mich durchdringend an und fuhr fort: „Aus der medizinischen Literatur kenne ich das Phänomen der Wannabes. Das sind Menschen, die den dringenden Wunsch verspüren, sich irgendwie zu verstümmeln. Solange Sie keinem anderen Menschen dadurch schaden und sich auch selbst nicht völlig irreparabel schädigen, kann ich das als Arzt gerade noch tolerieren. Viele Kollegen sehen das jedoch weniger locker als ich.“
Ich war sprachlos. Ich hätte am liebsten eingeworfen, dass Paula ihren Cousin angelogen hat und ich hier Opfer von Paulas Wunschvorstellungen geworden bin. Aber ich brachte kein Wort heraus. Ich wollte Paula vor ihrem Cousin auch nicht bloßstellen.
Nach einer kurzen Pause sagte der Arzt: „Es gibt drei Wege, ihren Wunsch zu erfüllen. Einmal könnten wir mit dem Laser ihre Hornhaut so abtragen, dass die gewünschte Dioptrienzahl erreicht wird. Doch diesen Eingriff lehne ich ab, weil er risikobehaftet, vor allem aber irreversibel ist. Zweitens könnten Sie Kontaktlinsen benutzen, die die optische Wirkung der Brille umkehren, also quasi auf null stellen. Paula sagte mir, sie würden mit Kontaktlinsen nicht zurechtkommen und sie würden das als einen bloßen Fake ansehen. Und drittens kann ich Ihnen ihre natürlichen Linsen im Auge operativ entfernen und sie durch entsprechend starke Kunstlinsen ersetzen, so dass Sie die gewünscht starke Brille tragen können. Das wäre dann wie eine vorgezogene Graue-Star-Operation. Sie ist grundsätzlich risikoarm und wäre theoretisch sogar durch eine weitere Operation reversibel.“
Ich schaute betreten auf den Boden. Ich wusste nicht, ob ich aufspringen und sofort die Praxis verlassen sollte. Oder sollte ich dem Arzt sagen, dass alles eine blöde Idee seiner Cousine wäre? Oder sollte ich mich meinem Schicksal ergeben?
Der Arzt nahm mir meine Entscheidung ab. „Paula hat vorsorglich schon einmal einen OP-Termin mit mir für heute in 14 Tagen vereinbart. Bis dahin haben Sie ja Zeit, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Ich gebe Ihnen den Aufklärungs- und Einwilligungsbogen mit, den Sie bitte genau durchlesen und zum OP-Termin ausgefüllt und unterschrieben mitbringen. Und jetzt würde ich gerne noch Ihre Augen untersuchen und mir ein Bild von der Situation machen.“
Der Arzt führte mich zu einer Spaltlampe und leuchtete die Augen, auch unter Zuhilfenahme einer Lupe gründlich aus. „Ihre Augen sind gesund“, war das abschließende Fazit des Arztes.
Ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, verließ ich mit Paula die Praxis.
Auch auf der Rückfahrt sprach ich kein Wort. Ich wollte zuhause erst meine Gedanken sortieren. Auch Paula schwieg.
Zur Verabschiedung in Tübingen sagte Paula: „Schau mich an, Marcu-tss! Eine Brille i-tss-t doch etwa-tss Schönes!“