Paulas Brief war noch nicht zu Ende:
Doch was dann in der Klasse folgte, sprengte meine Vorstellungskraft. Die meisten Mädchen und Jungs machten sich lustig über mich. Ich wurde gehänselt: „Paula ist ne Zuckertante“, „hast Du zu viel Schokolade gegessen?“, „Paula ist ne Fixerin“, „Vorsicht, Paula spritzt“, „Paula, schmeckst Du süß, darf ich mal an Dir lecken?“
Es mag noch viele andere hässliche Bemerkungen zu meiner Zuckerkrankheit gegeben haben, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann und will. Und es blieben daneben immer die nicht minder hässlichen Anfeindungen wegen meiner Schwerhörigkeit und meiner Hörgeräte.
Meine schulischen Leistungen litten erheblich. Zum einen kreisten meine Gedanken laufend um meine Blutzuckerwerte, denn ich musste eine Entgleisung meines Blutzuckers unter allen Umständen vermeiden. Also hörte ich laufend in meinen Körper hinein, um ja keine Anzeichen dafür zu übersehen. Und dazu kamen die regelmäßigen Messungen und das Spritzen. Und zum anderen verfolgten mich die gemeinen Sprüche der Kinder um mich herum.
Am Ende des sechsten Schuljahres wurde ich zwar versetzt, aber das Zeugnis wimmelte nur von Dreien und Vieren.
Wären meine Eltern, meine Schwester und meine einzige Freundin Sophie nicht gewesen, hätte ich dieses Schuljahr seelisch nicht überstanden.
Doch das Schicksal hörte nicht auf zuzuschlagen. In der Pubertät wuchsen meine Brüste überproportional im Verhältnis zu meinem restlichen Körper. Mein Hausarzt stellte dafür die Diagnose „Makromastie“. Die beiden Brüste wogen um die 650 Gramm. Durch das hohe Gewicht bekam ich verschiedene Probleme: Es sind rötlich schimmernde Dehnungsstreifen aufgetreten, weil die schweren Brüste das Bindegewebe zu stark belastet haben und dadurch Risse entstanden sind. Meine BHs sitzen besonders straff, um die Brüste nicht hängen und bei jeder Bewegung zu stark wackeln zu lassen. Die BH-Träger schneiden aber schmerzhaft im Schulterbereich ein. Und Sport war und ist sehr mühsam, weil die riesigen Brüste bei intensiven Bewegungen einfach stören.
Landläufig sollen große Brüste ja als weibliches Idealbild gelten. Dann wird vom „Busenwunder“ gesprochen. Ich habe da eine völlig andere Erfahrung machen müssen. Mitleidige Blicke waren noch die freundlichste Reaktion auf meine Oberweite. Allzu oft musste ich aber Schmähungen über mich ergehen lassen: „Hängetitten“, „Airbags“ und „Milchkanister“ waren beispielsweise Ausdrücke für meine Brüste, die mich doch sehr gekränkt haben.
So habe ich eine weitgehend traurige Jugend gehabt. Die meisten Menschen meines Alters sind mir wegen meiner gesundheitlichen Beschwernisse und meines Äußeren mit Mitleid oder mit Häme begegnet. Zuneigung und Interesse an meiner Person habe ich so gut wie nie zu spüren bekommen.
Ich habe zurückgezogen gelebt und mich in meiner ausgedehnten Freizeit mit der Pflanzen- und Tierwelt beschäftigt, wie Du weißt. Auf den langen Spaziergängen und Wanderungen war ich meistens ganz alleine unterwegs.
Mit der Aufnahme meines Jurastudiums in Tübingen hoffte ich auf einen Neuanfang.
Du, lieber Marcus, warst zu Beginn einer der ersten Menschen in Tübingen, mit denen ich näher ins Gespräch kam. Du warst mir vom ersten Moment an sehr sympathisch. Du bist ein hübscher, sportlicher Junge, vielleicht etwas schüchtern und zurückhaltend, aber sanft und einfühlsam in Deiner Art auf andere Menschen zuzugehen. Wie Du Dich bestimmt erinnerst, habe ich Dich einfach angesprochen. Und ich habe mich total gefreut, dass Du so positiv auf mich reagiert hast.
Ich habe Dir von Anfang an reinen Wein eingeschenkt, was meine körperlichen Gebrechen angeht. Ich war glücklich darüber, wie gelassen und verständnisvoll Du darauf eingegangen bist. Ich hatte wirklich ein gutes Gefühl, dass mich endlich einmal ein Junge einfach so akzeptiert, wie ich nun einmal bin: ein Mädchen mit vielen Macken.
In Deiner Gegenwart fühlte ich mich glücklich. Verwirrt hat mich aber sehr, dass Du mir mit einer Brille eine weitere Macke aufdrängen wolltest. Warum bloß wolltest Du die Zahl meiner Fehler noch weiter erhöhen? Ich wurde daraus nicht schlau, was es mit Deinem Brillenfetisch wirklich auf sich hatte.
So begann ich zu zweifeln, ob Du es wirklich ernst meinst oder nur mit mir spielst. Darum wollte ich Dich auf die Probe stellen. Ich wollte einen Beweis dafür, dass Du alles für mich geben würdest und mich nicht bei erstbester Gelegenheit abservierst. Daher kam ich auf die Idee mit der Augen-OP und habe den Plan mit meinem Cousin ausgeheckt. Ich musste viel Überzeugungsarbeit bei ihm leisten.
Und dann hast Du im letzten Moment hingeworfen. Als ich Dich dann auch noch eng umschlungen mit Alicia in der Uni sah, brach für mich eine Welt zusammen. Marcus – meine erste große und einzige Liebe – lässt mich einfach sitzen und brennt mit einem anderen Mädchen durch. Ich fühlte mich von Dir auf gemeine Art verraten. Ich sah mich in allen meinen Befürchtungen, was Dich angeht, grausam bestätigt.
Erst im Laufe der Zeit und nach einem ersten Gespräch mit meiner Therapeutin wurde mir klar, dass ich selbst schuld an allem bin.
Mir wurde klar gemacht: Ich selbst hatte Dich durch mein Verhalten regelrecht gedrängt, den Kontakt zu mir abzubrechen. Ich weiß nun, dass ich Dir mit der Idee der Augen-OP etwas antun wollte, was man von seinem geliebten Freund niemals verlangen dürfte.
Ich gäbe alles dafür, wenn ich meinen Fehler bei Dir wieder gutmachen könnte.
Ich habe Dir diesen Brief geschrieben, damit Du vielleicht verstehst, wie es dazu gekommen ist und warum ich so gehandelt habe wie ich es getan habe. Es tut mir alles so aufrichtig leid. Heute sehe ich ein, dass Du völlig zu Recht den Kontakt zu mir abgebrochen hast.
Aber: Bitte, bitte, vergib mir, lieber Marcus!
Ich habe diesem Brief ein Foto von mir beigefügt. Sieh es Dir an! Sieh in meine Augen und lass sie sprechen!
Meine Augen sagen Dir: Marcus, dieses Mädchen Paula liebt Dich für immer von ganzem Herzen und mit allem, was es hat. Bedingungslos! Ich bin verrückt nach Dir! Ich möchte mit Dir zusammenleben, lieber Marcus!
Gib mir noch eine letzte Chance!
In unbeschreiblicher Liebe Dein Paulchen